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Amina Aziz „Islamismus lebt vom Leid der Palästinenser*innen“

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Amina Aziz ist Autorin und Journalistin. In Hamburg, Damaskus und Teheran hat sie Islamwissenschaft mit dem Fokus auf islamistische politische Regime in der MENA-Region studiert.

Amina Aziz ist Autorin und Journalistin. In Hamburg, Damaskus und Teheran hat sie Islamwissenschaft mit dem Fokus auf islamistische politische Regime in der MENA-Region studiert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Institutionen hat sie unter anderem zu Dschihadismus gearbeitet. Als Journalistin greift sie das Thema Islamismus immer wieder auf. Wir haben mit ihr über die Verklärung islamistischer Ideologie, Dekolonialität und antimuslimischen Rassismus gesprochen.

Belltower.News: In den Jahren vergangenen Jahren haben Sie die fehlende Solidarität unter Muslim*innen mit iranischen Frauen und Queers kritisiert, die gegen islamistischen und patriarchalen Terror kämpfen und dabei täglich ihr Leben riskieren. Wie erklären Sie diese fehlende Solidarität?
Amina Aziz: In Bezug auf Muslim*innen ist bei einigen eine defensive Haltung zu beobachten. Sie sagen: Nur weil ich Muslim bin, bin ich ja nicht islamistisch. Das stimmt. Aber man verlangt ja keine Distanzierung weil jemand muslimisch ist, sondern weil man gegen Islamismus ist, als Mensch, als Demokrat*in oder als linke Person. Die Frage nach Distanzierung muss auch an die richtigen Adressat*innen erfolgen: Es gibt zum Beispiel Muslim*innen, die auf Social Media das Tagesgeschehen kommentieren. Sie sind angesprochen, sich nachhaltig zu distanzieren. In Bezug auf Linke hat es auch etwas damit zu tun, dass Iran unter einigen Linken einen Ruf hat, antiimperialistisch zu sein, was natürlich Quatsch ist. Gerade Iran agiert ja mit seinem „Export der Revolution“ und den Stellvertreterkriegen und Eingriffen in andere Länder imperialistisch und reaktionär.

Gerade schaut die ganze Welt auf die Eskalationen im Nahen Osten. Welchen Einfluss hat der Iran in den palästinensischen Gebieten?
Iran finanziert und organisiert die Hamas und die Hisbollah und bestimmt Strategien mit. Die Islamische Republik lebt vom Leid der Palästinenser*innen, weil sie sonst ihre Legitimation weitgehend verloren hat. Es hat einen Grund, dass die Hamas jetzt angegriffen hat. In Israel sind hunderttausende Menschen gegen die israelische Regierung auf die Straßen gegangen. Da waren auch viele darunter, die gegen die Siedlungspolitik sind, die gegen Besatzungen sind. Die Hamas hat diesen Prozess gestört. Nicht ohne Grund.

Wie meinen Sie das?
Schon Chomeini hat bei der Gründung der islamischen Republik das Leid der Palästinenser*innen als Legitimation für die eigene Inszenierung als dekolonialer Kämpfer missbraucht und das passiert bis heute. Wenn wir sagen, wir müssen uns von islamistischen Ideologien emanzipieren, dann auch hier wieder nicht, weil jemand Muslim*in ist, sondern weil man durchschaut, dass das für eine Ideologie missbraucht wird, die nicht emanzipatorisch ist, die keine Befreiung bringen wird. Deswegen diskreditiert es jeden, der behauptet, dass diese Organisationen Befreiung bringen könnten. Aber das hängt auch viel damit zusammen, wie sie auftreten.

Nach dem Massaker am 7. Oktober an tausenden israelischen Zivilist*innen waren es teilweise ausgerechnet Feminist*innen und sich als links und progressiv verstehende Aktivist*innen, die offen eine Täter-Opfer Umkehr betrieben haben, während sich zum Beispiel politische Gefangene aus dem Iran ganz klar mit Israelis solidarisiert haben. Wie kann man sich diese Verklärung islamistischer Gewalt erklären?
Die Rezeption dessen, was da passiert ist, ist schief. Das wird als „dekolonialer Befreiungskampf“ verstanden, als ob Dekolonialisierung nicht gegen jede Art von Kolonisation ist, also auch gegen Islamismus und arabischen Nationalismus, die ja Vertreibung, Tod und Leid für andere Minderheiten vor Ort mit sich bringen. Das ist nichts, was man als emanzipatorisch bezeichnen kann. Wir können das Leid der Jüdinnen*Juden, Esid*innen, der Kurd*innen und der anderer nicht einfach ausblenden. Wieder wird die fehlende Verurteilung der Hamas mit Denkern wie Frantz Fanon begründet. Aber das ist nicht richtig. Fanon spricht konkret von sich gegenüberstehenden antagonistischen Kräften. Das ist hier nicht gegeben. Es zeugt davon, dass man sich mit Islamismus als Ideologie nicht so weit auseinandergesetzt hat, als dass man es als koloniale Kraft erkennt. Offenbar fehlt es Linken auch an der Formulierung eigener Ziele in diesem Kontext. Wofür steht „Free Palestine“ zum Beispiel? Das ist völlig unklar. Islamisten rufen das genauso wie vermeintliche Linke.

Die Muslimbruderschaft hat sich in ihren Anfängen zumindest als eine Bewegung gegen westlichen Kolonialismus und den Kapitalismus verstanden. Gleichzeitig liefern islamistische Bewegungen wie Sie sagen menschenfeindliche und autoritäre Antworten auf moderne Krisenerscheinungen.
Ja, islamistische Bewegungen sind in der Zeit des Kolonialismus und Neo-Kolonialismus entstanden, einige Länder standen teils unter Kontrolle westlicher Mächte, vor allem, was ihre Ressourcen angeht. Die Briten und andere haben ihre Interessen in Ägypten, wo sich die Muslimbruderschaft 1928 gründete, aus der Jahrzehnte später die Hamas hervorging, bis in die 1950er Jahre hinein gewaltvoll durchsetzen wollen. Es war leicht, sich als dekoloniale Kämpfer zu inszenieren. Dabei ist Islamismus ja das Gegenteil von Dekolonisierung, weil das Ziel die Durchsetzung des Islams als Staatsreligion ist, die immer mit Gewalt, Zwang, Vertreibung und Unterdrückung einhergeht. Islamismus bringt für Niemanden die Befreiung und beinhaltet selbst einen kolonialistischen Machtanspruch.

Islamismus bedeutet nicht zuletzt auch die Unterdrückung von queeren Menschen.
Ja, wenn queere Menschen vor Islamismus flüchten, sollten hier erst Recht Bewegungen und Strukturen dagegen aussprechen und offensiv für die Gleichstellung aller Geschlechter usw. einstehen, was nicht passiert. Die Annahme, dass das, was die Hamas am 7. Oktober getan hat, irgendetwas mit einem “Befreiungsschlag” zu tun hat und man sich deswegen mit Islamist*innen gemein macht, ist eine antisemitische Verklärung.

Historisch ist die Ideologie der Nationalsozialisten bei islamistischen Bewegungen auf große Begeisterung und Sympathie gestoßen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Nazis und islamistischen Bewegungen wie der Muslimbruderschaft oder der Hamas?
Der gemeinsame Nenner ist Antisemitismus. Nach dem Anschlag der Hamas waren es Neonazis, die gegen Israel und Jüdinnen*Juden auf die Straße gehen wollten. In Deutschland fand bis zum Verbot jahrelang der al-Quds-Tag statt. In Iran werden regelmäßig Neonazis dazu eingeladen.

Nach islamistischen Gewalttaten heißt es schnell, dass das nichts mit dem Islam zu tun habe, wie sehen Sie das?
Islamistische Gewalt hat selbstverständlich was mit dem Islam zutun, weil sie sich daraus speist. Evangelikale Ideologie hat ja auch etwas mit dem Christentum zu tun. Jetzt gilt es zu differenzieren, dass es Islamist*innen sind, die diese gewaltvolle Ideologie verfolgen und selbstverständlich bei weitem nicht alle Muslim*innen. Deswegen müssen sich auch nicht alle Muslim*innen davon distanzieren, so wie sich nicht alle Christ*innen von Evangelikalen distanzieren müssen.

Reproduziert Rechtfertigungsdruck nicht auch Rassismus?
Der Aufruf zur Distanzierung kann durchaus rassistisch sein, wenn er sich speziell immer und immer wieder an Muslim*innen oder Araber*innen pauschal richtet, weil sie dann zurecht sagen, dass sie damit nichts zu tun haben. Und gleichzeitig haben wir alle etwas damit zu tun. Wir alle haben die Aufgabe, dass jüdische Menschen sich in Deutschland sicher fühlen. Wenn man aufzeigen möchte, dass Islamismus nichts mit „dem Islam” oder einem selbst zu tun hat, dann muss in deiner Arbeit sichtbar sein, dass du eine Distanz dazu hast. Gleichzeitig ist nicht zu unterschätzen, dass der Kampf gegen Antisemitismus unglaubwürdig ist, wenn das Problem ständig auf rassifizierte Menschen ausgelagert wird. Derzeit wird rassistische Politik gemacht und ein Bild von Muslim*innen verbreitet, dass ihre Abschiebung und Diskriminierung rechtfertigt.

Aber eine klare Positionierung gegen Islamismus fehlt Ihrer Meinung nach oft trotzdem?
Nicht jede*r muss sich positionieren, aber diejenigen, die aktiv sind, die in den Vordergrund treten, die müssen sich durch ihre Worte und Taten von Islamisten*innen und anderen Antisemit*innen unterscheiden. Da wehrt man sich lieber gegen die Aufforderung zur Distanzierung, als eigene linke Leitlinien und Ziele zu formulieren, aus denen hervorgeht, dass man nicht antisemitisch ist. Man bedient sich auch islamistischer Narrative, wenn ständig das Leid der einen Seite betont wird.

Inwiefern?
Seit Islamismus vom digitalen Zeitalter profitiert, lebt er von den Bildern von diesem Leid. Ich sage nicht, dass man das nicht sehen sollte. Es ist wichtig, dass bekannt ist, was zum Beispiel in Gaza eigentlich passiert. Aber es gibt ein Ungleichgewicht in der Verbreitung, wie jüdische und israelische Menschen sich in dieser Situation fühlen, was sie erleben. Auch das ist antisemitisch. Es stimmt zwar, dass es in Deutschland schwierig ist, sich pro-palästinensisch zu äußern, wie wir an den pauschalen Demoverboten gesehen haben. Und es stimmt auch, dass Betroffenen Palästinenser*innen oder auch Libanes*innen zum Beispiel zu wenig zugehört wird. Gleichzeitig wird von keiner pro-palästinensischen Bewegung gezeigt, was sie konkret gegen Antisemitismus unternimmt, sodass alle jüdischen Menschen sich hier sicher fühlen.

Es gibt in Gaza durchaus auch Widerstand gegen die Hamas, warum wird das hier so selten sichtbar?
Die Berichterstattung ist undifferenziert. Wenn ich mit Jugendlichen in Deutschland darüber spreche, ist denen meist gar nicht bekannt, dass Palästinenser*innen vor Ort gegen die Hamas auf die Straße gegangen sind. Meistens sind es englischsprachige Medien, die darüber berichten. Dass das in Deutschland nicht passiert, hängt auch mit einer Art rassistischer Berichterstattung über die Region zusammen, die eine Differenzierung nicht sehen möchte. Dadurch werden Menschen teils als Terrorist*innen oder Terror- Sympathisant*innen homogenisiert, was rassistisch ist.

Bei dem Massaker am 7. Oktober wurden auch muslimische Menschen Opfer der Hamas. Generell sind Muslim*innen mit am stärksten von islamistischer Gewalt bedroht. Warum wird das verharmlost oder ausgeklammert?
Wenn es nicht in die eigene Ideologie passt, spart man es eben aus. Schade ist, dass sich Linke oder andere pro-palästinensische Gruppen nicht auf emanzipatorische Bewegungen vor Ort beziehen und schauen, wie sie damit umgehen. Es gibt Zusammenarbeiten zwischen palästinensischen/muslimischen und jüdischen/israelischen Frauen zum Beispiel, die sich kritisch mit Begriffen wie “Apartheidsstaat” auseinandersetzen. Oder Marokko hat zum Beispiel eine starke feministische Bewegung, ähnlich wie der Libanon. Wie verhält man sich hier dazu? So gut wie gar nicht. Selbstverständlich wollen Islamist*innen und arabische Nationalist*innen nicht, dass das breit aufgegriffen wird, weil das Erinnerungen an die arabische Revolution 2011/2012 wecken könnte. Wenn es um die Verharmlosung geht, muss man sich die Gründe genau anschauen: Einige glauben, dass jedes Mittel gegen die Besatzungspolitik recht ist, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Wir werden alle mehr oder weniger antisemitisch sozialisiert und es ist nicht so, als ob in den Schulen viel Wissen dazu vermittelt würde. Von Aktivist*innen aber können wir Differenzierungen verlangen.

Wie Sie schon angesprochen haben, wurde die aktuelle politische Lage schnell dafür genutzt, antimuslimische Hetze zu befeuern und rassistische Ressentiments zu schüren.
Dass Deutschland weniger ein Problem damit hat, dass weiß-deutsche Nazis mit antisemitischen Parolen auf den Straßen laufen, haben wir spätestens bei den Corona-Demonstrationen gesehen. Das dient natürlich auch rassistischen Politiken, wenn man damit begründen kann, Menschen abzuschieben oder sie gar nicht erst aufzunehmen. Auch darauf darf man als Linke oder als Demokrat*in nicht reinfallen. Antisemitismus hat in Deutschland eine sehr lange Tradition und diesen zu externalisieren, kommt nicht dem Kampf gegen Antisemitismus zu Gute, sondern ist gefährlich, da es dem Rassismus und Populismus von rechten Bewegungen in Deutschland und Europa dient und dem Kampf gegen Antisemitismus in seiner Gänze nicht gerecht wird. Es herrscht ein völliges Ungleichgewicht in der Akzeptanz von Antisemitismus und das lässt sich nur mit Rassismus begründen.

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