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Alles nur Verschwörung? Die extrem rechte Telegram-Szene und das Massaker am 7. Oktober

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(Quelle: picture alliance / Sipa USA | Kommersant Photo Agency)

Der Überfall der Hamas auf Israel und die anschließenden Kämpfe im Gazastreifen hatten weltweite Auswirkungen. Die neue Ausgabe des EFBI Digital Reports beleuchtet die Reaktionen der extrem rechten Telegram-Szene in Sachsen auf die Ereignisse vom und nach dem 7. Oktober 2023. Wie wurden der terroristische Angriff der Hamas, die militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte, aber auch die Solidaritätsdemonstrationen mit Palästina eingeordnet und kommentiert? Der Digitalreport 2024-01 besteht aus einem allgemeinen Teil zur Entwicklung der extrem rechten Kanäle und Gruppierungen und vier Beiträgen mit vertiefende Analysen zu Antisemitismus, antimuslimischem Rassismus, Verschwörungsnarrativen und der Bewertung pro-palästinensischer Proteste, die allesamt das Spannungsverhältnis aufzeigen, in dem sich extrem rechte Deutungsversuche des neu entflammten Nahostkonflikts bewegen. Der folgende Text ist einer dieser Hintergrundbeiträge.

Wer davon überzeugt ist, dass sich jenseits der sichtbaren Welt eine große Verschwörung einer kleinen Elite vollzieht, der deutet die meisten Krisenereignisse nach diesem Muster. Insbesondere gehören hierzu Terroranschläge, einschneidende gesellschaftliche Veränderungen oder politisch wirkmächtige Entwicklungen wie beispielsweise der Maidan-Protest 2013 in der Ukraine. Der Verschwörungsglaube wirkt wie ein Rahmen, innerhalb dessen die Ereignisse interpretiert werden.

Am 7. Oktober 2023 überfielen Terroristen der antisemitischen Hamas israelisches Territorium in der Nähe des Gazastreifens und töteten auf grausame Weise knapp 1.200 Menschen. Außerdem wurden bis zu 250 Menschen entführt, von diesen befinden sich immer noch mehr als 100 Menschen in der Gewalt der Terroristen, nicht wenige wurden umgebracht oder starben in den Kampfhandlungen. Israel reagierte auf diesen Angriff, indem es das Land in einen Kriegszustand versetzte. Die israelische Armee begann wenige Tage nach dem Terroranschlag eine weit umfassende Militäroperation im Gazastreifen. Sowohl das Massaker als auch die Antworten des israelischen Militärs führten weltweit zu Reaktionen. In vielen Ländern kam es zu Demonstrationen. Über Social-Media-Plattformen wie Telegram verbreiteten sich allerdings auch schnell zahlreiche Desinformationen und Verschwörungsideologien.

Nichts ist, wie es scheint – Der „Great Reset“

Eine Erzählung lautet beispielsweise, dass es sich bei dem Massaker am 7. Oktober 2023 nicht allein um eine Terroroperation der Hamas gehandelt haben soll, sondern dass alles im Wissen Israels und seiner Verbündeten geschehen sei, um einen Vorwand zu haben, militärisch gegen die Palästinenser*innen vorgehen zu können. Teilweise wurde dieses Narrativ noch erweitert, indem die Ereignisse als Versuch einer im Geheimen agierenden Elite gedeutet wurden, die beabsichtige, einen dritten Weltkrieg zu entfachen60. Das geschilderte Narrativ ist nicht neu: Spätestens seit der Covid-19-Pandemie hat sich unter dem Begriff „Great Reset“ eine Verschwörungsideologie etabliert, der zufolge eine globale Elite, zu der u. a. der Direktor des Weltwirtschaftsforum in Davos, Klaus Schwab, zählen soll, an einem großen Umwälzungsplan für die Welt arbeiten würde. Demnach sei es erklärtes Ziel, die Weltwirtschaft radikal umzubauen und die Nationalstaaten aufzulösen. Profitieren soll von diesen Veränderungen ausschließlich eine im Geheimen agierende Elite.

Der „Große Austausch“ als Grund für Antisemitismus in Deutschland

Mit Blick auf die Ereignisse am 7. Oktober 2023 konnte beobachtet werden, wie einerseits diese Geschehnisse als Teil des „Great Reset“ gedeutet werden. Andererseits wurden die Ereignisse auch im Rahmen einer weiteren Verschwörungsideologie interpretiert. Insbesondere infolge der Solidaritätsproteste mit den Bewohnern des Gazastreifens, die im Kontext der israelischen Militäroperation auch in Deutschland organisiert wurden und die teilweise von Gewalt und antisemitischer Propaganda begleitet waren, wird von extrem rechten Akteur*innen erneut das Narrativ des „Großen Austausch“ bedient. Die auch in der Öffentlichkeit kritisch diskutierten Proteste werden hierbei einseitig als Ausdruck eines „importierten Antisemitismus“ dargestellt. Demnach gebe es nur deswegen eine Gefahr für Juden*Jüdinnen in Deutschland, weil durch den „Großen Austausch“ Migrant*innen nach Deutschland „geholt“ werden. Das stellt aus der Sicht der Antisemitismusforschung ein bekanntes Paradox dar: Eine antisemitische Erzählung dient zur Erklärung des Antisemitismus als solchem.

Verschwörungserzählungen einschlägiger sächsischer Telegram-Kanäle

Im Folgenden wird untersucht, wie (unterschiedlich) einzelne Telegram-Kanäle die verschwörerischen Narative instrumentalisieren. Dazu analysierte das Projekt debunk – Verschwörungstheoretischem Antisemitismus entgegentreten der Amadeu Antonio Stiftung in Sachsen im Zeitraum vom 7. Oktober bis 31. Oktober 2023 die Kanäle (1) Freie Sachsen Hauptkanal, (2) Querdenken351 – öffentlicher Chat, (3) Bewegung Leipzig und (4) Michael Brück. Die Auswahl der Chats erfolgte einerseits aufgrund des Rankings im Digital Report, andererseits wurden die Kanäle auch zu früheren Zeitpunkten durch das Projekt analysiert, beispielsweise im Rahmen der Pandemie-Proteste oder nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs. Die untersuchten Kanäle sind durchaus repräsentativ für das sächsische Protestmilieu, auch wenn kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht.

Der Kanal der Freien Sachsen (mit etwa 150.000 Abonnent*innen) griff das Massaker zunächst mit der Sorge auf, dass sich der Konflikt auf Deutschland übertragen könnte. In Postings wurde mehrfach gegen eine deutsche Unterstützung Israels Position bezogen. Auch eine entsprechende Umfrage unter den Chat-User*innen kam zu einem eindeutigen Ergebnis: 89 Prozent der Respondent*innen sprachen sich dafür aus, dass „dies nicht unser Krieg sei“. Entsprechende Äußerungen deutscher Politiker*innen, die zur Unterstützung Israels aufriefen, wurden kritisch durch die Freien Sachsen kommentiert. Im Untersuchungszeitraum wurde in diesem Kanal vor allem auf zwei Verschwörungsnarrative zurückgegriffen: Mit Blick auf Solidaritätsproteste mit den Palästinenser*innen in Dresden oder anderen sächsischen Städten wurde das Narrativ des „Großen Austausch“ bedient. Mindestens ein Posting in dem Zeitraum stellte aber auch einen Bezug zu einer weiteren Verschwörungsideologie her. Unter dem Aufruf „Lasst euch nicht spalten!“ wurde behauptet, dass eine „Obrigkeit“ immer wieder neue Feindbilder schaffe, die dann die Bevölkerung zu bestimmten Handlungen motivieren soll. Waren dies 2020 noch „Verschwörungstheoretiker“, 2021 „Ungeimpfte“, 2022 „Russen“ sind es nun 2023 „Palästinenser“. Das von den Freien Sachsen verlinkte Bild (Abb. 14) benennt schließlich den wahren Feind: den deutschen Staat. Hier zeigt sich auch symbolisch die staatsdelegitimierende Ideologie der extrem rechten Kleinstpartei. Die Angst vor dem angeblich übergriffigen Staat wurde von den Freien Sachsen schon während Covid-19-Pandemie und nach Beginn des russischen Angriffskrieges bedient. In einem weiteren Post sorgen sich die Freien Sachsen vor den Folgen der von der Politik diskutierten Reform des §130 StGB. Befürchtet wird, dass eine Verschärfung der Vorschriften in Bezug auf antisemitische Inhalte schließlich auch das eigene Milieu treffen könnte. Der §130 StGB wird von extrem rechten Akteur*innen immer wieder angefochten, da dieser auch die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt.

Im Kanal von Querdenken 351 (öffentliche Gruppe; 522 Mitglieder) werden auch das Massaker und seine Folgen aufgegriffen. Die Inhalte stammen allerdings in der Regel nicht direkt von den Autor*innen des Kanals, sondern von anderen verschwörungsideologischen Quellen, wie beispielsweise dem Internetsender Auf1 und seinem Chef-Redakteur Stefan Magnet. Solche verschwörungsideologischen Narrative werden in typischer Querdenken-Manier gern mit dem Wunsch nach Frieden verharmlost: In einem Post sieht man beispielsweise Kinder in den Uniformen der Ukraine und Russlands mit Blumen in der Hand sowie einen Jungen mit Palästinensertuch und ein Mädchen mit Davidstern Arm in Arm68. Mindestens ein Post in dem Kanal greift aber auch die Verschwörungserzählung auf, wonach Israel von den Angriffen gewusst haben soll und diese geschehen ließ, um einen Vorwand für den Militäreinsatz im Gazastreifen zu haben. Ein weiteres Verschwörungsnarrativ, dass von den Querdenker*innen aufgegriffen wird, ist die Behauptung, es gebe eine Art Presse-Kodex, wonach über Israel nur in einem bestimmten Duktus berichtet werden dürfe. Auch hier werden bekannte verschwörungsideologische Quellen, wie der Anti-Spiegel von Thomas Röper verlinkt. Ein weiterer Post behauptet beispielsweise, dass es eine seit Jahrzehnten bestehende Kontrolle der Rockefellers über die internationalen Medien gebe.

Die mit den Dresdner*innen eng vernetzte Gruppe Bewegung Leipzig (2.600 Abonnent*innen) griff den Konflikt interessanterweise nicht in ihren Postings auf. Lediglich allgemeine Inhalte zum Thema „Krieg und Frieden“ ließen sich im Untersuchungszeitraum finden. Bei den Leipziger Ex-Querdenker*innen scheint das Pandemie-Thema nach wie vor zu dominieren. Fast jeder Post thematisierte die von dem Milieu betriebene pseudowissenschaftliche Aufarbeitung der Pandemieereignisse. Das macht auch nochmal deutlich, dass lokal durchaus unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Auch wird hier ersichtlich, dass die Allianz zwischen Querdenker*innen und Rechtsextremen wie den Freien Sachsen abhängig von den jeweils vorherrschenden Themen ist.

Der letzte untersuchte Kanal wird vom extrem rechten Aktivisten der Freien Sachsen, Michael Brück, betrieben (3.300 Abonnent*innen). Dieser greift den Konflikt in mehreren langen Beiträgen auf. Zu Beginn tritt Brück regelrecht in die Fußstapfen eines Berichterstatters. Die Entwicklungen der Tage nach dem Massaker werden zunächst kaum kommentiert oder bewertet. Erst später bietet Brück dazu eigene Meinungen und Deutungen an. Hier zeigte sich eine interessante Parallele zu einer an- deren Größe der extrem rechten Szene: Martin Sellner aus Österreich handelte zu Beginn des Krieges in der Ukraine ähnlich. Möglicherweise wollen extrem Rechte auf diese Weise neue User*innen gewinnen, da sie sich als scheinbar unpolitische Kriegsberichterstatter inszenieren. Die späteren Beiträge von Brück stellen aber die Frage nach der Bedeutung des Konflikts für das extrem rechte Milieu. In einer längeren Ausführung beschreibt Brück die verschiedenen Positionen und wirbt letztendlich für eine „deutsche“ Haltung. Demnach wäre es das Beste, wenn Deutschland weder gegenüber Israel noch gegenüber den Palästinenser*innen Partei ergreift. Brück macht aber keinen Hehl aus seiner persönlichen Haltung. Er unterstützt die Idee eines palästinensischen Staates. An einer Stelle wird auch bei Brück das verschwörungsideologische Denken deutlich. Er sieht die deutsche Regierung nicht als souveräne Führung Deutschlands, sondern als „Vasall“ der USA.

Fazit

Die bereits in der Einleitung genannten Verschwörungsideologien, allen voran die Erzählungen vom „Great Reset“ und vom „Großen Austausch“, dominieren die hier untersuchten Kanäle. Sie erwiesen sich erneut als anpassungsfähige Mastererzählungen. Die Verschwörungserzählung, Israel habe von dem Angriff vorab gewusst und habe diesen bewusst geschehen lassen, wurde hingegen selten verbreitet. Die von Querdenker*innen und der extremen Rechten gemeinsam geteilten Verschwörungsinhalte dienen auch 2023 als Scharnier für gemeinsamen Protest. Eine verbriefte Demo-Allianz und wohl auch eine ideologische Basis besteht mindestens zwischen den Freien Sachsen und Querdenken351. Es zeigte sich aber auch, dass es Unterschiede in der Bewertung des Themas gibt. So griff die Leipziger Nachfolgegruppe von Querdenken, die Bewegung Leipzig, das Thema so gut wie gar nicht auf. Auch waren die Ereignisse des 7. Oktober 2023 nur bei Michael Brück der vorherrschende Inhalt der Postings im Untersuchungszeitraum. Die anderen untersuchten Chats behandelten das Thema entweder nur am Rande oder als eines von mehreren Themen.

Solidarität mit den getöteten oder entführten Juden*Jüdinnen in Israel oder Unterstützung für die Freilassung der Geiseln fanden sich hingegen in keinem der untersuchten Chats. Dies deckt sich mit dem online Austausch im Kontext des Krieges in der Ukraine. Zwar wird dort immer wieder ein Ende des Krieges gefordert, Verständnis für die Position der ukrainischen Menschen, eine Eroberung und Besetzung durch Russland verhindern zu wollen, oder Empathie mit den Opfern des brutalen Überfallkriegs finden sich hingegen nicht.

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