Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

1. Mai in Berlin 800 Meter hin und zurück in sechs Stunden

Von|

Ein journalistischer Kollege brachte die Lage – unfreiwillig – auf den Punkt, als er um 12.30 Uhr, immerhin eine halbe Stunde nach Veranstaltungsbeginn, auf den Sammelplatz der Rechtsextremen hinter dem S-Bahnhof Bornholmer Straße kam. „Entschuldigen Sie?“ fragte er einen der zahlreich vorhandenen Polizisten, „sind das hier die Demonstrationsteilnehmer?“ Der Polizist bejahte: Die kaum dreißig zumeist schwarz gekleideten und wenig behaarten Herren und äußerst wenige Frauen, ja, das waren zunächst alle Nazis, die es am 1. Mai pünktlich nach Berlin geschafft hatten. Sie sollten, verglichen mit der Zahl der Journalisten um sie herum, noch lange in der Unterzahl bleiben.

Demonstrationsanmelder Sebastian Schmidtke, Landesvize der Berliner NPD, hackte hektisch eine SMS nach der anderen in sein Handy ? wo waren bloß die Kameraden? Während die GegendemonstrantInnen schon fleißig ihre Blockadepunkte bezogen hatten, Plakate aufgehängt, Kochtöpfe bereitgelegt, zu Musik getanzt, trudelten nach wie vor erst wenige Nazis in Berlin-Pankow ein. Allerdings die der unangenehmsten Sorte: Vornehmlich aggressiv wirkende ?Autonome Nationalisten?, vornehmlich Männer ? gerade im Gegensatz zum blockierten Demonstrationsversuch in Dresden im Februar fiel deutlich ins Auge, dass hier die Nazi-Frauen, die Älteren und die Parteikader weitestgehend fehlten.

Was ihnen ? 700 sollten es schließlich werden, statt der 3.000 zuvor prognostizierten ? geboten wurde, war allerdings so mies, das sich zwischendurch ein Jungnazi grölend an die Pressevertreter wandete: ?Ist das öde hier, macht mal Stimmung. Wir sind doch erlebnisorientiert.? Stattdessen gab es eine äußerst vorhersehbare Rede von Kameradschaftsführer Christian Worch, die sich mühevoll von Islamfeindlichkeit über die Ausländer, die die Arbeitsplätze wegnähmen und bis zur Kritik der bösen Globalisierung an allen erwartbaren Punkten aktueller rechtsextremer Hetze abarbeitete. Zu hören war davon zwar wenig, da ein Haus am Platz die Demonstrationsversuchsteilnehmer ausdauernd mit lauter Bob-Marley-Musik beschallte ? doch auch ohne dies hätte wohl kaum jemand zugehört. Andere Anwohner schlagen auf Kochtöpfe und Balkongitter, um Lärm zu machen. Damit übertönen sie auch den Berliner Liedermacher, der auf der Bühne folgt.

Was der Polizei derweil Sorgen macht, kommt hier nicht einmal als Erheiterung an. 250 Neonazis haben sich zu einer unangemeldeten Spontandemo auf dem Kurfürstendamm versammelt. Schmidtke sagt ein bisschen enttäuscht ins Mikrophon, dass er hofft, das die Kameraden noch den Weg in den Prenzlauer Berg finden. Tun sie nicht: Sie werden von der Polizei in Gewahrsam genommen. Die Aktion stellt sich später als geplant heraus.

Doch um 15 Uhr gibt die Polizei Order, sich für die Demonstration bereit zu machen. Aktion kommt in die rund 700 Neonazis, die zuletzt schon je nach Naturell ermattet oder aggressiv wirkten. Erleichtert wirken einige auch, dass hier offenbar keine zweite Komplettblockade wie in Dresden droht. Als der Zug sich in Bewegung setzt und das erste Mal Parolen in die Welt gebrüllt hat ? anlassbezogen etwa: ?1. Mai ? seit 33 arbeitsfrei!? – steht er aber schon wieder: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), Grünen-MdB Wolfgang Wieland, Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening und Pankows Bezirksbürgermeister Matthias Köhne haben sich auf die Straße gestellt, um ?Berlin gegen Nazis?-Plakate zu zeigen. Schließlich geht es wieder ein paar Schritte voran. Die Anwohner haben bunte Protestplakate angebracht; einige spielen lautstarke Musik oder rufen ?Nazis raus?. Einige ältere Menschen blicken fassungslos auf die schwarze Meute.

Während der Lautsprecherwagen die zu ?Ordnung und revolutionärer Disziplin? aufruft, brennt Kameradschaftsführer Thomas ?Steiner? Wulff eine Sicherung durch: Er wähnt sich angegriffen und geifert ins Mikrophon über ?gewalttätige Linkskriminelle?, wittert sich umzingelt von ?Kumpanei gegen rechts? und droht schließlich unverhohlen (wenn auch faktisch falsch): ?Wenn die Polizei uns nicht schützt, müssen wir von unserem Selbsthilferecht Gebrauch machen!? (Gemeint war wohl das ?Selbstverteidigungsrecht?).
Zeit dazu hat er. Der Zug steht ja schon wieder. Wolfgang Thierse und seine politischen Kollegen folgen ihrem Gewissen ? und vielleicht auch dem bezwingenden Ruf der Gegendemonstranten, ?Thierse ? blockier se!? – und setzen sich auf die Bornholmer Straße, um der Presse zu erklären, dass es das Recht eines jeden Bürgers sei, die Straßen seiner Stadt gegen den Missbrauch durch Neonazis zu verteidigen. Wolfgang Wieland ergänz: ?Wir wollen doch auch, dass die Bürger sehen, dass hier auch Politiker dabei sind, die ihre Empörung teilen.? Insgesamt verstreicht so wieder eine halbe Stunde. Dann sind die Polizisten froh, dass Thierse, Piening, Wieland und Köhne selbst aufstehen und nicht von der Straße getragen werden müssen.

Um 16.40 Uhr haben es die 10.000 Gegendemonstranten, die das Areal umstellt haben, geschafft: Die Rechtsextremen müssen umdrehen, noch bevor sie die Schönhauser Allee erreicht haben, und zurück zum Ausgangspunkt laufen. Damit haben sie sechs Stunden ihres Lebens damit verbracht, 800 Meter hin und 800 Meter zurück zu laufen. Auf der Rückfahrt werden die Nazis von der Polizei aus der Stadt eskortiert.
Und so war der 1. Mai in…
…Erfurt:

400 Neonazis (u.a. NPD-Chef Udo Voigt, Patrick Wieschke (NPD Thüringen) laufen 500 Meter und warten dann zwei Stunden eingekesselt, um dann zum Bahnhof zurückgeleitet zu werden. 1.000 Gegendemonstranten, alles friedlich.

… Rostock:
400 Neonazis, 600 Gegendemonstranten plus mehrere hundert auf einem ?Friedensfest?, das ein Zeichen gegen den Aufmarsch setzen sollte. Gegner blockieren eigentliche Route, Nazis dürfen auf Ausweichroute marschieren.

… Schweinfurt:
800 Neonazis, 10.000 Gegendemonstranten. Überwiegend friedlich.

… Würzburg:
Rechtsextremer Aufmarsch kommt nicht zustande ? es erschienen keine Teilnehmer. 5.000 Menschen auf Demonstration gegen Nazis.

… Zwickau:
400 NPD-Anhänger, 1.500 Gegendemonstranten, weitgehend friedlich (ein Übergriff zwischen Nazis und Gegendemonstranten).

…Solingen:
Pro NRW bringt es auf 70 Demoteilnehmer, die NPD bei ihrer Veranstaltung nur auf 26 (und die Veranstaltung kommt nur auf 30 Minuten). 700 Gegendemonstranten.

Mehr im Internet:
| „‚tschuldigung, darf ich ma‘ bitte durch?“ (mut-gegen-rechte-gewalt.de)

| Berlin: Schnelles Ende eines Naziaufmarsches – Sitzblockaden führten zum Erfolg

| Bildergalerie: 250 Neonazis in Berlin festgenommen (NPD-Blog.info)

In Berlin wurden zwei Fotojournalisten, die vor einem NPD-Treffen standen, von Neonazis beleidigt und angegriffen. Die Polizei verwies die Fotografen anschließend des Ortes. Jetzt stellte ein Gericht klar: Der Platzverweis gegen die Pressefotografen war rechtswidrig (Störungsmelder).

Weiterlesen

Grundgesetz

Onlineberatung gegen Rechtsextremismus „Für Menschen, die in Bedrängnis geraten sind“

Rechtsextremismus ist ein politisches Problem. Für Familien oder Freunde von Neonazis ist es aber oft genauso ein psychosoziales. Diese Erfahrung machte im ersten Jahr ihres Bestehens die „Onlineberatung gegen Rechtsextremismus“, die per Email oder im Chat hilft. Oft fällt es Betroffenen ohne sichtbares Gegenüber sogar leichter, sich unangenehme Sorgen von der Seele zu schreiben.

Von|
20130111_rechtsextreme-leim

Wenn der Kollege ein Nazi ist

Der nette Büronachbar erzählt in der Kantine, dass er am Wochenende an einer rechtsextremen Demo teilgenommen hat – und verteilt gleich Flyer für den nächsten Aufmarsch. Die Kollegin mit Migrationshintergrund ist für ihr Engagement im Betrieb bekannt – und wird dennoch bei Beförderungen regelmäßig übergangen. Was tun, wenn einem Rassismus und rechtsextremes Gedankengut am Arbeitsplatz begegnen?

Von|
Eine Plattform der