Das Forschungsprojekt zu »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« (GMF) existiert seit 2002 unter der Leitung von Professor Wilhelm Heitmeyer am Institut für Interdisziplinäre
Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Wichtigster Gegenstand des Projektes ist eine jährliche repräsentative Erhebung der Einstellungen von Bundesbürgerinnen und -bürgern gegenüber sozialen Gruppen, der zentralen sozialpsychologischen und soziologischen Ursachen für diese Einstellungen und die daraus folgenden Konsequenzen.
Darüber hinaus wird eine Längsschnittstudie durchgeführt, in der jährlich dieselben Personen befragt werden. Zusätzlich arbeiten in einem Graduiertenkolleg, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert wird, eine Reihe von Promovierenden an speziellen Teilfragen.
Die zwei wesentlichen Ziele des Projektes sind:
1. Das Ausmaß und die Entwicklung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und diskriminierender
Verhaltensweisen in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Zeitverlauf zu analysieren.
2. Die Ergebnisse auf der Basis interdisziplinärer Theoriekonzepte und vor dem Hintergrund wahrgenommener gesellschaftspolitisch relevanter Entwicklungen zu erklären.
Daneben bemüht sich das Projekt um eine sensibilisierende Information der Öffentlichkeit durch Publikationen, Vorträge, Presseerklärungen und ähnliches sowie die Vermittlung
der Ergebnisse in die Praxis. Das Kernthema des Projekts ist die Beobachtung des Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Nach Meinung der Projektgruppe beschreibt der Begriff genauer, was traditionellerweise unter der Abwertung von Outgroups (Fremdgruppen) durch Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit oder Ethnozentrismus verstanden wird. Die Ausgangsfrage ist: Was sind die wesentlichen Merkmale der Abwertung von Menschen, die als ?anders?,?fremd? oder ?nicht zugehörig? wahrgenommen werden und die in Rassismus, Vorurteilen etc. zum Ausdruck kommt? Worauf basiert die Abwertung derer, die als ungleich markiert werden?
Das Konzept des GMF-Syndroms ist durch vier wesentliche Merkmale gekennzeichnet:
Menschenfeindlichkeit bezieht sich auf das Feindschaftsverhältnis zu spezifischen Gruppen und meint kein individuelles Verhältnis. Menschenfeindlichkeit ist ein Phänomen intergruppaler Differenzierungen und Konflikte, das heißt, die Abwertungen basieren auf Gruppenzugehörigkeiten und sind weder allein auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale, noch allein auf gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen. Das heißt auch, dass GMF durch die Wechselwirkung individueller und gruppaler Faktoren und Umweltfaktoren zu erklären ist.
Ein besonderes Kennzeichen des Begriffes GMF ist die Spannbreite der Gruppen, die der Feindseligkeit ausgesetzt sind. Zu beobachten ist, dass nicht nur Personen nichtdeutscher
Herkunft feindselig begegnet wird, sondern auch solchen ?gleicher? Herkunft, oder Menschen, die sich vermeintlich abweichend verhalten, wie Obdachlose oder Homosexuelle.
Menschenfeindlichkeit kann sich gegen Gruppen und/oder ihre Mitglieder richten, wenn sie als störend wahrgenommen werden oder vermeintlich gegen Normen verstoßen. Es wird angenommen, dass die Vorurteile gegenüber unterschiedlichen Gruppen so eng miteinander verbunden sind, dass sie ein Syndrom bilden. Dies entspricht der empirischen Realität. In vielen Studien zeigt sich, dass die Neigung, Vorurteile gegenüber einer Gruppe zu haben, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Neigung korrespondiert, auch Vorurteile gegenüber einer oder mehrerer anderer Gruppe zu haben. So zeigt sich z.B. in einigen Studien, dass Antisemitismus eng mit Islamfeindlichkeit zusammenhängt. Das GMF-Projekt kann darüber hinaus zeigen, dass die verschiedenen Vorurteilsfacetten ein Syndrom der Abwertung bilden.
Die entscheidende Frage ist: Was verbindet die unterschiedlichen Abwertungen bzw. was ist der ?gemeinsame Kern??
Es wird angenommen, dass die Elemente der GMF auf einer generellen Ideologie der Ungleichwertigkeit basieren. Die wesentliche Funktion von Vorurteilen ist es, Menschen als ungleich zu bewerten und diese Ungleichwertigkeit durch das Vorurteil zu legitimieren.
In einer neueren Analyse haben wir zwei weitere Merkmale zur Bestimmung des GMF-Syndroms geprüft und nachgewiesen. Erstens gehen wir davon aus, dass die zum Teil sehr unterschiedlichen Elemente des Syndroms ? wie zum Beispiel die Abwertung von Behinderten und die Islamfeindlichkeit ? dieselben Ursachen haben können. Wir zeigen, dass zum Beispiel das individuelle Gefühl, es ginge »den Deutschen im Vergleich zu ?Ausländern? schlechter«, die Abwertung aller Gruppen, die im Syndrom angesprochen sind (z. B. Behinderte, Juden, Moslems oder Obdachlose), bestimmt.
Zweitens können die unterschiedlichen Elemente dieselben Konsequenzen haben. So kann z. B. die Abwertung von Menschen mit Behinderungen mit der Diskriminierung von Muslimen zusammenhängen. Das heißt zusammengefasst, eine Ursache kann viele Vorurteile bestimmen und Vorurteile gegenüber
unterschiedlichen Gruppen können Grundlage der Diskriminierung einer bestimmten Gruppe sein.
Zwei Themen, die für die Erklärung des Syndroms und auch die Intervention, das heißt die Praxis gegen Vorurteile und Diskriminierung, bedeutsam sein können, stehen immer wieder im Vordergrund. Zum einen stellt sich die Frage nach der Bedeutung und Auswirkung von Ungleichwertigkeit bzw. der dem Syndrom zugrunde liegenden Ideologie der Ungleichwertigkeit.
Das ist zentral, denn Gleichwertigkeit ist ein leitender Wertgrundsatz dieser Gesellschaft. Vorurteile und Legitimationen von Gewalt gegen Minderheiten und Schwache stehen diesem Grundsatz entgegen. Vorurteile, die hier als Elemente des Syndroms der GMF definiert sind, basieren auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit und zugleich legitimieren sie Ungleichwertigkeit. Vorurteile können als Rechtfertigung zur Aufrechterhaltung einer sozialen Hierarchie zwischen Gruppen verstanden werden (vgl. dazu Zick & Küpper, 2006).
Sie werden insbesondere dann angenommen und geäußert, wenn Menschen Ungleichwertigkeit feststellen und motiviert sind, vermeintliche Gleichwertigkeit durch Abwertung von Schwächeren (Minderheiten) herzustellen. Dabei ist es egal, ob die Ungleichheit durch eine schlechte soziale Lage objektiv gegeben ist oder nur subjektiv empfunden wird. Die Elemente einer GMF erfüllen dabei die soziale Funktion der Selbstaufwertung ? eben durch Abwertung von Outgroups (Fremdgruppen) ? und der Legitimation ungleicher Behandlung von Outgroups und der Bevorzugung von Ingroups (Eigen- oder Referenzgruppen). Dabei hängt das Ausmaß der Abgrenzung von der Identifikation mit Gruppen ab: Die Abwertung ist bestimmt durch das Ausmaß, indem Menschen sich Gruppen zugehörig fühlen, die nach Gleichwertigkeit streben. Die Identifikation und der damit verbundene Selbstwert, der sich nur durch die Gruppe herstellen lässt, sind zentrale Elemente sozialer Anerkennung.
Im weitesten Sinne können menschenfeindliche Mentalitäten und Handlungsweisen als Ausdruck einer Suche nach Anerkennung verstanden werden. Oder anders: Wo Anerkennung fehlt oder Anerkennungsbilanzen als negativ wahrgenommen werden, liegt der Versuch nahe, eigene Anerkennung durch Abwertung anderer zu erhalten. Das ist eine zentrale Annahme der Desintegrationstheorie nach Heitmeyer und Anhut (vgl. Anhut, 2002). Sie definieren Anerkennung als Wertschätzung durch andere, die in unterschiedlichen Integrations- bzw. Desintegrationsbereichen gewonnen werden kann.
Drei Bereiche seien dabei zentral: Die individuell-funktionale Systemintegration ist definiert durch den Zugang zu funktionalen Systemen wie dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt und die individuelle Beurteilung des Status. Der Status ermöglicht positionale Anerkennung. Der kommunikativ-interaktive Integrationsbereich ist vor allem durch (politische) Partizipation im Prozess der Aushandlung und Zurechnung von Werten und Normen bestimmt (Gerechtigkeit, Solidarität etc.). Die Möglichkeit, an (politischen) Diskursen und Entscheidungen teilzunehmen und die Bereitschaft, den Kommunikationsprozess aufzunehmen, ermöglichen moralische Anerkennung. Der so genannte kulturell-expressive Integrationsbereich ist durch Mitgliedschaft in Gemeinschaften und emotionale Anerkennung bestimmt. Die Anerkennung in allen Bereichen ist durch den objektiven und subjektiven Zugang, Teilnahmemöglichkeiten und Mitgliedschaft verbunden. Fehlende Anerkennung bzw. negative Anerkennungsbilanzen eines Individuums sind in diesem Sinne Ausdruck von objektiver oder empfundener Ungleichwertigkeit.
Die Vorurteils- und Rassismusforschung hat zahlreiche Einflussfaktoren, Ausdrucksformen und Konsequenzen einer GMF herausgefunden. Das GMF-Projekt hat die Möglichkeit, durch die jährlichen Umfragen und die Längsschnittstudie viele dieser Faktoren zu ermitteln.
Dabei zeigt sich immer wieder, dass zum Beispiel individuell ein geringes Bildungsniveau, mangelnde interkulturelle Kontakte, starke nationale Identifikationen (Nationalstolz) und rechtspopulistische Mentalitäten, das Gefühl eines Mangels im Vergleich zu Adressaten von Vorurteilen (so genannte relative Deprivation) und auf der strukturellen Ebene ein niedriger
sozialer Status oder das Leben in strukturell schwachen Regionen die Wahrscheinlichkeit für GMF erhöhen (vergleiche die Ergebnisse der Reihe »Deutsche Zustände«, herausgegeben
von Wilhelm Heitmeyer).
Unterschiedlichste Theorien über die Ursachen liefern dazu Erklärungsansätze. Resümiert man die vielfältigen Ansätze, dann unterstreichen sie die These, dass Gefühle und Erfahrungen von Gleichwertigkeit und Anerkennung zentral sind. So ermöglicht zum Beispiel Bildung nicht nur Perspektivenübernahme und Empathie, sondern auch alternative Sichtweisen auf die Gleichwertigkeit und Optionen zur Erreichung von Anerkennung. Interkulturelle Kontakte ermöglichen Informationen und positive gemeinsame Erfahrungen und Identifikationen, die Vorurteile verhindern. Sie werden aber nur dann menschenfeindlichen Tendenzen entgegenstehen, wenn sie mit dem Erleben und Beimessen von Anerkennung und nicht bedrohlich wahrgenommener Gleichwertigkeit verbunden sind.
Rechtspopulistische Ideologien sind nur in dem Maße attraktiv, wie sie auf der Grundlage von Feindbildern vermeintliche Dominanz und Anerkennung (Stolz) vermitteln können. Objektive Desintegrationslagen werden dort in Menschenfeindlichkeit überführt, wo die Abwertung und Ausgrenzung Anderer Anerkennung und vermeintliche Überlegenheit vermittelt.
Zusammenfassend bedeutet dies: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bedeutet im Kern die Ablehnung der Gleichwertigkeit aller Menschen.Um in der Praxis präventiv gegen GMF vorzugehen, eignen sich Maßnahmen, die das Erleben von Gleichwertigkeit ermöglichen.
Das Projekt »Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit«(GMF) wird geleitet von Wilhelm Heitmeyer, Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konfliktund
Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Koordiniert und durchgeführt wird es von einem
Team an der Universität Bielefeld und Kooperationspartnern an den Universitäten Marburg,
Gießen, Göttingen und Dresden.
| www.uni-bielelfeld.de/ikg
Das Projekt ist mit dem Graduiertenkolleg »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« verbunden. Im Kolleg arbeiten Promovierende an spezifischen Themen.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Reflektieren. Erkennnen. Verändern. Was tun gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?“ der Amadeu Antonio Stiftung. Die Broschüre kann hier im Anhang (s.u.) heruntergeladen werden.
Weitere Literatur:
Heitmeyer,Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 1-5. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002-
2007
Dr. Endrikat, Kirsten: Was genau ist Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?
www.unibielefeld.de
Heitmeyer,Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirische Ergebnisse aus 2002, 2003 und 2004. In: Heitmeyer,W. (Hrsg.): Deutsche Zustände, Folge 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005.
Zick, Andreas. & Küpper, Beate: Soziale Dominanz. In: Frey, D. und Bierhoff,H.W. (Hrsg.): Handbuch Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie. Göttingen: Hogrefe 2006.
Mehr zur Arbeit gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit:
| www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/gegen-gmf/
Mehr im Internet:
Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld:
www.uni-bielefeld.de/ikg/projekt_gmf-survey.htm
Mehr auf netz-gegen-nazis.de:
Rassismus
Antisemitismus
Islamophobie
Antiziganismus
Homophobie
Obdachlosenfeindlichkeit
Behindertenfeindlichkeit
Etabliertenvorrechte
Sexismus