Bundesweit ermordete der sogenannte „Nationalsozialistische Untergrund“, NSU, unter Mithilfe eines breiten rechtsextremen Netzwerkes im Zeitraum von 2000 bis 2007 zehn Menschen. Unter den Opfern waren Menschen türkischer, kurdischer, griechischer und iranischer Herkunft. Hinzu kamen 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Am 4. November 2011 enttarnt sich die Terrorzelle. Bis heute sind viele Fragen und Ungereimtheiten zum NSU nicht aufgeklärt. Besonders das Unterstützer:innen-Netzwerk, das dem NSU erst seine mörderischen Taten ermöglichte, ist immer noch unzureichend beleuchtet worden. Und dabei ist das Netzwerk weiterhin aktiv und mordet weiter. Es reicht sogar bis zum Mord an Walter Lübcke.
Lübckes Name auf der NSU-„Feindesliste“
Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 finden Ermittler:innen auf Festplatten der Untergetauchten „Feindlisten“ mit 10.000 Namen. Neben „linken“ politischen Gegner:innen, Moscheen, Kirchen, Gemeindezentren und 233 jüdischen Einrichtungen steht darauf auch Walter Lübcke. Das ist deswegen besonders bemerkenswert, weil Lübcke eigentlich erst 2015 bekannt bei Rechtsextremen und besorgten Bürger:innen in ganz Deutschland wurde.
2015 besuchten sein späterer Mörder Stephan Ernst und der Neonazi Markus H. eine Info-Veranstaltung zur Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete im hessischen Lohfelden. Hier erklärte Walter Lübcke: „Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Ernst und H. waren darüber dermaßen „fassungslos“, dass die das abgefilmte Geschehen bei YouTube hochluden. H. recherchierte die Wohnadresse Lübckes und kommentierte „vielleicht könne man da mal was machen“. Seither absolvierten sie gemeinsam Schießtrainings. Sie kamen zu der Überzeugung sich nun bewaffnen zu müssen. 2019 richtet Ernst Lübcke an dessen Wohnhaus mit einem Kopfschuss hin.
Was verbindet die NSU-Morde und den Lübcke-Mord?
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, das NSU-Kerntrio, wuchsen im thüringischen Jena auf, Anfang der 1990er Jahre lernten sie sich kennen. Die drei knüpfte Kontakte zu thüringischen Neonazi-Kadern und wurden mit der Zeit selbst zu zentralen Figuren der rechtsextremen Szene in Thüringen. Ab 1998 lebte das Mördertrio untergetaucht in Chemnitz und Zwickau, von wo aus sie ihre rechtsterroristischen Anschläge und Morde planten. Maßgeblich wurden sie in ihrem Leben im Untergrund dabei von der Thüringer Neonazi-Szene unterstützt. Und die war wiederum zur damaligen Zeit gut mit der rechtsextremen Szene in Kassel vernetzt, das belegt eine ausführliche Recherche von Correctiv. Es sind gemeinsame rechtsextreme Aufmärsche, Gewalttaten und Feiern mit Saufgelagen dokumentiert. In dieser Zeit lernten sich der spätere Lübcke-Mörder Stephan E. und der mittlerweile wegen Beihilfe vom Gericht freigesprochenen Markus H. in der Kassler Kameradschafts-Szene kennen. Vor Gericht wurde H. von derselben Anwältin vertreten, die im NSU-Prozess in München Ralf Wohlleben vertrat. Wohlleben war, wie Markus H. im Mordfall Lübcke, beim NSU in die Beschaffung der Tatwaffe involviert und wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Walter Lübcke arbeitete in den 1990er Jahren als Jugendleiter in Thüringen
Während Ernsts aktiver Kameradschafts-Zeit späht er Objekte aus und legt Listen mit Menschen an, gegen die sich sein Hass richtet. Es ist die Zeit, in der auch der NSU seine Opfer auswählt, auskundschaftet und ermordet. Genau wie die Terrorist:innen sammelt Ernst Informationen zu Personen jüdischen Glaubens, Politiker:innen, politisch Engagierten und Journalist:innen. Zum Beispiel die Adresse eines Kasseler Lehrers. 2003 wird auf ihn in seinem Wohnhaus geschossen, die Kugel verfehlt nur knapp seinen Kopf. Auch auf den Listen von Ernst taucht diese Adresse auf. Ernst beteuert jedoch, dass nicht er auf den Lehrer geschossen habe. Unter den Adressen die Ernst sammelte sind solche, die später auch in den rund 10.000 Einträgen umfassenden Listen des NSU als potenzielle Anschlagsziele gefunden wurden.
Auch Walter Lübcke befindet sich unter den tausenden von Namen, die der NSU sammelte. Er ist in den 1990er Jahren viele Jahre lang Leiter einer Jugendbildungseinrichtung des Landes Thüringen in Ohrdruf im Landkreis Gotha. Ohrdruf hat wie viele Städte eine Neonazi-Zelle. Zu jener Zeit bildete sich der „Thüringer Heimatschutz“ heraus. Lübcke sei damals allerdings vermutlich nicht bedroht worden, berichtet Correctiv. Der städtische Jugendclub in Ohrdruf und auch ein anderer in der Region werden hingegen von rechten Jugendlichen brutal angegriffen. Die Jugendbildungseinrichtung in Ohrdruf, deren Leiter Lübcke war, wird Ende der 90er-Jahre geschlossen, damit endet seine Tätigkeit in Thüringen. 1999 wird er für die CDU in den hessischen Landtag gewählt.
Personelle Überschneidungen zwischen Lübcke-Mörder und NSU
Doch die verbindenden Elemente zwischen Lübcke-Mord und NSU-Komplex sind damit noch bei Weitem nicht ausgeschöpft: Laut Correctiv-Recherchen hatte Ernst persönliche Bekanntschaft mit mindestens vier von 35 Personen, die laut Bundesanwaltschaft zum engsten NSU-Unterstützer:innen-Umfeld zählen. Darunter der ehemalige V-Mann und Neonazi Benjamin Gärtner, Tarnname „Gemüse“. Gärtners V-Mann-Führer beim Verfassungsschutz war Andreas Temme. Gärtner steht auf Platz 11 der Liste zu den NSU-Kontakten.
Halit Yozgat: Das Todesopfer aus Kassel
Das wohl neunte Opfer des NSU war der Kasseler Kleinunternehmer Halit Yozgat. Er wurde am 6. April 2006 mit zwei gezielten Kopfschüssen in seinem Internetcafé hingerichtet. Der Mord geschah in Anwesenheit eben jenes Mitarbeiters des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Temme, der nur wenige Sekunden nach dem Mord an dem Toten vorbei, der hinter dem Tresen zusammengesunken war, das Internetcafé verließ. Am Tag des Mordes telefonierte Temme mehrmals mit seinem V-Mann Gärtner, den Ernst kannte. Bei Durchsuchungen im Zuge der Ermittlungen gegen Temme werden neben Schusswaffen auch Nazi-Dokumente wie Auszüge aus „Mein Kampf“ und ein Buch über Serienmörder bei ihm gefunden. Seine Rolle bei dem Mord in Kassel ist bis heute unaufgeklärt. 2007 wird Temme ins Regierungspräsidium Kassel versetzt und arbeitet damit genau in der Behörde, der der getötete Walter Lübcke vorstand. Zuerst war er dort in der Personalabteilung tätig, dann wechselte er ins Ressort Umweltschutz. „Gemüse“ gab im NSU-Ausschuss zu Protokoll, Stephan Ernst zu kennen. So taucht auch der Name des Lübcke-Mörders in den NSU-Akten auf.
2006 soll Beate Zschäpe am gleichen Abend wie der V-Mann Benjamin Gärtner in einer Kasseler Kneipe gewesen sein, das behauptet zumindest die Wirtin. An jenem Abend soll es demnach zu einer Schlägerei gekommen sein, an der auch Personen aus dem „Combat 18“-Netzwerk beteiligt gewesen sein sollen. Ernst kannte neben Gärtner auch die anderen drei Rechtsextremen.
Markus H., der neben Ernst vor Gericht stand, taucht in den Mordermittlungen zum Kasseler NSU-Mord auf. Er wohnte 2006 im Haus der Familie Karagöz, mit deren Sohn Halit, das Mordopfer in der Türkei zusammen im Urlaub gewesen war. Einige Wochen nach dem NSU-Mord in Kassel wurde H. von der Polizei vernommen. Die Ermittler:innen wurden auf ihn aufmerksam, weil er mehrfach eine speziell eingerichtete Webseite des BKA zur damals noch ungeklärten sogenannten „Ceska-Mordserie“ aufgerufen hatte. Gerade mal vier Fragen werden Markus H. gestellt und an keiner Stelle findet sich ein Hinweis auf H.s rechte Gesinnung. Dabei war Markus H. erst kurz zuvor noch polizeilich aufgefallen, weil er in einer Gaststätte in Kassel den Hitlergruß gezeigt hatte.
Thorsten Heise: Spiritus Rector der Neonazi-Szene
Platz 10 der Liste mit den engsten NSU-Vertrauten nimmt laut Bundesstaatsanwaltschaft der Neonazi-Kader und NPD-Mann Thorsten Heise ein. Der verurteilter NSU-Unterstützer Holger Gerlach sagte nach seiner Verhaftung 2011 aus, er habe mit Heise bei „zwei, drei“ Treffen über eine mögliche Flucht des NSU-Kerntrios ins Ausland gesprochen und Heise habe gesagt, er hätte da jemandem, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Auch Tino Brandt, ein ehemaliger V-Mann und Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch das NSU-Kerntrio Mitglied war, sprach noch 2007 mit Heise über die Untergetauchten. Wusste Heise also vor Auffliegen des Trios von den Morden? Bis Polizei und Öffentlichkeit erfahren, dass „die drei verschwundenen Jenaer“ für Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verantwortlich sind, werden noch vier Jahre vergehen, meint Heise in dem Gespräch von 2007 weiter – er behielt recht.
War Heise eine Art Mentor für den Lübcke-Täter?
Unterlagen, die der Welt vorliegen, belegen, dass Ernst, der auch den Spitznamen „NPD-Stephan“ trug, ab 2001 engen Kontakt zu Thorsten Heise hatte. Die Zeitung spricht von einer „Art Mentoren“-Rolle die Heise für Ernst einnahm. Laut Unterlagen des Verfassungsschutzes sollen sich die beiden Neonazis zwischen 2001 und 2011 merhmals getroffen haben. Auch auf dem Anwesen von Heise im thüringischen Fretterode. Noch 2011 besuchte Ernst eine von Heise organisierte Sonnenwendfeier in Thüringen.
„Combat 18“-Kontakte in Kassel
Darüber hinaus war Ernst mit zwei weiteren Neonazis aus dem engen Umfeld des NSU bekannt. Einer davon gab bei einer polizeilichen Vernehmung und vor dem hessischen Untersuchungsausschuss an, er glaube Mundlos und Böhnhardt bei einem Konzert im Jahr 2006 gesehen zu haben. Das Konzert sei in Kassel gewesen, vielleicht aber auch in Thüringen. Zudem gibt es weitere Hinweise auf Konzerte und Geburtstagsfeiern aus dem Umfeld des Kassler Ablegers von „Combat 18“ (C18), einer inzwischen verbotenen militanten Neonazi-Gruppe, bei denen auch Teile des Kern-Trios anwesend gewesen sein sollen.
Eine Recherche von Exif zeigt auf, dass Ernst zum engen Kreis der Neonazis Michel Friedrich und Mike Sawallich gehörte. Sawallich war eine Führungsfigur der Kasseler Neonazi-Szene. Friedrich zählte zum Kreis der „Oidoxie Streetfighting Crew“, die seinerzeit vorgab, das deutsche „Combat 18“ zu repräsentieren. C18 ist der paramilitärische Arm des internationalen, in Deutschland jedoch verbotenen „Blood and Honour“-Netzwerkes. „Combat 18“ propagiert seit vielen Jahren neonazistischen Mord und Terror, bildet Personen im engsten Kreis an Schusswaffen aus und bezeichnet sich selbst als „Terrormachine“ der militanten Neonaziszene. Der Rechtsextreme und mindestens Bekannte des Lübcke-Mörders, Stanley Röske, führt eine eigene Sektion der 2014 neugegründeten C18-Gruppe in Deutschland und soll eine Art Europachef im internationalen C18-Netzwerk sein. Röske gehört seit vielen Jahren der „Arischen Bruderschaft“ des NPD-Vize Thorsten Heise an und wohnt seit spätestens Anfang der 2000er Jahre im Kasseler Umland.
Viele Fragen bleiben
Es gibt zahlreiche offenen Fragen und Ungereimtheiten rund um das Treiben des NSU und sein Netzwerk, doch auch der Prozess schaffte kaum Aufklärung. Diese Mord- und Raubserie hätte das Trio ohne ein großes Unterstützernetzwerk nicht so lange im Untergrund weiterführen können. Dieses wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt, Funktionäre rechtsextremer Parteien und V-Personen. Nach der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011, vernichteten einige Beamt:innen des Verfassungsschutzes relevante Akten. Nach Bekanntwerden mehrerer Strafanzeigen der Nebenkläger:innen wegen Strafvereitelung und Urkundenunterdrückung traten die Chefs des Bundesamts für Verfassungsschutz und der Landesbehörden Thüringens, Sachsens und Berlins zurück. Während des Prozesses hat die Nebenanklage herausgestellt, dass um die 40 V-Personen im Umfeld des NSU zu finden waren. Dennoch konnte das Trio ab 1998 ungestört im Untergrund leben. Und auch beim Lübcke-Mord gab es Fehler der Behörden.
Möglicherweise sind die Verbindungen zwischen dem Lübcke-Mord und dem NSU doch weitreichender als bisher angenommen. Doch um das zu klären, bedarf es Behörden, die einen Willen zur Aufklärung haben. Auch wenn einige personelle Konsequenzen gezogen wurden. Aufarbeitung muss anders aussehen. Gerade auch aus Respekt vor den Angehörigen.