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Angriff vor Erfurter Staatskanzlei Prozessauftakt gegen rechtsextreme Rädelsführer

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Vor dem Landgericht müssen sich seit Donnerstag die mutmaßlichen Rädelsführer wegen des Angriffs vor der Staatsanwaltschaft im Sommer 2020 verantworten
Vor dem Landgericht müssen sich seit Donnerstag die mutmaßlichen Rädelsführer wegen des Angriffs vor der Staatsanwaltschaft im Sommer 2020 verantworten (Quelle: Thilo Manemann)

Mehr als zwanzig Minuten dauert es, bis die Staatsanwaltschaft ihre Anklage vorgetragen hat. Es ist die Beschreibung einer enthemmten Gewaltorgie: Fußtritte in den Rücken, dutzende Faustschläge, die auch dann nicht stoppen, wenn die Menschen bereits bewusstlos auf dem Boden liegen. Die Staatsanwaltschaft sieht die fünf Angeklagten als Rädelsführer des brutalen Angriffs vor der Erfurter Staatskanzlei im Juli 2020. Diese müssen sich jetzt unter anderem wegen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte vor dem Landgericht in Erfurt verantworten. Teilgeständnisse wurden aus zeitlichen Gründen bisher von vier Angeklagten abgegeben.

Mehr als zwei Jahre ist es her, dass ein Dutzend junger Männer vor der Staatskanzlei eine Menschenansammlung angriff und 14 Menschen dabei verletzte, einige davon schwer. Die Betroffenen sind auch heute noch schwer gezeichnet. Körperliche Einschränkungen und posttraumatische Belastungsstörungen gehören seitdem zum Alltag.

Tatmotivation: unerkannt

Bei den bisherigen Prozessen gegen die Täter hat das Gericht keine Anhaltspunkte für die Tatmotivation sehen können. Der jetzige Prozess gegen die fünf Beschuldigten könnte das unter Umständen ändern. Sie sind teilweise einschlägig vorbestraft und haben eine Vergangenheit in der gewaltbereiten Neonazi-Szene.

Ein großer Teil der Angeklagten ist bereits seit Jahren als Teil der „extrem rechten Szene mit Anknüpfung an ein rechtes Hooligan-Milieu bekannt“, so Romy Arnold, Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (mobit), gegenüber Belltower.News. Zudem lässt „deren mehrfache Teilnahme an gewalttätigen Übergriffen auf politische Gegner zumindest die Annahme zu, dass Gewalt fester Bestandteil ihres Aktionsrepertoires ist und dies im Kontext ihrer ideologischen Prägung stattfindet.“ Gewalt sei ein zentraler Bestandteil extrem rechter Ideologie. Die Beschuldigten, die sich vor Gericht zu der Tat äußern und ihre Tatbeteiligung einräumen, bestreiten auf Nachfrage des Richters, dass ihre politische Gesinnung ein Motiv gewesen sei.

Mitglied in Erfurter Kampfsportstudio?

Dass Kampfsport zumindest eine Rolle im Leben eines Angeklagten spielt, lassen Informationen vermuten, die Belltower.News vorliegen. Ein privater Social-Media-Beitrag, den Philippe A. mit den Worten „Zielstrebig ins neue Jahr“ postet, zeigt eine Aufnahme aus dem Kampfsportstudio „La Familia“ in Erfurt.

„La Familia“ bestätigt gegenüber Belltower.News die Mitgliedschaft A.s im Verein. Er sei zum Zeitpunkt der Tat noch kein Mitglied gewesen, heißt es in einer Stellungnahme. Man sei allerdings bereits zu Beginn des letzten Jahres von einem Mitglied über die politische Vergangenheit und Aktivitäten von A. in Kenntnis gesetzt worden. A. habe sich dem Vorstand gegenüber von seiner rechtsextremen Vergangenheit distanziert. Man habe ihm gegenüber aber auch deutlich gemacht, dass ein Vereinsausschluss jederzeit infrage komme, sobald sich herausstelle, dass A. weiterhin Teil gewalttätiger und antidemokratischer Szenen sei. Zudem versicherte der Verein, den Prozess genau zu verfolgen.

Nach Informationen von Belltower.News soll der Angeklagte Philippe A. in einem Erfurter Kampfsportzentrum trainieren (Quelle: Thilo Manemann)

Ezra, eine Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, übt schwere Kritik an der bisherigen gerichtlichen Aufarbeitung: „Dass bei einem solch brutalen Gewaltexzess, wie er vor der Thüringer Staatskanzlei passierte, ein mögliches rechtes Tatmotiv nicht viel vehementer thematisiert und untersucht wird, ist für uns als spezialisierte Beratungsstelle nicht nachvollziehbar“, so Theresa Lauß in einer Pressemitteilung der Organisation. Sie fordert, dass das Gericht bei dem letzten Prozess die Gelegenheit nutzt, um das Tatmotiv zu erläutern und bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Milde Urteile

Insgesamt wurden 15 Tatverdächtige angeklagt. Sieben Täter sind bereits verurteilt. Das Verfahren gegen einen wurde eingestellt, ein weiterer wurde freigesprochen, weil ihm keine richtige Tathandlung nachgewiesen werden konnte. Während ein Täter zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt wurde, sorgten sechs weitere Urteile gegen teilweise Minderjährige in der Vergangenheit für Kritik. Die Verurteilten wurden lediglich verwarnt und zu einem Anti-Gewalttraining verpflichtet. Lediglich in zwei Fällen wurde eine Zahlung von Schmerzensgeld verhängt.

Bisher sind elf Prozesstage vom Gericht angesetzt. Mit einem Urteil ist frühestens ab März 2023 zu rechnen.

Update 12.01.2023: Dieser Artikel wurde mit einer Stellungnahme des Kampfsportvereins „La Familia“ aktualisiert.

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