Wie trugen Soziale Netzwerke zu den Eskalationen von Chemnitz bei?
Im Fall von Chemnitz ging es hauptsächlich um die inhaltliche Mobilisierung, nicht so sehr um die praktische. Das heißt: Es waren weniger Demonstrationsaufrufe oder Vernetzungskommunikation, die in den rechten Sphären auf Facebook oder Twitter sichtbar wurden, sondern es wurden vielmehr eigene Erzählungen entwickelt und geteilt, die ein Szenario von Bedrohung durch Geflüchtete und Untätigkeit oder Unfähigkeit der Regierung herstellen sollten – was offenkundig auch gelang. Die rechte Online-Sphäre ist ein Kosmos aus rechtspopulistischen bis rechtsextremen, rassistischen, islamfeindlichen, verschwörungsideologischen oder demokratiefeindlichen Kanälen, Seiten und Profilen. Hier wird viel von „Wahrheit“ geschrieben, womit aber nicht gemeint ist, was real geschehen und nachweisbar ist, sondern eine Sammlung von Falschinformationen, die emotional involvieren. Wenn deren Fehlerhaftigkeit ans Licht kommt, weiß man im Zweifelsfalle halt „besser“ Bescheid als die „Systemmedien“, oder beschuldigt diese, Informationen zurückzuhalten.
Als in Chemnitz am 26.08.2018 um 3 Uhr nachts ein 35-jähriger Mann ermordet wird, erscheint am nächsten Morgen ein kurzer Bericht in der Onlineausgabe regionalen Boulevardpresse, der in der rechten Sphäre nicht nur schnell Verbreitung fand, sondern auch ein eigene Erzählung : Täter seien Geflüchtete (erwies sich später als korrekt), Opfer seien Deutsche (was stimmt, wobei sich später herausstellt, dass der Ermordete kubanische Wurzeln hat und normalerweise eher zum Feindbild der rechten Sphäre gehört hätte). Vom Messer als Tatwaffe war die Rede (korrekt), aber auch von 25 Messerstichen (falsche Anzahl ; Gerichtsmediziner sprach später von 5 Stichen; aber passend zur in der rechten Sphäre beliebten Erzählung der „Messereinwanderung“). Es habe zwei Todesopfer gegeben, davon werde eines verschwiegen (falsch, es war ein Todesopfer und zwei Verletzte). Als Setting wurde eine weitere in der rechten Sphäre beliebten Erzählung gewählt: Das Opfer habe Frauen geschützt, die von den späteren Tätern belästigt worden wären (falsch).
Maximilian Krah ist stellvertretender Landesvorsitzender der AfD Sachsen
Erzählungen der rechten Sphäre
Diese Erzählung wird an verschiedenen Stellen aufgenommen: von einzelnen AfD-Abgeordneten, von vielen rechten Accounts, von Rechtsaußen-Medien – besonders viel geteilt wurde der Artikel des islamfeindlichen Blogs „PI-News“. Sie fand sich allerdings, unbestätigt von Polizei oder anderen Quellen, auch etwa in der BILD-Zeitung, bis die Polizei Sachsen eine Pressemitteilung herausgab und viele der Details dementierte. In der rechten Szene verselbstständigte sich die Erzählung soweit, dass etwa auf der Internetseite von Vera Lengsfeld ein „Augenzeugenbericht“ erscheint, der Dinge gesehen haben will, die nicht passiert sind (etwa die versuchte Vergewaltigung und die 25 Messerstiche, die es nicht gab), und dafür zwar keine Belege liefern konnte, aber schrieb: „Ich habe hier mein Wort gegeben.“
Erzählung von „Messermännern“ bei AfD-MdB Uwe Schulz
Während lokale Gruppen zur Demo aufriefen, etwa die flüchtlingsfeindliche Gruppierung „Pro Chemnitz“, “Heimat und Tradition Chemnitz Erzgebirge”, teilten reichweitenstarke Facebook-Seiten vor allem Teile der Empörungserzählung, etwa „Pegida“, da s „Frauenbündnis Kandel“, oder die rechtsextreme Gruppe „Wir für Deutschland“. Auch AfD-Vertreter*innen beteiligten sich, rechtsextreme Parteien wie NPD oder der „III. Weg“ schlossen sich an.
„Wir für Deutschland“ wittert den „Kampf ums Überleben“.
Empörungsmanagement
Die praktische Organisation und massive Mobilisierung der Demonstrationen, so beobachtete es Miro Dittrich vom Projekt „Debate//De:Hate“ der Amadeu Antonio Stiftung, lief vor allem über geschlossene Gruppen und Kanäle sowie Messengerdienste und private Chatprogramme, etwa auf Telegram, Whatsapp und Discord – auch ein Zeichen für den Organisationgrad der beteiligten Akteur*innen und zuvor eher in der konspirativen rechtsextremen Szene populär als in der auf Öffentlichkeit zielenden rechtspopulistischen Sphäre. Diese Kanäle werden aber teilweise von denselben Akteur*innen bedient, etwa vom „Frauenbündnis Kandel“ oder IB-Kopf Martin Sellner. Messanger und private Chats sind beliebt, weil sie die rechte Sphäre unabhängig machen von Sozialen Netzwerken wie Facebook, das zuletzt etwa viele Accounts der „Identitären Bewegung“ gelöscht hatte, und auch die Verbreitung von Inhalten ermöglichen, die anderswo gelöscht werden – hier beim geleakten Haftbefehl der Fall.
Heimat der Falscherzählung über Chemnitz: YouTube
Eine besondere Rolle für die emotionale Radikalisierung kommt im Fall von Chemnitz YouTube zu. Wer bei YouTube den Suchbegriff „Chemnitz“ eingibt, bekommt seit Tagen vor allem rechtsextreme und desinformative Videos vorgeschlagen. Berichte von seriösen, journalistischen Medien kommen reichweitentechnisch hier offenkundig nicht gegen rechtsextreme und rechts-reißerische Erzählungen an. Die Informationen, die YouTube an Chemnitz Interessierten offeriert, stammen dann von
RT Deutsch („Was ist wirklich in Chemnitz passiert?“) (28.08, 1. Tag 93.000 Views, inzwischen 251.800 Views) und “Chemnitz: Einwohner äußern sich zum Mord an Daniel H.“ (30.08., 1. Tag 230.000 Views, inzwischen 250.000)Ruptly („Anti-migrant protest condemning fatal strife in Chemnitz met by counter-protest“, 127.000 Views am 1. Tag (27.08.), inzwischen 133.000 Views),IB-Kopf Martin Sellner: „Mord in Chemnitz und der Zorn der jungen Männer“, am 1. Tag (28.8.) 65.000 Views, inzwischen 102.000 Views) und „Die erfundene Hetzjagd von Chemnitz, 30.08., am ersten Tag 76.000 Views, inzwischen 88.000 (sic))dem rechtsextreme YouTuber Hagen Grell: „Chemnitz ist unschuldig! Politik und Medien nicht!“ (27.08. 186.000 Views)Dem rechte YouTuber Henry Stöckl („Chemnitz: Es reicht!“ Demo – Eine REVOLUTION hat begonnen!“, hochgeladen am 28.8., 97.000 Views, einen Tag später 132.000 Views, inzwischen gelöscht wegen Urheberrechtsansprüchen) ,dem rechten YouTuber Oliver Flesch „Chemnitz: Der (geleakte) Haftbefehl“) (29.08., 7.000 Views, inzwischen 45.000 Views).Der amerikanische Alt-Right-Kanal „Red Pill“ offeriert „German Riots in Chemnitz following murder: The Breaking Point for Migration?“ (10.000 Views am ersten Tag (29.08.), inzwischen 132.000 Views),Tim Kellner („ERSCHRECKEND! ? Tötete die empörte OB von Chemnitz einen Rollstuhlfahrer in der Fußgängerzone?“ – 25.000 Views am ersten Tag (29.08.), inzwischen 109.000 Views).Rechter Verschwörungs-Kanal „NuvisoTV“: „Chemnitz – Ein Insiderbericht“ (28.08., 191.000 Views am 1. Tag, inzwischen 403.500 Views)
Nutznießer von Chemnitz: Chris Ares
Den größten Erfolg erzielte hierbei der rechtsextreme IB-Rapper Chris Ares, der in den Ereignissen von Chemnitz offenkundig seine Chance auf Ruhm sieht. Er hat rund 15.000 Follower auf YouTube, als die Ereignisse in Chemnitz geschehen, inzwischen sind es 26.000. Das bedeutet, dass er zwischen November 2016 und August 2018 genausoviel Fans gewonnen hat, wie vom 27. bis zum 31.08.2018 – ein rasanter Zuwachs.
Ares hat ein „Lied für Chemnitz“ geschrieben (29.08, 44.000 Aufrufe, 888 Kommentare (wie passend)). Sein größter Erfolg war aber das Video „Migranten-Mord Chemnitz: „Ihr empathielosen Heuchler“! Lage artet aus“, dass Ares per Handycam in seinem Auto drehte und das am ersten Tag (27.08.) 430.000 Menschen ansahen. Inzwischen sind es 490.000, die seine Hasstirade gegen Politik und Presse betrachtet haben. Kein Wunder, dass er bei diesen Reichweiten mehrfach nachlegte, wenn auch nicht mehr so erfolgreich: „“diffamieren & verdrehen“: Antwort an das ZDF. Wo bleibt die Wahrheit?“ (29.08., 100.000 Views), „FOCUS-Artikel nach Chemnitz-Video: Blaue Augen und Tattoos bedeutet Neonazi?“, 29.08., 43.000 Views), „Kraftklub und Tote Hosen – Konzert gegen rechts: „In meinen Augen seid ihr Heuchler!“, 30.08, 44.000 Views) und „Held von Chemnitz: Justizbeamter opfert Job (Veröffentlichung Haftbefehl)“, (31.08., 4.000 Views).
Monitoring-Experte Miro Dittrich sagt: „Chris Ares‘ Video zum Mord war vierzehn Stunden lang #1 in den YouTube-Trends, jeder Besucher der Seite konnte es also auf der Startseite sehen und es hat mittlerweile fast 500.000 Aufrufe. Auch in diesem Video wurden die Falschnachricht von zwei Toten und der Abwehr von einem sexuellen Übergriff verbreitet. Die Rolle von YouTube in der Verbreitung von Falschnachrichten und rechtspopulistischen Erzählungen ist nicht zu unterschätzen, es haben sich mittlerweile viele reichweitenstarke rechtspopulistische und -extreme Kanäle etabliert und bleiben auf der Plattform selbst bis jetzt noch fast immer unwidersprochen.“
Hier wird offenkundig, dass die immer wieder widerholte und unwidersprochene Falscherzählung und Stimmungsmache Früchte trägt, die das Meinungsbild einer Region beeinflussen können.