Dirk von Lowtzow, als Sänger und Texter der Band Tocotronic ein Mann des Wortes, findet prägnante Worte zur Einschätzung des Problems des Antisemitismus in Deutschland. Er sieht ihn nicht nur in „ostdeutschen Jungmännerbünden oder in schwäbischen islamistischen Zellen“ vertreten. „Gerade auch in so genannten ‚besseren‘ oder auch links sozialisierten Kreisen werden antisemitische Ressentiments gehegt und gepflegt, und wenn man sich ‚unter sich‘ wähnt, auch hemmungslos verlautbart“. Für ihn zählen gesteigerter Nationalismus, Hetze gegen Juden in Deutschland, verschwörungstheoretische Äußerungen über den Nahostkonflikt und „eine gewisse Häme“ zu dem eingangs zitierten Süppchen, von dem von Lowtzow meint „Lasst es uns gemeinsam versalzen.“
Damit fasst der „Tocotronic“-Sänger zusammen, was von verschiedenen Standpunkten auf der Pressekonferenz der Amadeu Antonio Stiftung zum Start der „Aktionswochen gegen Antisemitismus 2009“ betrachtet wird: Dass Antisemitismus nach wie vor ein virulentes Problem in Deutschland ist, gerade, weil er in verschiedensten Kontexten vorkommt.
Claudia Schmid, Leiterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Berlin, berichtet von der wellenförmigen Entwicklung antisemitischer Straf- und Gewalttaten, dass die Zahl der Vorfälle zwar an- und abschwillt, aber nie verschwindet. Sie meint deshalb: „Antisemitismus ist kein Thema nur für Sicherheitsbehörden. Alle gesellschaftlichen Bereiche müssen es kontinuierlich bearbeiten.“ Die Gesellschaft, so führte Schmid aus, müsse sich mit allen Gesichtern des Antisemitismus befassen, ob er in Hinterhofmoscheen, Rechtsrocksongs, als verkürzte Kapitalismuskritik in globalisierungskritischen Strömungen oder am Stammtisch zutage tritt, wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen wird. Verbote und repressive Maßnahmen, sagte Schmid im Hinblick auf den Rechtsextremismus in Berlin, verunsichern die Szene, prächten junge Sympatisanten zum Nachdenken und entzögen so den Ideologen die Basis – die Inhalte müssten aber gesamtgesellschaftlich bearbeitet zu werden.
Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung pflichtete ihr bei – gerade auch in der Frage, ob die Beobachtung von Antisemitismus in muslimisch sozialisierten Communities nicht seinerseits Rassismus schüre: „Für uns gibt es nur ein ‚Auch‘, kein ‚Entweder-Oder'“, so Kahane, „Rassismus und Antisemitimus müssen bearbeitet werden – nicht gegeneinander in Stellung gebracht.“ Ihr geht es auch darum, auf die Gemengelage in Deutschland zu verweisen, in der sich der moderne Antisemitismus entwickelt: „Der nicht aufgearbeitete Antisemitismus in Ostdeutschland trifft auf einen neuen, gesamtdeutschen und globalisierten Antisemitismus, der sich jugendkulturell Bahn bricht und verschwörungstheoretisch nährt.“
Erfahrungen mit Antisemitismus in links-alternativen Zusammenhängen hat Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel selbst erlebt: Verkürzte Kapitalismuskritik verwendet schnell Bilder vom raffenden und schaffenden Kapital, kombiniert mit besitzstandwahrenden Nationalismus gegen die bösen, international agierenden USA oder der Vergleich des Staates Israel mit dem Dritten Reich. „Besonders nervt mich, wenn auch in bürgerlichen Feuilletons immer wieder behauptet wird, es gäbe ein ‚Tabu‘, Isreal zu kritisieren – dabei sind die Zeitungen voll von Israelkritik“, sagt Drohsel. All diese Facetten, findet sie, „muss man immer wieder ansprechen. Auch die globalisierungskritische Bewegung ist kein homogener Raum, da wird um Meinungsführerschaft gerungen. Deshalb braucht es progressive Menschen, die die Auseinandersetzung aufnehmen.“
Einer, der das an der Basis tut, ist Jan Jetter. Der Bildungsreferent aus Hamburg, der auch auf dem „Störungsmelder“ bloggt, arbeitet mit Jugendlichen zum Thema „moderner Antisemitismus“ und nimmt damit auch schon seit Jahren an den Aktionswochen teil, die in diesem Jahr zum fünften Mal stattfinden. „Wenn, wie jüngst in Hamburg geschehen, antiimperialistische Linke die Vorführung eines Filmes verhindern, weil dieser dokumentiert, warum Juden die Existenz Israels wichtig ist, dann muss man darüber sprechen“, sagt Jetter. Ziel seiner Arbeit sei es „den Jugendlichen mit demokratischer Grundeinstellung argumentativ den Rücken zu stärken.“
Die Aktionswochen gegen Antisemitismus finden in 75 Orten mit 231 Veranstaltungen in allen Bundesländern statt. Beteiligte Initiativen setzen sich in Gedenkveranstaltungen, Theater- und Filmaufführungen, Zeitzeugengesprächen und Lesungen mit historischem und aktuellem Antisemitismus auseinander. So wird es beispielsweise vom Sportverein Roter Stern Nordost Berlin e.V. einen Vortrag zu „Antisemitismus im ostdeutschen Fußball“ geben, im ABC Bildungs- und Tagungszentrum e.V. in Drochtersen-Hüll ein Seminar zu „Antisemitismus & Antiamerikanismus in DDR und BRD“, in der Evangelischen Kirche Sterkrade in Oberhausen eine Theateraufführung des Stücks „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ und in Leipzig lädt die „Gruppe Gedenkmarsch“ alle Bürger dazu ein, in Gedenken an die Reichspogromnacht alle Stolpersteine zu putzen.
Die komplette Liste der Veranstaltungen:
| www.aktionswochen-gegen-antisemitismus.de
Die Aktionswochen gehen mit einer Perspektivdiskussion zu Ende. Vertreter der neuen Regierungsparteien diskutieren gemeinsam mit Experten, was im Kampf gegen Antisemitismus zu tun ist. Sie findet am 30. November im Centrum Judaicum statt. Sie wird von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, dem Jüdischen Forum gegen Antisemitismus und der Amadeu Antonio Stiftung ausgerichtet.
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