Der Rat für Migration ist ein bundesweiter Zusammenschluss von rund 80 Wissenschaftler_innen, der Debatten über Migration, Integration und Asyl kritisch begleitet. Auf einer Pressekonferenz in Berlin stellten der Vorsitzende Werner Schiffauer (Professur für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina), Andreas Zick (Konfliktforscher und Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld) und Naika Foroutan (stellv. Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und Soziologin an der Humboldt Universität zu Berlin) ihre Erkenntnisse angesichts der „Pegida“-Demonstrationen vor.
Soll man Pegida ernst nehmen?
Ja, meint Professor Werner Schiffauer: Nicht Pegida als Gruppe, aber als Ausdruck einer grundsätzlichen demokratiefeindlichen, rassistischen, vorurteilsbeladenen Einstellung, die rund 25 Prozent der Deutschen teilen. Beim Thema Zuwanderung zeige sich ein Graben in der Gesellschaft, zu dem die politische Kultur Stellung nehmen muss. Der falscheste Umgang sei aber ein Einschwenken auf deren Ideen, so Schiffauer: „Die Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaats ist seit mindesten 30 Jahren nicht mehr zeitgemäß und auch nur mit Gewalt durchsetzbar.“
Professor Andreas Zick weist darauf hin, dass die Ressentiments der „Pegidas“ kein Ausdruck von Angst, sondern nur von Vorurteilen sei. Sie haben Zweifel an der Funktionsweise der Demokratie und zeigen Islamfeindlichkeit, die nicht in der Wirklichkeit zu Hause sind. Sie sind aggressiv, abwertend und destruktiv – aber weit verbreitet. So stellte Zick in verschiedenen Studien im Jahr 2014 fest, das etwa 42 Prozent der Befragten meinten, Flüchtlinge würden in ihrer Heimat nicht wirklich verfolgt. Das Problem an Vorurteilen sei aber, das sie durch Fakten kaum zu entkräften sind. Statt Argumente gegen Pegida-Propaganda zu suchen, heiße die eigentliche Aufgabe, das Konzept Vielfalt und Integration strukturell besser zu vermitteln – etwa durch Verankerung in Bildungskonzepte. Antworten auf die Schnelle gäbe es leider keine, nur ein grundsätzlicher Ansatz, der Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien umfasse, sei erfolgsversprechend.
Wer sind die Pegida-Sympathisant_innen?
Grundsätzlich haben Menschen, die rechtspopulistischen „Pegida“-Einstellungen zustimmen (Islamfeindlichkeit, Demokratiefeindlichkeit, Etabliertenvorrechte etc.) und die die Einstellungsforschung schon länger beobachtet, eine autoritäre Orientierung. Sie wünschen sich einen starken Staat und Kontrolle und eine homogene Volksgemeinschaft, streben nach Zugehörigkeit, fühlen sich aber andererseits nicht in die aktuelle Gesellschaft eingebunden. Dies allerdings eher auf einer abstrakten Ebene – 18 Prozent etwa sehen Deutschland gefährlich überfremdet, aber nur 9 Prozent fallen dazu Beispiele aus ihrem Alltag ein.
Spaltet Pegida die Gesellschaft?
Pegida macht eine Spaltung beim Thema Zuwanderung sichtbar, die auch vorher schon da war, betonen die Professoren Schiffauer und Zick. Sie zeigt sich etwa, wenn sich 36 Prozent der Befragten eine stärkere Willkommenskultur in Deutschland wünschen – und rund 31 Prozent sich weniger Willkommenskultur wünschen. Oder wenn sich 47 Prozent für Vielfalt aussprechen, 25 Prozent aber dagegen. Oder wenn 45 Prozent es gut finden, dass sich viele Migranten in Deutschland zu Hause fühlen – aber es zugleich 35 Prozent nicht gefällt, dass sich viele Migranten für Deutschland als Heimat entscheiden. Wenn es zu „Pegida“-Demonstrationen und Gegendemonstrationen kommt, wird der gesellschaftliche Graben sichtbar. Dabei, so betonen die Wissenschaftler_innen, seien Gegendemonstrationen ausgesprochen notwendig, auch wenn sie polarisieren. „Aktuell geht es uns als Gesellschaft gut“, so Zick, „da gibt es genug Energie, um auf die Straße zu gehen. Deshalb passiert es auch.“ Er betont, dass die erfolgreichsten Gegendemonstrationen in Städten waren, die eine lange Geschichte der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus haben: „Dort hat sich eine zivilgesellschaftliche Kultur entwickelt, die einen starken Widerstand für Vielfalt und gegen Rassismus ermöglicht.“
Wohin führen Diskussionen um nützliche und weniger nützliche Migrant_innen?
Scheinbar rationale Kosten-Nutzen-Kalküle bei der Diskussion um Migration führt, so Andreas Zick, zu „marktförmigem Extremismus“: Wer meint, dass nur bleiben darf, wer „nützlich“ für die Gesellschaft ist, fördert Vorurteile. „Das ist wie eine moderne Sklavenmarkt-Einstellung“, sagt Zick, „wenn argumentiert wird: Bleiben darf, wer uns was nutzt.“
Geht Deutschland auch ohne Migration?
Es ist eine Illusion zu meinen, Migration ließe sich durch Grenzziehungsprozesse steuern oder auch nur kanalisieren, sagt Professor Schiffauer, immerhin seien aktuell so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Statt also Migration durch Grenzen und Abgrenzung reaktiv zu bearbeiten, täte es der Gesellschaft besser, aktiv nach Integration und einer Identifikationslösung für alle Mitglieder einer Gesellschaft zu suchen. Schiffauer nennt es ein „republikanisches Nationalbewusstsein“, differenzbejahend und integrativ – ein positives Verhältnis zur Heterogenität, wie es in vielen deutschen Großstädten bereits gelebt wird. Die These, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“, sei kontrafaktisch und kontraempirisch.
Wie Zusammenleben gestalten?
An Orten, an denen es Migration gibt, funktioniert die Akzeptanz von Pluralität hervorragend – nun braucht es Konzepte, diese Idee auch in Orte zu tragen, die noch nicht die Erfahrung machen konnten, dass Vielfalt gut ist. Dafür fordert der Rat für Migration ein neues Leitbild für Deutschland, wie es etwa nach dem 2. Weltkrieg der Satz war „Nie mehr soll ein Krieg von deutschem Boden ausgehen.“ oder zur Wendezeit „Wir sind das Volk“. Heute trage die Politik immer noch das schon immer falsche Leitbild „Wir sind keine Einwanderungsgesellschaft“ vor sich her, statt ein integrierendes Motto für alle zu entwicklen, wie es etwa in den USA oder Kanada üblich ist („Unity in Diversity“ oder ähnliches). Dies solle eine Kommission entwickeln, die idealerweise bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung angesiedelt sei und Vertreter_innen verschiedenster Gruppierungen enthalten sollte. Idealerweise sollen so andere Bilder im Kopf entstehen – und das Fünfziger-Jahre-Ideal eines ethnisch homogenen Nationalstaats überwunden werden. Wichtig, so ergänzt Andreas Zick, ist die Auseinandersetzung mit Phänomenen wie „Pegida“: „Noch haben wir keine Bewegung für die Integrationsgesellschaft. Außerdem sind das keine bemitleidenswerten Menschen mit Abstiegsängsten – nein, die „Pegida“-Sympathisant_innen stellen sogar deren Legitimität in Frage.“ Deshalb sie die Förderung von Gruppen, die für Integration arbeiten, wie die Förderung von Wertschätzung und Teilhabe enorm wichtig. Eine Politik der Inklusion, nicht der Abgrenzung. Wichtig sei auch das Bewusstsein, dass Integration nicht allein die Aufgabe von Migrant_innen, sondern der ganzen Gesellschaft sei – und andererseits auch die Vorbereitung von Menschen, bevor sie erstmals mit Migration in Kontakt kommen, etwa durch Flüchtlinge oder Roma.
Wer muss in was intergriert werden?
Menschen in Deutschland haben viele positive nationale Bezugspunkte, erforschte Dr. Foroutan von der Humbold-Universität Berlin – und zwar sowohl Deutsche mit als auch ohne Migrationshintergrund. Allerdings gibt es viele ausschließende Diskurse, wer zur deutschen Gesellschaft gehören darf. So finden 40 Prozent, ein Deutscher müsse deutsche Vorfahren haben, 40 Prozent finden, akzentfrei Deutsch zu sprechen sei ein wichtiges Kriterium und weitere 40 Prozent finden, wer ein Kopftuch trägt, könne nicht deutsch sein. Gerade Muslime würden aus der „deutschen Narrative“ ausgeschlossen, so Foroutan, ein Wir-Ihr-Bild konstruiert. Das zeigt sich etwa auch, wenn etwa 70 Prozent der Befragten finden, Muslime müssten Anerkennung erfahren – bei konkreten Forderungen die Zustimmungen aber sehr viel geringer ausfallen. „Es ist die Haltung: Anerkennung ja – konkret aber nicht hier. Oder Vielfalt ja – aber ohne Muslime, Roma und Flüchtlinge“, so Foroutan. Auffällig sei, dass die Zahl der 5 Prozent Muslime, die in Deutschland wohnen, meist deutlich überschätzt wird – was mit Bedrohungsgedanken korrespondiert. „Hier gibt es ein Lerndefizit in der postmigrantischen Gesellschaft“, so Fouroutan. Andererseits, stellt Andreas Zick fest, gibt es auch einen Mangel an Identifikationsangebot für viele, der sich auch in fehlenden Wörter für Alteingesessene und Zugezogene im Deutschen ausdrückt. Foroutan ergänzt: Aktuell gäbe es gar ein stärkeres Identifikationsdefizit bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund: „Vielleicht brauchen wir Intergrationskurse für die Pegida-Teilnehmer, die sie die Einwanderungsgesellschaft lehren?“
Verschwindet „Pegida“ wieder?
Wenn „Pegida“ auch eines Tages wieder von den Straßen verschwindet – die Mentalität dahinter tut es nicht, betonten die Wissenschaftler_innen. Pluralität bedeute Arbeit, „Pegida“ suggeriere dagegen einfache Antworten, die aber nur von tatsächlichen Problemen ablenken. „Pegida ist einfach, ein radikales Flanieren, ohne sich genau auf Ziele festlegen zu müssen, da machen viele gern mit“, so Andreas Zick. Ob „Pegida“ als Bewegung bleibe, entscheide sich mit der Frage, ob die Macher eine Organisation hinbekommen, wie etwas die Anbindung an eine Partei wie die AfD. Zick meint: „Interessanter ist doch die Frage: Wie stark ist unser Gegenmodell? Haben wir überhaupt eines, mit Integrationspotenzial für alle?“
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