UPDATE 30.05.2022: Hagen Grell ist in der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahlen in Delitzsch am 29. Mai 2022 abgeschlagen auf dem vierten von vier Plätzen gelandet. Der bisherige Amtsinhaber Manfred Wilde (parteilos) erreichte 46,9 Prozent der Stimmen. Jens Müller, unterstützt von SPD, Linken und Grünen, kam auf 22,7 Prozent, der Kandidat der Freien Wähler auf 21,9 Prozent. Für Grell stimmten lediglich 8,5 Prozent der Delitzscher:innen. Am 12. Juni findet der zweite Wahlgang statt, dann reicht eine einfache Mehrheit. Alle Kandidaten können theoretisch nochmals antreten, Grell hat bereits angekündigt, in die zweite Runde zu gehen, „auch wenn ich mich nur selbst als Einziger wählen sollte.“ Das Ergebnis kommentiert er auf Telegram als „Enttäuschend, aber nicht unerwartet“ und gibt eine Teilschuld an seiner Niederlage dem „aktiven Wahlkampf gegen mich mit Lügen von LVZ, Tageskurier und MDR“. Mehrere Medien hatten über Grells Verbindungen in die rechtsalternative und rechtsextreme Szene berichtet.
Fast genau ein Jahr war Hagen Grell in der Versenkung verschwunden. Nachdem er von seinen Anhänger:innen fast 70.000 Euro via Spenden erhalten hatte, wollte der rechtsalternative Medienmacher eine neue Videoplattform starten, die YouTube in den Schatten stellen sollte. Doch der Erfolg war höchstens mäßig. Betrugsvorwürfe standen im Raum und Grell wurde vorgeworfen, für die Behörden zu arbeiten. Jetzt ist der Medienaktivist, dem immerhin nur wenig peinlich ist, wieder aufgetaucht.
2014 formierte sich in Berlin und einigen anderen deutschen Städten die sogenannte „neue Friedensbewegung“. Angeblich als Reaktion auf den damals beginnenden Ukraine-Konflikt demonstrierten zu Hoch-Zeiten mehrere tausend Menschen für den „Frieden mit Russland“. Doch schnell stellte sich heraus, dass es bei „Montagsmahnwachen“ vor allem um antisemitische Verschwörungserzählungen ging. Die Demonstrationen fanden Anklang bei einer kruden Mischung aus Esoteriker:innen, Reichsbürgern und Rechtsextremen. Heute gelten sie als ein Erweckungsmoment für eine antidemokratische Szene, die sich dann rund um AfD, „Querdenken“ und Pegida verfestigt hat. Einer ihrer Protagonisten war Hagel Grell, der damals vor allem in Leipzig und Umgebung aktiv war.
Größere Bekanntheit erlangte Grell aber erst 2016. Nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln veröffentlichte er ein YouTube-Video, das schnell Kreise außerhalb der Besorgtbürger-Blasen zog. Gefilmt im heimischen Badezimmer, vor einer Duschkabine, über der ein gestreiftes Badetuch trocknet, steht Grell damals im schwarzen Unterhemd und mit Kassengestell und spricht direkt die „deutschen Frauen“ an. An Belästigungen, Vergewaltigungen und Diskriminierungen seien die nämlich eigentlich selbst schuld, weil sie durch Feminismus und Gleichberechtigung die deutschen Männer, die „zu den größten, stärksten und edelsten der Welt“ gehörten, verweichlicht hätten. Das Machwerk voller Antifeminismus und Rassismus, das vor „kulturfremden Männern“ warnte, sorgte außerhalb von Grells Zielgruppe vor allem für Heiterkeit.
Obwohl das Video dazu führte, dass das Verschwörungsprojekt „Nuoviso“ die Zusammenarbeit mit Grell — zumindest seinen Angaben nach — einstellte, wurde Grell im Rechtsaußenmilieu immer bekannter und schaffte es im Laufe der Zeit immer wieder, rechtsextreme Politiker:innen und andere Szenegröße zu treffen und für seinen YouTube-Kanal zu interviewen. So traf er etwa Björn Höcke zum „großen Sommer-Interview“, die ehemalige Pegida-Aktivistin Kathrin Oertel, den mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilten Autor Akif Pirinçci, Verschwörungsguru Heiko Schrang, den österreichischen Kopf der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ Martin Sellner oder den Neonazi-Aktivisten Nikolai Nerling aka „Volkslehrer“. Im August 2018 war Grell sogar einer der Redner:innen auf der „Antizensurkonferenz“ der Schweizer Fundamentalistensekte OCG („Organische Christus Generation“) und ihres Chefs Ivo Sasek.
YouTube war lange Zeit die zentrale Plattform für Grell. Neben Interviews und Demo-Streams veröffentlichte er regelmäßig lange Monologe zu unterschiedlichen Themen, die ähnlich wie seine Ansprache an die „deutschen Frauen“ unfreiwillige Komik mit menschenfeindlichen Ansichten kombinierten. Das große Selbstbewusstsein des YouTubers zeigt sich auch in der Themenvielfalt, die er abdeckt. Hagen Grell, gelernter Informatiker, hält sich offenbar für einen Experten für alles und hatte dementsprechend zu allem etwas zu sagen: Klimawandel, Einwanderung, Finanzwesen, Militär. Oft vorgetragen während Spaziergängen durch den Wald, filmt sich Grell dabei selbst und gibt seine Ansichten zu Protokoll. Etwa über das Finanzamt, dass er „Diebstahlamt“ nennt. Grell schreit und regt sich auf, hin und wieder macht er dabei Affengeräusche, während er davon erzählt, dass die Behörde einen Einzug von seinem Konto veranlasst hat. Etwaige andere Spaziergänger:innen können einem leidtun. Von dem Video distanzierte sich der YouTuber später wieder. Von anderen Video nicht. Etwa wenn er 2018 über den „Holocaust an den Deutschen“ spricht: „Holocaust von den Juden verglichen zum Holocaust mit den Deutschen, ist der deutsche Holocaust mindestens genauso grausam, wenn nicht viel höher.“
Auf YouTube kommt der Hass gut an. Hunderte Videos lädt Grell hoch und sammelt 85.000 Abonennt:innen, bis in den Juli 2020. Damals wird sein Account endlich gelöscht. Allerdings arbeitet Grell zu dem Zeitpunkt schon länger an einem anderen Projekt: „Frei hoch drei“ heißt das damals noch und soll „den Goliath-Plattformen aus den USA Konkurrenz“ machen.
Grell gehört zu jenen Aktivist:innen, die in der Szene als „Geld-Patrioten“ bezeichnet werden. Immer wieder und zu jeder Gelegenheit bittet er um Spenden. Als er sein neues Projekt 2018 zum ersten Mal als „zensursicher und technisch innovativ“ ankündigt, spricht er zunächst von 50.000 Euro, die er für sein Vorhaben brauche. Aber alle sollen davon profitieren, vor allem die Medienmacher:innen, die seine Plattform nutzen, die „ein echtes Einkommen verdienen“. Darüber hinaus kündigt er Rechtsschutz an und auch ein eigenes Format hat er damals bereits für die Seite entwickelt, eine „alternative Tagesschau“ mit Starbesetzung aus der Szene: „Gerhard Wisnewski, Martin Sellner, Oliver Janich, Manfred Petritsch, ich selbst und weitere Größen der freien Medienszene sind dabei.“ Der Spendenaufruf funktioniert und Grell kann fast 70.000 Euro von seinen Fans einsammeln. Doch dann ist plötzlich Funkstille. Grell veröffentlicht ein Video, in dem er verkündet, dass er kürzertreten müsse. Irgendwann taucht eine Beta-Version der Seite auf, Kritik wird laut, die Seite verschwindet kurze Zeit später wieder.
Im Juli 2019 startet die Seite dann offiziell und erfüllt keine der Versprechungen. Obwohl Grell behauptet, weitere 70.000 Euro investiert zu haben ist, aus der „Tagesschau“ nichts geworden und tatsächlich zeigt die Seite nur eingebundene YouTube-Videos und solche von anderen Plattformen. Also nicht das, was sich die Fans unter „zensursicher“ vorstellen. Die sind alles andere als begeistert. Die rechtsextremen „Anonymousnews“ sprechen von einem „dreisten Betrug“ und einer „technisch unterirdischen“ Plattform. „Wikimannia“, eine Plattform von Rechtsaußen-Männerrechtlern, verleiht Grell gar das „Prädikat ‚besonders kriminell‘“. Seine Kritker:innen behaupten, Grell hätte die Spenden statt für die Entwicklung seiner Seite vielmehr zur Begleichung von privaten Schulden benutzt. Grell äußert sich höchstens beleidigt zu den Vorwürfen und droht seinen Kritiker:innen mit Klagen.
Im Laufe der Zeit heuern immerhin tatsächlich einige rechtsalternative Medienmacher:innen bei dem Projekt an und laden Videos hoch. Ende 2020 veröffentlich Grell ein weiteres Jubelvideo auf der Seite, die mittlerweile „Frei3“ heißt und ein Impressum in Ungarn hat: „Wir haben unser Versprechen“ gehalten, heißt es. Im Video ist die Seite auf einem Handy zu sehen, dass ab und zu quer gehalten wird, offenbar um zu zeigem, dass auch eine horizontale Ansicht verfügbar ist. Abgesehen von mehreren weiteren Spendenaufrufen enthält das Video noch einige große Ankündigungen. So soll es etwa „Stipendien für talentierte Nachwuchsmedienmacher“ geben. Und „Frei3“ soll zur „deutschen Alternative“ zu Telegram werden. Es handele sich um eine „Festung der Meinungsfreiheit“. Die Kommentare unter dem Video sind allerdings deaktiviert.
Wenig verwunderlich, war Grell mit Beginn der Pandemie auf den Zug von „Querdenken“ aufgesprungen und hatte in seinem Telegramkanal (heute noch fast 12.000 Abonennt*innen) die üblichen Verschwörungserzählungen und Falschnachrichten geteilt, die in der Szene kursieren. Und auch seine Videos drehen sich zu diesem Zeitpunkt fast alle nur noch um das eine Thema Corona. Er berichtet von einigen „Querdenken“-Demos, kritisiert die Maßnahmen und wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch ab 2021 wird es still um den Rechtsaußen-Aktivisten. Sein letzter Telegrampost, ein Aufruf zu einer Protestaktion auf Autobahnen, kommt am 16. Januar 2021. Es folgt fast ein Jahr Funkstille. Auch auf der eigenen Plattform veröffentlicht er keine Videos mehr.
Währenddessen sind viele seiner Fans immer empörter. Weiterhin ist unklar, was genau mit den vielen Spenden passiert ist. Viele werfen ihm vor, seine Unterstützer:innen ausgenutzt zu haben. Andere behaupte, er sei ein V-Mann oder ein Spitzel des Systems. Auf einer der vielen wirren Websites der Szene heißt es: „Er hat massive Geldbeträge von Regime-Kritikern abgezogen und in seine Privatschatulle verschwinden lassen, sodass dieses Geld nun nicht für wirkliche Oppositionsarbeit zur Verfügung stehen kann.“
2021 tritt Grell nur einmal öffentlich in Erscheinung. Im Wahlkampf vor den Bundestagswahlen lanciert eine AfD-nahe Agentur die Kampagne „Grüner Mist“ und versucht mit Desinformation und Falschnachrichten einen Wahlerfolg der Grünen zu verhindern. Sie wolle „demaskieren, um sie von der Regierungsmacht im Bund fernzuhalten“ heißt es auf der zugehörigen Website. Neben einer Plakataktion gibt es auch Videos, in einem von ihnen tritt Hagen Grell auf — selbstverständlich ist er auch hier wieder Experte — und spricht über „die Folgen der ‚grünen‘ Klimahysterie“.
Doch jetzt ist Grell wieder zurück. Am 1. Januar 2022 postet er seit fast einem Jahr wieder auf Telegram. Wieder geht es um „Frei3“, große Versprechungen und Rechtfertigungen, warum alles bisher nicht so gut lief, wie angekündigt. Und schon sein erster Post nach langer Abwesenheit geht mit Desinformation und viel Selbstmitleid los: „2021 war ein Jahr, in dem ich keine Medien machen konnte. Die US-Wahl wurde gestohlen, die Covid-Maßnahmen wurden ständig verschärft und bis zum Jahresende war kaum breiter Widerstand in Sicht. Ich war traurig und wütend über diese ganze Ungerechtigkeit.“ Aber 2022 wird alles besser, denn seit Herbst 2021 hätten er und sein „Progammier-Partner“ die Seite „endlich auf den Stand gebracht, den ich 2018 versprochen hatte, und diesen sogar übertroffen.“ Diesmal behauptet der Rechtsaußen-Aktivist, er habe einen „großen Kredit aufgenommen, damit wir unsere Zeit für die Programmierung an frei3 noch länger strecken können. Mein Partner hätte sich längst einen lukrativen Job in der Wirtschaft suchen und mit seinen Fähigkeiten im Luxus leben können. Wir haben nicht den einfachen Weg gewählt, wir haben den schweren Weg gewählt. Weil es der ehrenvolle Weg ist.“
Doch der „ehrenvolle Weg“ hat scheinbar immer noch nicht zu einer einwandfrei funktionierenden Videoseite geführt. Viele der älteren Videos sind nicht abrufbar, offenbar wurden sie von YouTube gelöscht und sind auch nicht mehr auf der angeblich „zensursicheren“ Plattform verfügbar. Und auch die Anzahl der Nutzer:innen scheint bisher eher gering zu sein. Das beliebteste Video der letzten zwei Wochen wurde zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels von etwas mehr als 3.311 Personen gesehen. Dabei handelt es sich um ein vermeintliches Erklärstück der rechtsextremen Gruppierung „Ein Prozent“, auf Platz zwei dann auch schon der wegen Volksverhetzung verurteilte Neonazi-Aktivist Nikolai Nerling, mit einem Video, in dem der Nationalsozialismus relativiert wird. Das Video des Ex-Lehrers wurde von nur 1.206 Personen angeschaut, auf Platz drei folgt Hagen Grell persönlich mit einem Video, dass zur Teilnahme an einem „Montagsspaziergang“ aufruft (1.165 Views) und schließlich die schlechte Kopie einer News-Sendung des Rechtsaußen-Aktivisten Kai Orak mit dem Titel „Kaitag am Freitag“ (1.066 Views).
Mit Orak scheint Grell allerdings mehr zu verbinden. Denn auch das Comeback des Spendensammlers fällt nicht ohne Skurilität aus. Angesichts der Betrugsvorwürfe gegen Grell, unterschreibt er im Video eine — juristisch vermutlich angreifbare — „Unabhängigkeitserklärung“. Allerdings ohne auf die Vorwürfe einzugehen. Demnach arbeite er nicht mit Geheimdiensten zusammen und bekommt kein Geld vom Staat. Unter anderem heißt es in der Erklärung: „Ich bin kein formelles, informelles oder beratendes Mitglied von Geheimbünden oder Geheimorganisationen, oder elitären nicht-geheimen Gruppierungen, deren Ziel die politische, wirtschaftliche oder kulturelle Transformation von Gesellschaften, oder Gemeinschaften ist.“ Oder auch: „Ich bin kein Mitglied von Freimaurer-Logen, Logen oder Organisationen, die der Freimaurerei nahestehen, wie z.B. Rotary Club, Lions Club, Rosenkreuzer oder Charismatiker.“ Sollte das alles doch nicht stimmen, müsste Grell eine Strafe zahlen: 100.000 Euro: „zahlbar sofort in Bar oder Edelmetallen“.