Die Nationenbildung von Deutschland ist mit dem Selbstverständnis eine Kulturnation zu sein, untrennbar verknüpft. Noch bevor die Nation politisch durchgesetzt war, half die Kultur das Gefühl einer deutschen Volksidentität vorzubereiten. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Staaten, die sich primär über Politik definierten, (wie etwa die Franzosen seit der französischen Revolution), sollte den Deutschen eine identitätsstiftende Kunst den Weg zur politischen Einheit bereiten. Nicht umsonst ist am Giebel der Alten Nationalgalerie in Berlin die patriotische Aufschrift „Der deutschen Kunst“ angebracht. „Im Kunstwerk werden wir Eins sein“, schrieb Richard Wagner, dessen Weltbild im Antimodernismus und Nationalismus des Deutschen Kaiserreichs verankert war. Er brachte damit die tiefe Sehnsucht nach nationaler Einheit, die über die Kunst geschmiedet werden sollte, auf eine Formel. Die deutsche Kunst war schon politisch gebunden, als noch keiner an Begriffe wie „politische Kunst“ dachte. Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Moderne geriet eine konservative Kunstauffassung zunehmend ins Abseits. Ihre Vertreter verstanden sich als Bewahrer einer genuin deutschen Identität, obwohl eine homogene deutsche Kunst schon damals ein Phantasma war. Bis heute berufen sich Akteur*innen aller möglichen politischen Lager auf diese deutsche Kunsttradition und kämpfen für ihren Schutz. Gerade in Zeiten von Fortschritt und Veränderung verstärkt sich dieser Kulturkampf, der einen erwarteten Kulturverlust abwenden will.
Antimoderne Kontinuitäten: Traditionslinien der deutschen Kunst
So entfachte 1911 der sogenannte „Protest der deutschen Künstler“ den Bremer Kunststreit. Der Maler und Initiator des Protestes Carl Vinnen warnte vor einem Stilverfall der deutschen Kunst durch eine angebliche „Invasion der französischen Kunst“. Vinnen und seine Unterstützer sahen darüberhinaus die deutschen Künstler als Opfer von Spekulationen am Kunstmarkt und kämpften gegen den Ankauf ausländischer Kunst durch deutsche Institutionen. Der Protest richtete sich gegen die Effekte reformorientierter Kräfte in Politik und Kultur, gegen die Moderne und ihre Kunst. Er hatte aber keinen durchschlagenden Erfolg. Die progressiven Teile der Künstlerinnen und Künstler in Deutschland formierten sich rasch und wehrten sich erfolgreich gegen Vinnens Protest. Rückblickend erscheint der „Bremer Kunststreit“ als eine erste folgenschwere Konfrontation einer „deutschen Kunst“ mit den Vertreterinnen und Vertretern einer modernen Kunst- und Weltauffassung. Dieser Kulturkampf fand später seinen absoluten Tiefpunkt in der Instrumentalisierung der Kunst durch die Nationalsozialisten. Ihre Idee von einer nationalsozialistischen Kunst stand jedoch zunächst vor einem Definitionsproblem. Während Joseph Goebbels Künstler wie Emil Nolde und damit einen „nordischen Expressionismus“ als Prototypen des völkischen Künstlers etablieren wollte, rechnete Hitler in seiner „Kunstrede“ von 1935 mit der Kunst der Moderne ab, da sie seiner Auffassung nach nicht das nationalsozialistische Menschenbild repräsentierte. Die „Große Deutsche Kunstausstellung“ von 1937 zeigte eine Kunst, die als vermeintlicher Beweis für die kulturelle Überlegenheit der Deutschen dienen sollte. Zeitgleich wurden ihr Werke der Moderne von Künstlern, die menschlich und künstlerisch als minderwertig galten, in der Ausstellung „Entartete Kunst” entgegengestellt. Die Rassenideologie der Nazis war ohne die Behauptung einer überlegenen Kultur nicht möglich. Die Nationalsozialisten konnten dabei auf ein Kulturbürgertum zurückgreifen, das bereits von der Überlegenheit der deutschen Kulturnation überzeugt war. Nicht zuletzt war der gesellschaftlich tief verwurzelte Antisemitismus Ausdruck dieses Überlegenheitsgefühls. Der deutsche Mythos von der Kultur als Basis nationaler und völkischer Identität wurde zum Mythos einer immer währenden deutschen Kultur, die von den Nazis unter dem Begriff der Rasse zusammengefasst wurde. Die nationalsozialistische Kunst sollte genauso einem Ewigkeitsanspruch gerecht werden, wie das nationalsozialistische Deutschland selbst.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in beiden deutschen Staaten ein Neubeginn postuliert, der sich an den Kunst- und Kulturvorstellungen der Siegermächte orientierte. In der DDR musste seit den 1950er Jahren, als Resultat des „Formalismusstreits“, die Kunst der „Marschrichtung des politischen Kampfes folgen“. Im DDR Jugendlexikon stand noch 1968: „Die Formalisten (…) zerstören unter dem Vorwand der künstlerischen Freiheit willkürlich die Zusammenhänge und tatsächlichen Erscheinungsformen der Wirklichkeit (und) vor allem das humanistische Menschenbild“. Die Abgrenzung zum westlichen, also vermeintlich dekadenten Kunstbetrieb war das oberste Ziel der Kulturpolitik, welches die Möglichkeit der Kunstfreiheit begrub. Die Kunst wurde auf Linie gebracht und zensiert. Gleichzeitig sollte sie – nach Aussen und Innen – das Bild einer weltoffenen sozialistischen Kulturnation vermitteln. In der Bundesrepublik konnten die Künstlerinnen und Künstler und mit ihnen die Kunstinstitutionen von einem westlichen Kunstbegriff profitieren, der die Freiheit der Kunst auch real unter einen besonderen Schutz stellte. Die Rehabilitierung der sogenannten „entarteten Kunst“ wurde zur wichtigen Aufgabe des Neubeginns nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Dieser Neubeginn wurde aber gleichzeitig auch zu einem Entlastungsargument für individuelle und persönliche Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus, die es natürlich auch im Kunstfeld gegeben hat. Beispielhaft zeigte sich an der Ausstellung „Emil Nolde – Der Künstler im Nationalsozialismus“ von 2019, dass der sogenannte Neubeginn, ein kontinuierlicher und nicht abzuschließender Prozess ist. Nolde war überzeugter Nazi und Antisemit und warb noch zu Kriegszeiten für seine Akzeptanz bei den Nazis. Später bereinigte er seine Autobiografie um rassistische und antisemitische Bekenntnisse. Die Ausstellung brach mit der Schutzbehauptung der inneren Emigration Noldes, die auch massgeblich von Werner Haftmann mit geprägt wurde. Der Kunsthistoriker Haftmann war für die Thesenfindung der ersten Ausgaben der documenta zentral verantwortlich und für den dort gezeigten ersten Überblick über die Klassische Moderne. Ein Dokument, das Haftmanns NSDAP Mitgliedschaft belegt, gelangte erst 2019 an die breite Öffentlichkeit.
In den Kunst- und Kulturszenen beider deutschen Staaten, spielte der antiimperialistische Kampf eine zentrale Rolle und fand seine Feindbilder in Amerika und dem Zionismus. In der DDR war dieser Kampf Teil der Staatsraison – in der Bundesrepublik gehörte er zum guten Ton einer sich als vornehmlich links verortenden Akademikerschaft. Auch heute gilt vielen der Internationalismus der Moderne als verdeckte Dominanz der USA. Eine Projektion auf einen vermeintlich authentischen Osten, dient ihnen zur Identitfikation und als Gegenbild zu einer komplexen, modernen Welt. Der Osten ist dabei nicht als Synonym für die DDR zu verstehen. Vielmehr ruft er typische antimoderne Elemente, wie Authentizität, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit auf. Exemplarisch kann man dies an Joseph Beuys’ Idealisierung des sogenannten „Ostmenschen“ nachzeichnen. In ihm sah er einen Gegenentwurf zu den Zivilisations- und Marktzwängen des modernen Westens. Seinen ideologisch aufgeladenen Naturglauben leitete Beuys von der eklektischen, mit Antisemitismus und Rassismus gespickten Lehre Rudolf Steiners ab. Mit dem Rentner und ehemaligen SS-Mann und NSDAP-Mitglied Karl Fastabend gründete Beuys die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“. „(…) Was sich in den ‚politischen‘ Programmen und Verlautbarungen von Beuys zunächst als ‚links‘, sozialistisch, friedensbewegt und egalitär ausnimmt, findet sich nahezu identisch bei Rechtsextremen“ schlussfolgert der Beuys-Biograf Hans Peter Riegel.
Unter anderen Vorzeichen ist dieses Ost-Denken auch heute im Kunstfeld lebendig. Das zeigten die Proteste vieler Künstlerinnen und Künstler gegen die Ernennung des belgischen Kurators und Theaterwissenschaftlers Chris Dercon, als Intendant der Berliner Volksbühne. Es war damals nicht der über Jahre gepflegte autoritäre Führungsstil, oder das homogene Ensemble an der Volksbühne, das die Hausbesetzung der Volksbühne rechtfertigen sollte. Vielen Besetzerinnen und Besetzern galt die Volksbühne sogar als letzte authentische Kulturstätte Deutschlands, die sich über den kulturell homogenen Osten retten konnte. So ist die Volksbühne im Zuge der Proteste zu einem kulturellen Symbol des Widerstands gegen den internationalisierten Kulturbetrieb geworden und wird aktuell als Kulisse für die sogenannten „Hygienedemos“ instrumentalisiert. Organisiert werden diese Proteste von einem radikalen Teil der ehemaligen Volksbühnenbesetzer, der sich “Demokratischer Widerstand” nennt. In ihrem Widerstand gegen die Kontaktbeschränkungen während der Covod-19 Pandemie, finden sie sich mit besorgten Nazis, Impfgegner, Esoterikern und selbsternannten Querdenker zusammen. Diese Querfront glaubt, dass sich hinter den Beschränkungen in Wahrheit die Installation einer sogenannten „neuen Weltordnung“ verbirgt. Sie sehen sich als letzte Bastion des Widerstands gegen diese „neue Weltordnung“, die nichts weiter ist, als eine Chiffre für die “jüdische Weltverschwörung”.
Die meisten Künstlerinnen und Künstler haben nichts mit diesen aktuellen Querfront-Protesten zu tun. Im Gegenteil positionieren sie sich deutlich und aktiv gegen diese Bewegungen. Es finden sich aber dennoch Positionen im Kunstfeld, die an identitäres Denken anknüpfen. Das passiert zum einen ganz direkt, wenn sich der Leipziger Maler Neo Rauch mit seinem von Ernst Jünger entliehenem Werktitel der „Anbräuner“ gegen Kritik wehren will, die ihn im politisch rechten Milieu verortet. Rauch sieht sich als konservativ, allerdings definiert er seinen Konservatismus dadurch, „das neue, das Fremde so lange zu verhindern, bis es nicht mehr gefährlich ist“. Aus solchen Verlautbarungen ergeben sich – gewollt oder ungewollt – politische Schulterschlüsse mit den neurechten Milieus. Zum anderen werden über den Umweg einer vermeintlich progressiven Gesellschaftskritik antimoderne Bilder in die Kunst getragen. Über die Frage nach dem Leid und der Schuld, die die Entwicklung der Moderne mit sich gebracht hat, werden moderne Gesellschaften zunehmend abgewertet und tribalistische Gesellschaften symbolisch aufgewertet.
Gerade in Deutschland haben aber nur wenige Künstlerinnen und Künstler persönliche Erfahrungen, wie sich Genozid, Kolonialismus und Versklavung auf die eigene Geschichte auswirken. Die Vorstellung einer vermeintlich progressiven Antimoderne, die diesen Schuldzusammenhängen entgegnet werden kann, hat aber auch hier Konjunktur. Die Künstlerin Anne Imhof zeigt die Menschen in den modernen Gesellschaften als Sklaven des Fortschritts. Für ihren Beitrag bei der Venedig Biennale installiert sie in die Nazi-Architektur des deutschen Pavillons gläserne Wände und Decken, als Symbol für eine totalitäre Hypermoderne. Das erdrückende Verhältnis zwischen Architektur und Mensch in der Zeit des Nationalsozialismus, wird in ihrer Arbeit in die Gegenwart übersetzt. So entsteht der relativierende Eindruck, dass es zwischen mordenden Regimen und den modernen Demokratien keinen Unterschied in der Lebensqualität gibt, weil letztlich alle Menschen irgendwelchen Zwängen unterliegen. Wie Imhofs Vorstellung einer Antimoderne aussehen könnte, zeigte sie in ihrer Arbeit „Angst 2” im Hamburger Bahnhof. Dort wurde eine technologisierte und kalte Moderne mit einer authentischen und ursprünglichen Natur in Konkurrenz gesetzt. Obwohl Imhof eindeutig einem progressiven Impuls folgt, schliessen ihre Arbeiten an die antiemanzipatorischen Utopien von Wagner und Beuys an.
Über die letzen Dekaden hat sich die deutsche Kunst zunehmend diversifiziert und von ihrer Aufgabe einer deutschen Identitätsbildung weitestgehend emanzipiert. Dennoch wird im Kunstfeld das tradierte Selbstbild der sogenannten „Kulturnation“ Deutschland immer wieder über antimoderne und identitäre Vorstellungen bedient.