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Antisemitismus 2016/2017 – im Dschihadismus, Islamismus, muslimisch geprägten Milieus, unter Geflüchteten

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Titelbild der Broschüre "Lagebild Antisemitismus 2016/2017" (Ausschnitt) (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem „Lagebild Antisemitismus 2016/17“ der Amadeu Antonio StiftungMehr hier.

 

Dschihadismus und Islamismus

 

Wie der deutsche Rechtsextremismus ist auch der islamistische Dschihadismus ohne Antisemitismus nicht denkbar. Ihm ist in Einklang mit starken antimodernen und antiwestlichen Ressentiments ein antisemitisches Weltbild inhärent, welches wesentlich zur eigenen Welterklärung und zu damit verbundenem Handeln beiträgt. Dieses antisemitische Weltbild im Dschihadismus wurde durch Intellektuelle wie den ägyptischen Schriftsteller Sayyid Qutb wesentlich mitgeprägt. Qutb gilt bis heute als wichtiger Vordenker des militanten Islamismus. Auf ihn berufen sich aber auch andere islamische Strömungen, nicht nur dschihadistische. Der Schriftsteller Qutb war zu Lebzeiten eine der intellektuellen Führungsfiguren der ägyptischen Muslim-Bruderschaft (MB). Er wurde 1966 als Staatsfeind im nasseristischen Ägypten hingerichtet. In seinem antisemitisches Weltbild waren Jüd_innen und Juden neben »vom wahren Glauben abgefallenen« Muslim_innen Hauptfeinde des Islam. Selbst Adolf Hitler sah er als von Allah entsandt, um über die Jüd_innen und Juden zu herrschen.

Qutb ist nicht der einzige geistige Vater des Antisemitismus im aktuellen Dschihadismus. Jedoch berufen sich dschihadistische wie islamistische Gruppierungen auf ihn, so auch die Terrororganisation Al Qaida und die islamistische Hamas. In der Charta der Hamas ist der eliminatorische Antisemitismus nach wie vor integraler Bestandteil. Andere dschihadistische Terrororganisationen wie der »Islamische Staat« berufen sich hingegen kaum auf Qutb und versuchen eine neue dschihadistische Traditionslinie jenseits der MB zu etablieren.

Die dschihadistische Szene ist durchaus heterogen, untereinander verfeindet und kämpft wie im syrischen Bürgerkrieg auch gegeneinander. Dennoch sind viele Ziele von Terroranschlägen des IS oder der Al-Qaida nicht von ungefähr jüdische oder von ihnen als jüdisch imaginierte Einrichtungen. Der Antisemitismus ist für die unterschiedlichen Strömungen des Dschihadismus eine einende Komponente. Der Dschihadismus stellt somit eine Hauptgefahr für Jüd_innen und Juden dar, auch in Deutschland. Dem Islamismus zuzuordnende Strukturen organisieren oder beteiligen sich an Kundgebungen mit antiisraelischer und antisemitischer Stoßrichtung. Einmal jährlich findet in Berlin der al-Quds-Marsch statt, dessen zentrales Motiv die offensive Infragestellung des Existenzrechtes Israels ist. Zudem fand 2016 eine Kundgebung in der Nähe des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin statt, die die Verbrechen der Nationalsozialismus mit der Politik Israels gleichsetzte. Die Versammlung wurde von dem Verschwörungstheoretiker Martin Lejeune angemeldet und zog auch Personen aus dem salafistischen Spektrum an.

Islamistische und dschihadistische Gruppen treten nicht immer in Gestalt von nach außen sichtbaren Terrororganisationen auf. Vielfach haben sie ihr nahestehende Organisationsstrukturen aufgebaut, auch in Form sozialer Einrichtungen und Wohlfahrtsorganisationen. So treten auch in Deutschland legale Organisationen auf, die gute Verbindungen zu islamistischen Gruppierungen haben oder gar als Tarnorganisationen fungieren. Die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland e.V. etwa dient als Organisation von Hamas-Anhänger_innen in Deutschland, und das Palestinian Return Center (PRC), das 2015 seinen Jahreskongress mit 3.500 Teilnehmenden in Berlin veranstaltete, gilt als europäische Organisation der MB. Daher sollte auch bei der Verteilung von Geldern in diesem Bereich besondere Vorsicht walten, damit nicht ungewollt antisemitische, islamistische und/oder dschihadistische Strukturen indirekt gefördert werden und mit diesen kooperiert wird.

 

Muslimisch sozialisierte Milieus

 

Antisemitische Parolen gegen Israel auf dem jährlichen alQuds-Marsch in Berlin, judenfeindliche Äußerungen von muslimischen Jugendlichen in einer Jugendeinrichtung oder antisemitische Hetze auf der Internetseite eines türkisch-islamischen Moscheeverbands – Antisemitismus unter Muslim_innen in Deutschland hat viele Gesichter. Aber wodurch unterscheidet sich der Antisemitismus eines christlich sozialisierten, rechten oder linken von jenem aus muslimisch sozialisierten Milieus? Und wie äußern sich der eine und der andere? Mediale Berichterstattungen oder Anfragen aus der Bildungsarbeit verwenden die Schlagworte »muslimischer«, »islamischer«, »islamistischer« Antisemitismus oft willkürlich, ohne dass klar wird, wasgenau gemeint ist oder welche Besonderheiten ein »muslimischer Antisemitismus« haben würde. Hinzu kommt, dass aktuelle Debatten darum mit dem Thema Flucht und Asyl vermengt werden.

Das Feld Antisemitismus in muslimisch sozialisierten Milieus ist sowohl in der Wissenschaft und den Medien als auch unter Fachkräften der Bildungsarbeit sehr umkämpft. Groß ist die Sorge vor Pauschalisierung und Vorverurteilung, Anstiftung und Verbreitung von Vorurteilen und Fingerzeigen der in Deutschland sozialisierten Antisemit_innen, die behaupten, dass Judenhass nur von »Ausländern« ausginge und in Deutschland 1945 abgeschafft wurde. Dennoch ist es wichtig, die Sorge vor Übergriffen von Menschen aus muslimisch geprägten Teilen der Gesellschaft ernst zu nehmen und entsprechende Vorfälle nicht unerwähnt zu lassen.

Studien geben über die Ausprägung oder das Ausmaß von Antisemitismus in muslimisch sozialisierten Milieus wenig Auskunft, da es nur sehr wenige Untersuchungen hierüber gibt. Die vorhandenen wissenschaftlichen Aufsätze kommen zu unterschiedlichen Interpretationen, die wiederum unterschiedliche Fragestellungen beleuchten: Handelt es sich bei antisemitischen Einstellungen unter Muslim_innen um einen »neuen Antisemitismus«? Ist er Bestandteil des Islams und des Korans? Ist der »neue Antisemitismus« eine Tarnung für Israelfeindschaft und möglicherweise einer blinden Solidarisierung mit den Palästinensern unerachtet der eigenen Herkunft? Das sind auch für die Bildungsarbeit wichtige Fragestellungen. Denn um nachhaltig gegen Antisemitismus vorzugehen, ist es wichtig, die Funktion hinter antisemitischen Deutungsmustern, Äußerungen oder Handlungen zu erkennen.

Debatten um Antisemitismus in muslimisch sozialisierten Milieus vernachlässigen oft die Vielfalt muslimischer Identitäten in Deutschland. Zugleich werden auch Menschen als muslimisch wahrgenommen, angesprochen oder postuliert, die sich selbst nicht als muslimisch verstehen. Aus der Forschung zu Antisemitismus ist bekannt, dass sich antisemitische Einstellungen nicht geradlinig aus sozialen Merkmalen ableiten lassen. Weder sind Menschen mit einem höheren Bildungsgrad antisemitischer als Menschen mit niedrigeren Bildungsgrad noch Reiche judenfeindlicher als Arme. Dies gilt auch für das äußerst heterogene Milieu, das oft unter der Kollektiv-Bezeichnung »Muslime« zusammengefasst wird. Was nicht heißt, dass antisemitische Stereotype oder Deutungsmuster nicht auch islamisch begründet werden können. Judenhass im Namen des Islam – ganz gleich welcher politischen oder religiösen Richtung – zu legitimieren ist aufgrund diverser Anschlussstellen im Koran oder auf zahlreichen deutschen und ausländischen islamisch argumentierenden Medien und Social Media-Plattformen kein schweres Unterfangen.

 

Was tun?

Eine Instrumentalisierung der Religion als Legitimationsfläche für antisemitische Hetze darf nicht dazu führen, Muslim_innen pauschal zu verurteilen. Es gibt engagierte Muslim_innen oder muslimische Initiativen gegen Antisemitismus, wie die Türkische Gemeinde Hamburg mit einem »Präventionsprojekt gegen Antisemitismus bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund« , die Initiative JUGA (jung, gläubig, aktiv) von jungen Muslimen, Juden, Christen und Bahá’í oder den Verein »Offene Jugendarbeit«in Duisburg mit seinem Projekt und Dokumentarfilm »Junge Muslime in Auschwitz«. Eine sichtbare und deutliche Solidarisierung mit Jüdischen Betroffenen seitens der muslimischen Community ist zugleich wünschenswert und ausbaufähig, so wie es die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland umgekehrt regelmäßig handhabt.30 Es bedarf dringend entsprechend qualifizierten Personals in der Bildungs- und Jugendarbeit, am besten aus den eigenen Communities, d.h. muslimische und andere Pädagog_innen, die sich im Kampf gegen Antisemitismus ausbilden und stark machen. Bestehende antisemitismus- und rassismuskritische Bildungsangebote müssen kontinuierlich in die Regelstrukturen eingebracht werden. Schulbücher müssen entsprechend der Empfehlungen der DeutschIsraelischen Schulbuchkommission überarbeitet und das darin vermittelte Bild Israels und der Juden dringend angepasst werden. In Bildungseinrichtungen und Schulen darf der Nahostkonflikt nicht zu einem Krieg zwischen »den Juden« und »den Muslimen« stilisiert werden. Dafür müssen alle an Bildung beteiligte Akteur_innen Sorge tragen.

Es ist wichtig, vielfältiges jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland sichtbar zu machen. Sorgfältig vorbereitete kooperative Begegnungsprojekte und gegenseitige Besuche in Moscheen und Synagogen geben die Möglichkeit, Vorurteile von Angesicht zu Angesicht zu besprechen.

 

Geflüchtete und der Import von Antisemitismus

 

Angesichts der steigenden Zahl von Flüchtlingen aus arabischen Ländern in Deutschland wird die Befürchtung lauter, dass damit auch Antisemitismus aus arabischen Gesellschaften (re-)importiert wird. Diese Sorge ist nicht unberechtigt. In der jüngsten Umfrage der Anti-Defamation League (ADL) in mehr als 100 Ländern wird deutlich, das weltweit 26% der Befragten 6 oder mehr von 11 negativen Stereotypen über Juden für wahrscheinlich wahr halten. Dieselbe Umfrage beziffert den Anteil der Befragten mit derselben Einstellung in der Region Mittlerer Osten und Nord-Afrika (MENA) mit 74%. Laut einer schon älteren Umfrage vom Pew-Institut hegen sogar 90 Prozent der Bevölkerung arabischer Länder Vorurteile gegenüber Juden sowie gegenüber Frauen und Homosexuellen.

Diese Einstellungen treffen wiederum auf einen Resonanzboden antisemitischer Vorurteile und Einstellungen in der hiesigen Gesellschaft. Hauptsächlich dreht sich die Debatte um Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan, also Ländern, in denenFeindschaft zu Israel besteht und Antisemitismus verbreitet ist. Zivilgesellschaftliche Akteur_innen, Politik und Teile der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zeigen sich besorgt. Besonders kontrovers wurde die in Reaktion darauf erhobene Forderung einer Obergrenze zur Aufnahme von Geflüchtete aus diesen Ländern diskutiert. Diese Äußerungen wurden heftig debattiert, da Flucht und Asyl ein Menschenrecht ist und auch Menschen zusteht, die Ungleichwertigkeitsideologien vertreten. Zum anderen wird der vermeintliche Antisemitismus Geflüchteter von rechtskonservativen bis offen rechtsradikalen politischen Kräften in Deutschland massiv gegen Geflüchtete und gegen die Asylpolitik in Stellung gebracht (siehe Rechtspopulismus). Die propagierte Israel-Solidarität seitens rechter Kräfte ist dabei zugleich gefüttert durch einen radikalen antimuslimischen Rassismus. Zugleich wird die Fokussierung auf Antisemitismus unter Geflüchteten genutzt, um den Antisemitismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu negieren.

Ein Beispiel aus der Beratungspraxis soll die Komplexität des Problems verdeutlichen: Ein junger Geflüchteter aus Syrien, der sich mit Freiwilligen einer Willkommensinitiative in einem selbstorganisierten Café in Berlin-Tempelhof unterhielt, sagte: »Hitler war ein guter Mensch!« Problematisiert oder gestoppt hat diese Aussage von den anwesenden Personen niemand. Stattdessen zeigten Ehrenamtliche Verständnis, indem sie ergänzten, »dass Israel heute mit den Palästinensern das Gleiche macht wie früher die Nazis mit den Juden«. Dieses Beispiel ist eines unter vielen und zeigt, wie sich Unwissenheit, problematische Aussagen und antisemitische Denkmuster von Geflüchteten mit denen von Vertreter_innen der hiesigen Gesellschaft im Alltag treffen, ergänzen, unwidersprochen bleiben oder verschlimmern und damit eine ganz neue Qualität entwickeln können.

Antisemitismus und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind also Teil der »Willkommensrealität«. Dies muss benannt werden, auch wenn es in der aktuellen Versorgungs- und Verteilungsdiskussion häufig unbeachtet bleibt oder durch rechte Gruppierungen für ihre politischen Zwecke instrumentalisiert wird. Noch gibt es wenig Erfahrungsberichte aus der Praxis und keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die den Grad und Charakter von Antisemitismus unter Geflüchteten, dienach Deutschland kommen, genauer klären oder beschreiben könnten.

 

Was tun?

Es braucht also jenseits von »Kulturbrille« und Zuschreibungen Antworten der politischen Bildungsarbeit, um antisemitischen, verschwörungsideologischen und menschenfeindlichen Deutungsmustern und stereotypen Sichtweisen zu begegnen und eine menschenrechtsorientierte Haltung und Perspektive mit allen an Willkommensstrukturen aktiv oder passiv Beteiligten zu entwickeln. Dazu gehören Willkommensinitiativen, Betreiber von Unterkünften, Geflüchteten(selbst)organisationen, Einrichtungen derJugend- oder Bildungsarbeit und Menschen mit Fluchterfahrung gleichermaßen. Antisemitismuskritische Bildung ist dann erfolgreich, wenn sie eine sehr heterogene Zielgruppe berücksichtigt – auch hinsichtlich der Bildungshintergründe, ökonomischer Ressourcen, ethnischer/nationaler Zugehörigkeiten, Aufenthaltsstatus, Alter, Geschlecht, Wohnverhältnisse (Gemeinschaftsunterkunft/ Wohnung), Gesundheit/ability und anderer Aspekte.

Darüber hinaus sollte in antisemitismussensiblen Projekten nicht nur die Komplexität arabischer Geschichte in den sehr unterschiedlichen Herkunftsregionen beachtet werden, sondern auch die jüdisch-arabische Geschichte und eine jahrhundertealte, heterogene arabisch-deutsche Geschichte mit vielfältigen historischen Persönlichkeiten und Vorbildfiguren in die Auseinandersetzung mit einbezogen werden. Wie z.B. die des ägyptischen Arztes Mohammed Helmy, der in den vierziger Jahren in Berlin jüdische Freunde versteckte, oder Mustafa El-Sherbini, der trotz der nationalsozialistischen Kampagnen gegen »Ausländer«, Jazz und Berufsverboten für Jüdische Musiker diesen Auftritte und damit auch Einkommen in seiner berühmten BerlinerJazz-Bar ermöglichte.

Wichtig ist es, rassistische Diskriminierungs- und Desintegrationserfahrungen von Menschen mit Fluchterfahrung in der hiesigen Gesellschaft ernst zu nehmen, sie aber nicht als Anlass misszuverstehen, die Auseinandersetzung mit etwaigen von ihnen vertretenen antisemitischen Sichtweisen zu vermeiden.

 

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Das „Lagebild Antisemitismus 2016/2017“ steht unter dem Link unten zum Download bereit oder kann gedruckt bei der Amadeu Antonio Stiftung bestellt werden.

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