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TikTok Viraler Antisemitismus

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(Quelle: Unsplash )

Dieser Artikel erschien im Rahmen des pre:bunk Newsletters. Das Onlinepräventionsprojekt berichtet regelmäßig aus der Digital Streetwork Praxis auf TikTok, analysiert aktuelle Phänomene im Bereich Desinformation und rechtsextreme Kommunikationsstrategien und gibt praxisorientierte Tipps zu audiovisuellem Medienkonsum, emotionaler Selbstregulierung und Umsetzung von prebunking Methoden.

Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel eröffnete 2019 ihr Buch „Judenhass im Internet – Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl” ihre Untersuchung mit der Feststellung, dass ein nie wirklich und nachhaltig aufgearbeiteter Hass im „reload” ausbreche und sich judenfeindliches Gedankengut online in einem Ausmaß, das es in der Geschichte nie zuvor gegeben habe, verbreiten könne. Dabei hebt sie die technische Möglichkeit neben der breiten Vermittlungsform hervor. Auf diesem Verständnis aufbauend, sollte viraler Antisemitismus verstanden werden.

Was ist seit dem 7.10.2023 auf TikTok passiert?

Wir haben 2021 schon einmal erlebt, wie schnell sich antisemitische Stimmungsmache auf TikTok und anderen sozialen Medien verbreiten kann und alte Formen des Antisemitismus multimodal vermittelt bei der jungen Generation Anklang finden. Seit dem Terror des 07. Oktobers und dem nachfolgenden Krieg in Gaza, erleben wir das in noch größerem Ausmaß. Auch ein Jahr danach finden wir eine einseitige und verschärfte Diskurslage vor. So wird in Videos zum Boykott von Produkten und Firmen aufgerufen, denen irgendeine Verbindung zum israelischen Staat nachgesagt wird. Meist ohne jegliche Nachweise, die Behauptung reicht aus. In einigen Videos laufen Nutzer*innen beispielsweise durch Drogeriemärkte und deuten auf alle Produkte, die ihrer Meinung nach nicht mehr konsumiert werden dürften. Die Videos orientieren sich an den Ansätzen der Boykottbewegung BDS.
Prominentestes Opfer der Boykottkampagnen war Starbucks. Auf TikTok gab es sogar einen Soundtrend dazu. Die Videos laufen ungefähr immer gleich ab: Nutzer*innen nehmen einen repräsentativen Schluck aus einem Kaffeebecher während im Hintergrund der Sound „Mhhh…Do you know what that tastes like? Like a company that doesn’t support Genocide!” (dt. Mhhh… Weißt du wonach das schmeckt? Nach einer Firma, die keinen Genozid unterstützt!) läuft. Hier wird nicht nur eine vermeintliche politische Positionierung des Unternehmens unterstellt, sondern auch eine Mittäterschaft. Der Vorwurf des Genozids ist bis auf Weiteres nicht rechtlich geklärt. Den Vorwurf des Genozids, der hier salopp in den Raum gestellt wird, sollte in der Überprüfung lieber im IGH Verfahren geklärt werden.

Weitaus weniger codiert und umstritten zeigten Creator*innen offen Sympathie mit der Hamas und relativieren den Terror. Noch immer wird der Anschein vermittelt, das Massaker am 7.10.2023 wäre nie passiert oder als Widerstand verklärt. Die Geschichte des Nahostkonflikts wird entkontextualisiert, einseitig und vereinfacht dargestellt.

TikTok reagierte mittlerweile mit 2 Maßnahmenpaketen, um gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit vorzugehen. Richtlinien zu Hassrede wurden zuletzt ergänzt, um zukünftig auch gegen indirekte Formen besser vorgehen zu können. Hierzu zählt auch die Bezeichnung als Zionisten, wenn dies in abwertender Form und stellvertretend für Juden*Jüdinnen gemeint ist.

Während TikTok mit Nachdruck gegen antisemitische Inhalte vorgeht, kommt Algospeak immer häufiger zum Einsatz (s. letzter Newsletter). Statt von der Hamas zu sprechen, nutzen Creator*innen häufig Umschreibungen wie Humus oder H@m@s, wenn sie von der Terrororganisation Hamas sprechen. Israel wurde zuletzt in Videos mit izzy, is real oder isra hell umschrieben. Letzteres dämonisiert den einzigen jüdischen Staat.

Als zu Beginn dieses Jahres die Proteste gegen Rechtsextremismus auf Deutschlands Straßen Anlass zur Hoffnung gaben, wurden Videos veröffentlicht, in denen das Verwenden der israelischen Fahne bei diesen Protesten als Bekenntnis zur aktuellen Regierung Israels geächtet wurde. Protestierende wurden in dem Video aufgefordert, sich hiervon zu distanzieren, da es ein Zeichen für Rechtsextremismus sei. Dass die Fahne auch als widerständiges Zeichen nach der Shoah aufgefasst werden kann, wird nicht zugelassen. Ziel ist es, jegliche Ambivalenz zu tilgen und an einem manichäischen Weltbild anzuknüpfen, in dem die israelische Fahne lediglich als Negativsymbolik firmiert.

Sounds als Köder

Auf TikTok gibt es zahlreich Tricks, um neue Zielgruppen zu erreichen und Interaktionen zu steigern. Das weiß auch Julian Fritsch, der als rechtsextremer Rapper Makss Damage auch auf TikTok versuchte, seine menschenfeindliche Weltsicht zu verbreiten. Zuletzt hatte er ein „Palästina Lied” auf seinem Account veröffentlicht, bevor dieses von der Plattform entfernt wurde. In der Kommentarspalte findet das Video auch bei Personen Anklang, die mit der Weltsicht des Rappers für gewöhnlich nicht einverstanden sind. Statt dies zum Anlass zu nehmen, die eigene Positionierung zu überdenken, wird sein Lied als politische Richtung übergreifendes Bekenntnis gefeiert.

Laut einem Bericht von F. Huesmann im RND reagierte der Rapper auf Nachfragen in der Kommentarspalte, wie dieses Lied mit seinen Positionen vereinbar sei, wie folgt: „Bin gegen Überfremdung, aber ich weiss [sic!], wer die Drahtzieher sind.“ Weiter schrieb er über eine Besatzung und völlige Kontrolle Deutschlands durch New York. Europa müsse sich von der Wall Street befreien. Diese Aussagen knüpfen an antisemitischen Verschwörungsdenken an, indem Juden*Jüdinnen unterstellt wird im Hintergrund alles zu lenken, insbesondere die Finanzen.

Das Video wurde mittlerweile von TikTok entfernt, so auch sein Account. Dabei hat der Rapper bereits einen zweiten Account. Dieser wurde kurz vor Veröffentlichung des Newsletters erneut entfernt. Auch in Stitches und Videos mit abgefilmtem Inhalt finden sich weiterhin Videoedits des antisemitischen Raps wieder.

KI generierte Propaganda

Und nicht zuletzt werden weiterhin mit KI generierte Bilder genutzt, um Desinformationen/Misinformationen zu verbreiten. So werden beispielsweise synthetische Bilder von Kindern in Kriegsszenarien gezeigt, mit dem Ziel zu emotionalisieren. Die Bilder sind oftmals recht schnell als Fake zu erkennen, weil sie wie gemalt wirken oder Fehler im Bild erkennbar sind. Der Schaden kann trotzdem groß sein -je nach Reichweite und Situation.

Mittlerweile gibt es auch sogenannte KI Detektoren, wenn man sich unsicher ist, ob es sich bei einem Bild um ein Foto oder KI generierten Inhalt handelt. Diese sind leider noch sehr fehleranfällig. Eine zusätzliche Bilderrückwärtssuche kann hier Klarheit schaffen.

Unzuverlässiges Videomaterial & Massenargument

In den Videos sind pro palästinensische Demonstrationssituationen zu erkennen. Oftmals geht es um direkte Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Die Creatorin benutzt Aufnahmen, die bereits auf TikTok florieren, um ihnen zusätzliche Legitimität zu verleihen. Wichtiger Bestandteil ihrer Videos ist die Nennung der Reichweite des Videos zum Zeitpunkt der Videoaufnahme. Der Hinweis auf viele Views hat einen Zweck. Zahlen sollen hier implizit dazu dienen, anzuzeigen, dass es sich dabei um einen populären Inhalt handelt, ein Inhalt, der durch seine Reichweite Recht bekommt. Masse wird hier mit Zustimmung gleichgesetzt, ein bekannter Fehlschluss. Es ist eine Art Beliebtheitsargument. Ein Meinungsbeitrag, in dem Fall in Form eines Videos, wird ein höherer Wahrheitsgehalt zugeschrieben, weil er sehr viel Reichweite hat. Man kann hier auch vom Mitläufereffekt sprechen. Dabei sind die Aufnahmen meist nur kleine Schnipsel und bilden keine gesamte Situation ab. Was die Videos eint, sind Momentaufnahmen, schnelle Schnitte und fehlende, verlässliche Einordnungen, sowie Quellen der abgebildeten Situation.

Durch die Verwendung von Videomaterial von Augenzeug*innen erhalten diese Legitimation. Doch im Gegensatz zu Videomaterial in journalistischen Formaten können durch dramatische Sounds, den Schnitt, die Kameraperspektive oder falsche Informationen Ereignisse mithilfe der schriftlichen oder Voiceover Erzählung entkontextualisiert werden. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um gezielte Desinformation, aber mit dem Videomaterial wird jedoch eine Eindeutigkeit vermittelt, und von israelfeindlichen Demonstrationen und antisemitischen Botschaften abgelenkt. Durch derlei Videoinhalte wird der Fokus verschoben.

Diese Fragen & Übungen können bei der Sensibilisierung helfen:

  1. Welche Vor- und Nachteile hat es, dass heute alle mit ihrem Smartphone Videomaterial erstellen können?
    Wo liegen die Unterschiede zwischen einem journalistischen Video und von Augenzeug*innen/Aktivist*innen aufgenommenen Aufnahmen?
  2. Welche Aufnahme genießt größeres Vertrauen und warum? Die journalistische, faktenbasierte Einordnung oder das Video eine*r TikTok Creator*in?
  3. Gegenüberstellung von Berichterstattung und Videoinhalt. Welche Unterschiede gibt es in der Tonalität, Einordnung, etc?
    Fallen euch Situationen ein, in denen es schwer ist, mit einer kurzen Videoaufnahme die gesamte Situation abzubilden ohne zusätzliche Einordnung?
  4. Ihr findet ein Video auf TikTok, in dem ein kurzer Ausschnitt von einem Konflikt gezeigt wird. Wie würdet ihr vorgehen, wenn ihr darüber einen Artikel schreiben müsstet? Welche Fragen sind hierfür relevant?

Die große Verschwörung hinter dem TikTok Verbot

Aber auch TikTok wurde zu Beginn des Jahres Bestandteil antisemitisch konnotierter Verschwörungserzählungen und Geraune. Nachdem der Konzern Byte Dance in den USA aufgefordert wurde, TikTok zu verkaufen, ansonsten drohe das Verbot der Plattform, wurde laut darüber spekuliert, inwiefern eine sogenannte „Israellobby” nach dem 07. Oktober dafür verantwortlich sei. Unterstellt wurde, dass man so versuche, der pro palästinensischen Blase den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dabei wurde mehrfach betont, wie mächtig und gut vernetzt die israelische Lobby wäre, die Biden Regierung dahingehend beeinflusst zu haben.

Pre:bunk Take away

Aktuell finden die diesjährigen Aktionswochen gegen Antisemitismus statt. Vielleicht ist euch die Kampagne bereits an einer Litfaßsäule oder Plakatwand ins Auge gestochen. Das diesjährige Motto ist “Terror gegen Juden”. Im Rahmen dessen gibt es noch zahlreiche Veranstaltungen und Fortbildungsmöglichkeiten.

Ein Jahr nach den Ereignissen des 07. Oktober ist der Bedarf nach antisemitismuskritischer, digitaler Bildungsarbeit offenkundig. Hier braucht es dringend ein breiteres Angebot auf TikTok, Instagram und YouTube. Und auch hier gilt es, von Antisemitismus betroffene Creator*innen nicht alleine zu lassen.

Um zu verstehen, unter welchen Umständen antisemitische Inhalte viral gehen und welche Effekte dies nach sich zieht, braucht es eine datenbasierte, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus und anderen Hassphänomenen auf den Plattformen. Mit einem API-Zugang können Forscher*innen einen Zugang zu TikTok Daten beantragen. Forscher*innen hatten zuletzt unzuverlässige Datensätze beklagt. Zuletzt hatte auch das Institute for the study of contemporary Antisemitism der Indiana University hier zu den Schwierigkeiten empirisch zu forschen einen offenen Brief veröffentlicht. Derlei Ergebnisse sind wichtig für eine realistische Einschätzung von sozialen Phänomene, insbesondere jenen, die unsere Demokratie bedrohen. Zielgruppenspezifische Bedarfe und Formate würden dadurch sicherlich auch profitieren, wenn statt der subjektiven Problemeinschätzung auf Basis sogenannter TikTok Experimente und Rechercheaccounts, Zahlen und Netzwerkanalysen ermöglicht würden, um die Gefährdungslage realistischer einzuschätzen. Wenn Plattformen zuverlässige Datensätze nicht zur Verfügung stellen, müssen diese zukünftig rechtlich dazu verpflichtet werden.

Allen Beispielen gemein ist die schnelle Verbreitungsgeschwindigkeit und große Reichweite, die antisemitischen Inhalte auf TikTok erhalten können. Reagiert die Plattform auf gefährliche Inhalte, wurden diese meist bereits von hunderttausenden bis Millionen Menschen gesehen. Antisemitismus ist stark emotional besetzt und so gehen diese Inhalte wenig verwunderlich auch häufig viral. Durch diese enorme Verbreitungsgeschwindigkeit und -reichweite können auch Verzerrungen in der Wahrnehmung entstehen. Meinungen und Positionen erscheinen durch viele Views hegemonial. Die Popularität wird als Legitimation und moralische Richtigkeit gewertet. Das kann gefährliche Folgen für Betroffene von Antisemitismus haben. Den Juden*Jüdinnen kommt in dieser Wahrnehmung nur allzu schnell die Rolle des Sündenbocks zu. So gibt es auf TikTok keine neuen Formen von Antisemitismus, vielmehr knüpft es an alten Bildern und Projektionen an und verleiht ihnen neue Ausdrucksformen, die in eine digitalen Mobmentalität münden können. Dieses Problem bleibt trotz großer Anstrengungen bestehen und kann nur durch schnelleres und gründlicheres Community Management verhindert werden.

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