Belltower.News: Warum ist der Aktionstag gerade jetzt wichtig?
Anetta Kahane: Verschwörungserzählungen sind ansteckendender als das Virus. Über WhatsApp oder soziale Medien verbreiten plötzlich Menschen Gerüchte und Halbwahrheiten, von denen man es nie erwartet hätte. Um auf die Gefahren von solchen Ideologien aufmerksam zu machen und Menschen davon abzubringen, sich in diesen Geschichten zu verlieren, veranstalten wir den Aktionstag gegen Verschwörungsmythen. Denn es kann gefährlich werden, wenn einzelne oder Gruppen verantwortlich gemacht werden. Das müssen wir verhindern.
Warum haben Verschwörungserzählungen gerade so große Konjunktur?
Die Leute sitzen zuhause, langweilen sich und sind geistig unterfordert. Dazu erleben wir eine Krise, Menschen haben Angst um ihren Arbeitsplatz und die Wirtschaft. In solchen Situationen entstehen fast zwangsläufig Verschwörungserzählungen. Gerade angesichts der drastischen Maßnahmen, die wir aktuell erleben, neigen Menschen dazu, darüber nachzudenken, ob es andere Gründe gibt und immer absurdere Schlüsse zu ziehen. Es ist eine Mischung aus Über- und Unterforderung. Solange die Maßnahmen streng bleiben, ist alles zunächst in Ordnung. Aber sobald sie gelockert werden, macht das Menschen nervös und sie fangen an zu hinterfragen: ‚Warum dürfen die das und ich nicht?‘, ‚Was steckt dahinter?‘.
Die Menschen suchen einen Schuldigen?
Leute mit dieser Weltsicht schaffen sich eine externe Instanz, die für alles verantwortlich ist. Dabei gibt es tatsächlich solche Instanzen, die für vieles verantwortlich sind, auch wenn sie darüber lieber schweigen. Aber in so komplexen, globalen Situationen, wie der Coronakrise, ist es absurd anzunehmen, dass sie durchgeführt und geplant wurden, ohne dass es mehr Menschen merken, als die Verschwörungsgläubigen.
Wie kann man sich dieses Verlangen nach konkreten „Hintermännern“ erklären?
Je geringer das Selbstwertgefühl ist, je geringer das Gefühl ist, selbst etwas bewirken zu können, desto größer ist die Fantasie, dass es andere tun. Dieses Gefühl hat mit der „christlich-abendländischen Kultur“ zu tun, die immer davon ausgeht, dass außerhalb des Eigenen etwas größeres, lenkendes existiert. Es braucht das Böse, um das Schlechte zu erklären, das man gerade durchlebt.
Obwohl es eigentlich nicht existiert, sondern nur das Ergebnis einer komplexen Welt ist?
Wer Kinder hat oder mit ihnen arbeitet, weiß: Es gibt nichts Schwierigeres als Ambiguitätstoleranz zu vermitteln, Widersprüche auszuhalten, ohne sofort jemand anders dafür verantwortlich zu machen. Zusammen mit der Externalisierung von allem Bösen fällt das auch vielen Erwachsenen schwer. Verschwörungsideologien führen dazu, dass Menschen weitaus enger denken und ihre Kraft in diese bösen Fantasien legen, um irgendwie mit einer komplizierten Welt klarzukommen. Sehr viele von diesen Erzählungen sind aber bösartig, ausgrenzend, gefährlich und verletzend. Sie sind ein Ausdruck des Unvermögens, Widersprüchlichkeiten auszuhalten.
Im ganzen Land, aber besonders in Berlin, finden sogenannte „Hygienedemos“ statt, die von Verschwörungsgläubigen, Rechtsradikalen und Rechtsextremen bestimmt werden und bei denen Antisemitismus immer wieder sichtbar wird. Schafft das Virus noch mehr Judenhass?
Antisemitismus kommt nicht durch die Coronavirus-Pandemie, sondern bekommt durch diese Verschwörungserzählungen einfach nur ein neues Gesicht. Sobald man jemanden dafür verantwortlich macht und suggeriert, dass hinter dem Virus finstere Interessen stehen, dann ist das strukturell antisemitisch, weil Antisemitismus genauso funktioniert. Mitunter wird es auch ganz direkt judenfeindlich, sobald Symbolfiguren mit bestimmten Namen, wie Rockefeller, Rothschild oder Soros benutzt werden.
Bei diesen Demos versammelt sich im Übrigen eine sehr ähnliche Klientel, wie wir es schon bei den ‚Montagsmahnwachen‘ 2014 gesehen haben. Eine Querfront von ganz links bis ganz rechts, die sich hauptsächlich auf eines einigen kann: Jemand muss schuld sein und im Zweifelsfall ist dieser ‚Jemand‘ jüdisch.
Oft sind aber die Forderungen und die Geschichten, die in diesen Kreisen erzählt werden – auch jetzt wieder bei den Hygienedemos – so absurd und merkwürdig, dass es vielen Menschen aus der Zivilgesellschaft schwerfällt, sie als Gefahr ernst zu nehmen. Wie kann man damit umgehen?
Verschwörungserzählungen sind so wissenschaftsfeindlich, so intellektuellenfeindlich, so irrational, deswegen ist es ein gesunder Impuls, ab und zu mal darüber zu lachen. Ich weiß, es gibt Stimmen, die sagen, man muss das immer ernst nehmen, weil es eben so gefährlich ist. Aber diese Verrücktheit hat auch etwas Komisches. Humor lebt immerhin von Verzerrungen und Übertreibungen und wenn Verschwörungserzählungen das nicht hergeben, dann weiß ich nicht, was sonst. Wir müssen uns trotzdem ernsthaft damit auseinandersetzen und auf die Gefahren hinweisen, aber wir müssen auch darüber lachen dürfen. Eine Welt ohne Humor will ich mir nicht vorstellen.
Praktisch keine Verschwörungserzählung kommt ohne Antisemitismus aus. Warum funktionieren Judenhass und Verschwörungsdenken so gut zusammen?
Antisemitismus ist das Betriebssystem für jede Verschwörungstheorie. Ohne das Betriebssystem gibt es keine Programme, ob das jetzt die Coronavirus-Verschwörung ist oder Feindlichkeit gegenüber asiatisch gelesenen Menschen. Alles, was damit zu tun hat, läuft auf einem Betriebssystem das sagt, dass es eine grundsätzlich böse Gruppe gibt, die uns Schlechtes will. Das duale, manichäische Weltbild ist eine Wurzel dieses Problems. Man erkennt nicht, dass das Böse aus einem selbst kommt, dass auch negative Dinge zur menschlichen Existenz gehören, sondern es muss jemand schuld sein. Seit sich Christentum und Judentum getrennt haben, wurde mal mehr mal weniger das Böse in die Gestalt von Jüdinnen und Juden externalisiert. Das ist eine tiefe kulturelle Prägung, die Einfluss auf jeden Einzelnen hat.
In Zeiten der Krise braucht es jemanden, der daran schuld ist.
Unsere komplexe Welt und die vielen Herausforderungen, mit denen jeder zu tun hat, sind gleichzeitig Chance und Gefahr, denn einerseits merken viele Leute, dass diese Externalisierung nicht wirklich funktioniert. Fortschritte in der Psychologie und in der Psychoanalyse zeigen uns, dass wir innere Konflikte haben und nicht nur äußere. Auf der anderen Seite gibt es aber auch das Gegenteil. Menschen wollen alles Schlechte unbedingt abspalten, weil sie es sonst nicht mehr ertragen. Aus dieser psychologischen Abspaltung folgt aber eine politische und gesellschaftliche, die immer einen Kern von Antisemitismus mit sich trägt. Man braucht ein Objekt in der Welt, dass schlecht und böse ist, zum Beispiel Israel oder der Kapitalismus oder die USA. Das steht immer dafür, wie sich Antisemit*innen Juden und Jüdinnen vorstellen: die böse Elite, der böse Kapitalist oder der böse Zionist. Unsere Aufgabe ist es immer wieder darauf hinzuweisen, dass Antisemitismus schlecht ist, weil Juden und Jüdinnen ihn schwer aushalten und weil die Schoah bewiesen hat, wie tödlich er sein kann. Aber wir betonen auch, dass er nicht gut für den Einzelnen und die Gesellschaft ist. Der Hass auf Jüdinnen und Juden ist ein Instrument, um sich selbst das Leben leichter zu machen.
Du bist Jüdin und erlebst selbst immer wieder Anfeindungen und Hass. Wie gehst du damit um?
Es trifft mich immer wieder aufs Neue direkt ins Herz. Für uns wenige, in Deutschland übriggebliebene Juden und Jüdinnen ist Antisemitismus sehr, sehr schwer zu ertragen. Manchmal sind es kleine dumme Bemerkungen, manchmal sind es direkte Beschuldigungen, die mit dem Judentum verbunden werden. In den Augen der Rechten bin ich die Oberzensurbehörde und für alles Schreckliche im Internet verantwortlich. Es ist sehr schwer klarzumachen, dass genau das antisemitisch ist. Mir wird oft gesagt, es beziehe sich nur auf meine Stasi-Vergangenheit, oder es passiere, weil die Amadeu Antonio Stiftung Teil der Task Force des Bundesjustizministeriums war, aus der am Ende das NetzDG hervorgegangen ist. Ein Gesetz, das wir im Übrigen immer wieder kritisiert haben. Dabei sind es grundsätzliche Angriffe, die mich als Person genau zu dem externalisierten Bösen machen, dass ich vorher angesprochen habe. Ohnehin sind diese Versuche, Betroffenen abzusprechen, ihre Diskriminierung zu benennen eine Unsitte. Auch schwarzen Menschen oder PoC wird abgesprochen, dass sie Rassismus erleben. Aber es gibt mittlerweile eine gewisse Schwungmasse von PoC, die klar sagen: Wir können Rassismus sehr wohl einschätzen und müssen uns das nicht erklären oder ausreden lassen. Bei Antisemitismus ist das nicht so. Zum einen weil wir so wenige sind und zum anderen, weil Juden bei konkretem Antisemitismus meistens alleine bleiben. Das ist sehr kränkend und sehr belastend.
Wenn Antisemitismus so tief verwurzelt ist, was kann man dann überhaupt noch dagegen tun?
Verschwörungserzählungen zu bekämpfen ist das Gleiche wie Antisemitismus zu bekämpfen und umgekehrt. Je schwieriger eine Krise wird, je größer der Druck, desto schlimmer wird es auch mit dem Antisemitismus. Ich bin fest davon überzeugt, dass man immer neu dagegen vorgehen muss. Neben bewährten Strategien, von denen wir wissen, dass die funktionieren, müssen wir neue entwickeln, um auf jede neue Maske, die der Judenhass trägt, reagieren zu können.
Was muss Politik jetzt, aber auch nach der Krise tun?
In der Bundesrepublik Deutschland haben wir das Subsidiaritätsprinzip. In dem der Staat Verantwortung abgibt, wird die Basis unserer Zivilgesellschaft geschaffen. Ich bin Artikel drei des Grundgesetzes besonders verbunden: Die Gleichstellung aller Menschen und das Verbot von Diskriminierung. An dieser Schnittstelle sind wir als Stiftung, aber auch viele andere, subsidiär tätig. Wenn der Staat Artikel drei ernstnimmt, dann steht er jetzt erst am Anfang der Anstrengung, diesen Grundgedanken umzusetzen. Wir brauchen in Deutschland keinen Patriotismus, der sich über das Nationalkonstrukt herstellt. Wir brauchen einen Patriotismus – wenn man dieses Wort überhaupt verwenden will: eine Art Bindung an den demokratischen Rechtsstaat – über die Verfassung. Und das kann an Artikel drei subsidiär immer wieder durchdekliniert werden. Was in diesem Artikel steht, wird nicht von alleine passieren, sonst bräuchten wir ihn nicht.
Klingt nach einem längerfristiges Projekt?
Verschwörungsideologien kann man nicht kurz abfrühstücken, sondern dagegen aktiv zu werden, bedeutet kontinuierliche Arbeit. Bildungsarbeit, Aufklärungsarbeit – eine Arbeit, die auch etwas mit innerer Sicherheit zu tun hat. Wir sind bereit, mit allem Hirnschmalz den wir haben, diese Arbeit zu leisten. Aber das bedeutet auch, dass der Staat uns dabei unterstützt, wie es in Artikel drei steht. Die Zivilgesellschaft ist kein Bittsteller, sondern auf subsidiäre Weise ein Verfassungsorgan.
Am
Aktiontag gegen Verschwörungsmythen und Antisemitismus
– Freitag, 15.05.2020 –
gibt es um 10 Uhr eine Diskussion auf Facebook live mit Anetta Kahane, Patrick Gensing (ARD-Faktenfinder), Melanie Hermann (Projekt „No World Order – Handeln gegen Verschwörungsideologien und Antisemitismus“) und Johannes Baldauf (Public Policy Manager, Facebook) zum Thema „Wie bedrohen Coronavirus-Verschwörungsmythen die Demokratie – und was können wir tun?“, moderiert von Belltower.News-Chefredakteurin Simone Rafael. Hier können Sie per Kommentarfunktion Fragen stellen.
https://www.facebook.com/AmadeuAntonioStiftung/live/
Eine Aufzeichung des Gesprächs erscheint hinterher auf dem YouTube-Kanal der Stiftung:
https://www.youtube.com/user/AmadeuAntonioFund
Das ganze Programm gibt es hier:
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