Zum deutschen Common Sense scheint es zu gehören, dass alles an den Rändern, ob links oder rechts, gleich schlimm ist – Hufeisendenken eben. Besonders nach den schlimmen rassistischen und antisemitischen Morden 2019 ist diese Gleichsetzung allerdings fatal. Ein Festhalten an der Extremismustheorie hilft niemandem mehr, als der völkischen Rechten, die mit dem Warnen vor linker Gewalt stets ein willkommenes Ablenkungsmanöver hinlegen.
Im Herbst 2019 ist der lesenswerte Sammelband „Extrem Unbrauchbar – Über die Gleichsetzung von links und rechts“ im Verbrecherverlag rausgekommen. Im Interview erklären die Herausgeber Eva Berendsen, Katharina Rhein und Tom David Uhlig, warum der Rückgriff auf die Extremismustheorie so gefährlich ist und warum Vordenker der „neuen“ Rechten das Modell nutzen, um ihre „konservative Revolution“ voran zu treiben.
Warum glaubt ihr, dass die Extremismustheorie extrem unbrauchbar ist?
Die Extremismustheorie ist aus unserer Sicht extrem unbrauchbar, weil sie auf einem Denkfehler über Gesellschaft beruht, aber leider von Politik und Behörden ganz praktisch auf Gesellschaft angewendet wird. Im Kampf gegen die Feind*innen der demokratischen Gesellschaft ist sie weniger Teil der Lösung als Teil des Problems – vor allem, weil sie über die absurde Gleichsetzung von rechter und linker Politik rechte Gewalt verharmlost und ihre Spezifika überhaupt nicht in den Blick bekommt. Alles wird in einen Topf geworfen: Rassistische Angriffe auf Menschen werden mit brennenden Autos bei den G20-Protesten gleichgesetzt, Sachgüter mit Menschenleben.
Angriffe auf Menschen und Angriffe auf Gegenstände sind in ihren Auswirkungen nicht gleich. Warum werden eingeschlagene Scheiben und Attacken auf Menschen dennoch oft gleich bewertet?
Der Diskurs dient der Ablenkung: Nach der rechtsmotivierten Hinrichtung des Kasseler Politikers Walter Lübcke hieß es zum Beispiel ganz schnell: „Aber die Antifa!“ Das Modell ist extrem problematisch, leider aber extrem populär.
Hufeisendenken eben?
Es fängt schon ganz grundsätzlich dabei an, wie man sich im Rahmen dieser sogenannten Theorie Gesellschaft vorstellt. Wie ein Hufeisen nämlich: Da repräsentiert die „gute“ Mitte alle Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Allein von den „bösen“ Rändern wird sie bedroht – hier lauert die Extremismen-Triade aus Islamismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus, welche daran arbeitet, die Demokratie zu zerstören. Dabei ist die Mitte jedoch nicht mehr als eine Fiktion, sie lässt sich weder demographisch noch politisch sinnvoll bestimmen und dient vor allem der Abwehr eigener Ressentiments: Menschenverachtende Ideologien werden ausschließlich außerhalb der Mitte verortet.
Ah ja, das leidige Thema der vernünftigen Mitte und der extremen Ränder. Was genau zeichnet diese angebliche Mitte der Gesellschaft eigentlich aus?
Das ist natürlich für alle, die sich schön mittig wähnen, extrem bequem. Rassistisch, antisemitisch, chauvinistisch, Frauen- und LGBTIQ-feindlich können dann ja nur die Extremist*innen an den Rändern sein. Seit Jahren weisen Studien über diese Ideologien allerdings in eine andere Richtung: Es handelt sich um gesamtgesellschaftliche Phänomene, die sich nicht exklusiv einer bestimmten Gruppe zuordnen lassen.
Also stimmt die Erzählung von der bürgerlichen, vernünftigen Mitte nicht?
Zur Mitte zählt sich heute doch vielmehr auch, wer brennende Geflüchtetenunterkünfte rechtfertigt, wer ein brutales Grenzregime unterstützt, das täglich Menschen ertrinken lässt, wer Hasstiraden gegen den Staat Israel oder jeden sozialchauvinistischen Tritt nach unten mit einem Nicken quittiert. Von den Beratungsstellen für rechte, rassistische und antisemitische Gewalt wissen wir, dass verbale und körperliche Angriffe auf Muslim*innen, Jüdinnen und Juden, Queers und Geflüchtete zunehmend von Täter*innen aus dem selbsterklärt bürgerlichen Spektrum verübt werden.
Warum wird die Extremismustheorie dann aber weiterhin so vehement verteidigt?
Trotz aller Fehlschlüsse hat die Extremismustheorie eine beachtliche Fangemeinde an den sogenannten Schaltstellen der Gesellschaft in Politik, Wissenschaft und Medien gefunden. Und in den Behörden, hier wurde sie im Übrigen auch erfunden: Die Extremismustheorie prägt und bestimmt ganz grundsätzlich Arbeitsweise und Mindset der Ämter für Verfassungsschutz. Dabei taugt das Modell für ein ordentliches Verständnis von politischen Bewegungen, ihrer Spezifika und Strategien überhaupt nicht. Zum Beispiel wurde als angeblich logisches Pendant zur Aussteigerberatung für Neonazis vom Bundesamt für Verfassungsschutz eine Aussteigerhotline für Linksextremisten erfunden. Das wäre schon eine ziemlich unterhaltsame Blüte, müsste man hier nicht die Fehlallokation von knappen Ressourcen betrauern: Während Rechtsradikale beim Szeneausstieg doch tatsächlich um ihre physische Unversehrtheit bangen und sich vor ehemaligen Kamerad*innen in Sicherheit bringen müssen, reicht es im Fall der radikalen Linken ja meist länger nicht beim Plenum zu erscheinen.
Zur Analyse von Menschenfeindlichkeit und zum Kampf gegen Menschenfeinde ist die Extremismustheorie also extrem unbrauchbar. Besorgniserregend ist das natürlich vor allem vor dem Hintergrund des Erstarkens der menschenfeindlichen AfD. Diese völkische und ‚rechtsradikale‘ Partei, die dem bürgerlichen Milieu entstammt und von Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft gewählt wird, ist auf Grundlage der Extremismustheorie kaum zu problematisieren. Wer schützt die Demokratie, wenn ihre schlimmsten Feind*innen aus der guten, alten Mitte kommen?
Denkt ihr, dass die Extremismustheorie auf den Misthaufen der Geschichte gehört?
Extremismustheorie und Hufeisenmodell sind weniger Wissenschaft als Ideologie. Sie gehören unbedingt entsorgt. Aber dalli. Leider beobachten wir aktuell eher ihre Renaissance. Vor allem die Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus ist schwer en vogue. Zu einer Zeit, da die größte Gefahr für Leib und Leben gegen alles, was „volksfremd“ oder „volksverräterisch“ erscheint, doch eindeutig von den Rechten ausgeht, ist das völlig unverhältnismäßig und verstellt den Blick für die Spezifika rechten Terrors.
Aber warum wird immer wieder auf Linksextremismus bezuggenommen, wenn das Thema doch eigentlich Rechtsextremismus ist?
Nehmen wir noch einmal das Beispiel Lübcke. Nachdem der CDU-Politiker von einem Rechten ermordet wurde, dem Kontakte zum Nationalsozialistischen Untergrund nachgesagt werden, fädelten zahlreiche seriöse Medien ihre völlig unpassenden Assoziationsketten unter dem Schlagwort „Braune RAF“. Als würde die Geschichte der BRD nicht genügend Beispiele für rechten Terror parat halten! Warum nicht etwa an das rechtsterroristische Oktoberfestattentat 1980 in München erinnern, um die Kontinuitäten des Rechtsterrorismus in den Blick zu bekommen? Oder gleich an den NSU? Kein Wunder, dass bei dieser Blindheit für Geschichte und Besonderheiten rechter Bewegungen in Deutschland Neonazis wie Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe & Co. jahrelang morden und die Behörden mit dem NSU ein ganzes rechtsterroristisches Netzwerk übersehen konnten oder wollten.
Schaut man sich die Debatten der letzten Jahre zum Thema Rechtsterrorismus an, landet man ganz schell bei Meinungsmacher*innen, die vor linker Gewalt warnen. Das wirkt fast wie ein Fetisch, oder?
Es ist immer dieselbe Dynamik: Geht es um rechts, muss es schnappatmend auch um links gehen. Apropos RAF. An eine „neue RAF“ glaubt der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt anlässlich der vermeintlichen Angriffe auf Polizist*innen in der Silvesternacht im Leipziger Stadtteil Connewitz. Sachsens Ministerpräsident sprach von „linkem Terror“ und der Leipziger Polizeipräsident bezeichnete die Linken als „Unmenschen“. Das sind schon sehr kernige Adhoc-Analysen für ein Ereignis, das noch längst nicht aufgearbeitet ist und vieles noch im Unklaren schwebt. Was wir allerdings wissen ist, dass Falschmeldungen der Polizei massiv zu einer medialen Dramatisierung der Geschehnisse beigetragen haben. Wer aber die Eskalationsstrategie der Polizei hinterfragt oder medienaffine Scharfmacher*innen kritisiert, macht sich ganz schnell verdächtig, linke Gewalt grundsätzlich gutzuheißen. In einem Connewitz-Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung heißt es: „Wer so tut als sei Linksextremismus kein Problem, ist vermutlich Linksextremist.“ Wer versucht, Gewalt gegen Polizist*innen sorgfältig einzuordnen und ins Verhältnis zu setzen, gilt gleich als ihr größter Fan. Und wehe jenen, die es wagen, nach der Gewalt zu fragen, die von Polizist*innen ausgeht!
Selbst in gesellschaftlichen Diskursen, die nicht als rechts einzuordnen sind, ist die Auffassung vorherrschend, „Antifa“, also Antifaschismus, sei gleichzusetzen mit linker Gewalt.
Sätze wie „Die Antifa ist genauso schlimm wie Nazis“ gehören zum deutschen Common Sense. Antifaschismus scheint es aktuell wieder besonders schwer zu haben. Das ist schon etwas absurd, wenn eine faschistische Partei sich in Umfragen vor die Sozialdemokraten schieben kann. Dabei haben zuletzt doch gerade die Recherchekreise antifaschistischer Aktivist*innen die zentralen Informationen über rechte Netzwerke geliefert und ihre Verbindungen zu Politiker*innen der AfD aufgedeckt – das betrifft etwa die rassistischen Hetzjagden und ‚Trauermärsche‘ in Chemnitz. Unterdessen wird die Linken-Abgeordnete Martina Renner vom Bundestagsvizepräsidenten wegen eines Antifa-Sticker am Revers gerügt. Und der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“, die seit Jahren vom bayerischen Verfassungsschutz als linksextrem eingestuft wird, soll jetzt die Gemeinnützigkeit abgesprochen werden.
Im Kampf gegen die Feind*innen der Demokratie werden auf Grundlage der Extremismustheorie kostbare Ressourcen verschlissen und antifaschistischer Protest delegitimiert. Doch statt ihrer längst überfälligen Entsorgung hält sie sich hartnäckig. Schon 1966 hatte der Dichter Ernst Jandl scharfsinnig notiert: „manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum“.
Könnt ihr etwas zur Entstehung der Extremismustheorie bzw. zum Hufeisenkonzept sagen?
Das ist so kurz nicht so einfach, aber zum einen ist das Extremismusmodell als Nachfolgemodell der Totalitarismus-Theorie zu sehen, die immer schon antikommunistisch war und es zum Ziel hatte, die nationalsozialistischen Verbrechen zu verharmlosen, indem auf die kommunistischen verwiesen wurde. Hannah Arendt wurde hier mit ihrem Buch The Origins of Totalitarianism als Stichwortgeberin einer vergleichenden Perspektive instrumentalisiert, beispielsweise vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Agenda des Instituts ist es, wie Dana Ionescu im Buch beschreibt, „die politischen und gesellschaftlichen Strukturen von NS-Diktatur und SED-Regime sowie ihre Folgen für die Gestaltung der deutschen Einheit zu analysieren“. Diesen Vergleich hat Arendt keineswegs selbst angestellt. Für sie war Terror ein zentrales Moment von Totalitarismus, was von Mitarbeiter*innen des Instituts einfach ausgeklammert wird, um weiterhin die Vergleichbarkeit gewährleisten zu können. Die so verkürzte Totalitarismustheorie wurde insbesondere Anfang der 1990er Jahre immer populärer, um sowohl die DDR zu dämonisieren als auch Bedürfnisse nach Schuldabwehr zu befriedigen. In dieser Lesart sind die Deutschen dann „Opfer zweier Diktaturen“ geworden, deren Spezifika, Selbstverschuldung und prinzipielle Unvergleichbarkeit darüber verloren gingen.
Und zum anderen – und das arbeitet vor allem Daniel Keil in seinem Artikel im Buch heraus – beziehen sich die führenden Vertreter*innen des Extremismusbegriffs auch auf Denkmodelle aus der Zeit der Weimarer Republik, wobei es sich hier um völkisch-nationalistische Denker handelt, die das Hufeisenmodell in erster Linie der politischen Gegner in der NSDAP und KPD gebraucht haben und ihre eigene, antidemokratische „Schwarze Front“ in der Mitte verordneten. Das Modell wurde u.a. dann von dem Vordenker der Neuen Rechten Armin Mohler aufgegriffen, um die von ihm gefeierte „konservative Revolution“ zu charakterisieren. Keil argumentiert, dass sich diese völkisch-nationalistische Tradition des Schemas in gewisser Weise noch heute fortschreibt, was sich auch an der Nähe führender Extremismustheoretiker zur Neuen Rechten zeigt.
Warum ist die Gleichsetzung von rechts und links, beziehungsweise die Hufeisentheorie so beliebt? Und warum funktioniert sie scheinbar immer noch so gut?
Beliebt ist sie ja vor allem bei denjenigen, die die Gefahren von rechts kleinreden oder es sich in ihrer Phantasie von der gesellschaftlichen Mitte, in der die Welt in Ordnung scheint, gemütlich einrichten. Und es ist ein Modell, das einfache Lösungen verspricht und sowas kommt halt einfach gut an. Nach dem Motto: „Mit mir und dieser Gesellschaft ist im Grunde alles in Ordnung und die Probleme sind rechts und links von mir bzw. bei Leuten, die diese heile Welt in Frage stellen.“ Und je grundlegender sie das tun, desto gefährlicher erscheinen sie. Der Extremismusbegriff scheint dabei wahnsinnig neutral zu sein, wenn etwa als Extremist gilt, wer die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage stellt. Aber es macht eben einen Unterschied, ob ich die Gesellschaft kritisiere, weil sie ihren eigenen demokratischen Ansprüchen an Freiheit, Gleichheit und Mitbestimmung nicht gerecht wird, oder ob ich eine menschenverachtende Ideologie vertrete, die diese Ansprüche und die damit verbundenen Rechte grundsätzlich in Frage stellt oder komplett negiert.
Sie Theorie ist also so beliebt, weil die am Status quo festhält?
Im Grunde ja. Die Extremismustheorie soll den Status quo zementieren und damit auch die schlechten Seiten der Gesellschaft. Individuelle Freiheitsrechte wurden aber selten von der Staatsgewalt einfach gewährt, sondern mussten im Notfall auch wider diese erstritten werden. Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland erst seit 1993 strafbar und Homosexualität erst ein Jahr später entkriminalisiert worden, beide Erfolge wären ohne massive Proteste nicht denkbar gewesen. Progressive Veränderungen werden selten im Einklang mit den herrschenden Verhältnissen durchgesetzt, sondern verlangen die Übertretung von Grenzen, welche die Extremismustheorie so vehement schützen will. Wenn Aktivist:innen beispielsweise eine Abschiebung in ein ‚sichereres Herkunftsland‘ verhindern wollen und dafür die Polizei bei ihrer Arbeit behindern müssen, macht sie das in den Augen einschlägiger Kommentator*innen und Forscher*innen zu Extremist*innen – unter Umständen retten sie dabei aber ein Menschenleben.
Was ist euer Hauptargument gegen die Gleichsetzung von Rechtsextremismus und Linksextremismus?
Kurz gesagt: Es ist einfach nicht das Gleiche!
Den Extremismusbegriff sollte man daher ohnehin weglassen. Er taugt weder zur Kritik noch zur Bekämpfung fragwürdiger Politiken, sondern spielt historisch wie aktuell nur den Rechten in die Hände und denjenigen, die wollen, das alles bleibt wie es ist, während im Flüchtende im Mittelmeer ertrinken.