Antisemitismus: Alter und neuer Wein in alten Schläuchen auch in der Jugendarbeit
Einführende Frage der Bedarfserhebung ist, wie Jugendliche, Kolleg_innen oder Vorgesetzte über bestimmte Themen sprechen. Wie nehmen die Praktiker_innen Antisemitismus wahr, welche Aussagen und Sprüche hören sie im Alltag? 40 Prozent der befragten Sozialpädagog_innen machen in ihrem Praxisalltag Erfahrungen mit Antisemitismus. Das sind etwa klassische antisemitische Stereotype wie die Verschwörungstheorie von der Beherrschung der Banken durch die Juden. Da ein großer Teil der Aussagen sich auf den Nahost-Konflikt und die Gleichsetzung der israelischen Politik mit NS-Verbrechen beziehen, ist in diesem Kontext auch die Frage danach interessant, ob die Praktiker_innen Erfahrungen mit Äußerungen gegen Israel machen: mehr als ein Drittel (37 Prozent) bejahen diese Frage. Dabei zeigt sich die Wechselseitigkeit zwischen Israelfeindschaft und Antisemitismus. Denn eine Unterscheidung zwischen Juden und Jüdinnen, Israel und Einwoher_innen Israels wird in keiner Weise klar artikuliert. Die Äußerung „scheiss Juden – die werden zu Recht terrorisiert“ zeigt, wie Äußerungen gegen Juden und Jüdinnen oftmals mit Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt stattfinden. Fast schon ein Standard diskriminierender Jugendsprache ist, dass „‚Jude’ für viele das schlimmste Schimpfwort (ist). Passend geben 97 Prozent (!) der befragten Sozialpädagog_innen an, antisemitische Aussagen von Jugendlichen zu hören und 93 Prozent hören isrealfeindliche Aussagen. Immerhin machen bei israelfeindlichen Aussagen 30 Prozent der Befragten Kolleg_innen verantwortlich und 23 Prozent Eltern. Daran knüpft sich die Frage, wie Aussagen dieser Art nun begegnet werden kann?
„Wie eingreifen, ohne durch moralische Argumente Abwehr zu wecken?
Im Kontakt und im Gespräch zu bleiben ist eine der Künste der Sozialpädagogik. So wurde beispielsweise von einer befragten Person der Wunsch formuliert: „Mehr Klarheit über Interventionsmöglichkeiten, die nicht durch Moralisierungen Abwehr produzieren, sondern eine Auseinandersetzung eröffnen“. 54 Prozent der befragten Sozialpädagog_innen finden, sie hätten nicht genügend Mittel und Zeit, um mit genannten Aussagen angemessen umzugehen. Sie fühlen sich im Gespräch mt Jugendlichen, Kolleg_innen und Eltern also im konkreten Praxishandeln, verunsichert und wünschen sich mehr Fortbildungen, mehr Personal und Zeit sowie eine bessere finanzielle Ausstattung. Konkret wünschten sich diesen 54 Prozent der Befragten „mehr finanzielle Mittel für bspw. Bildungsreisen“, „Honorarmittel für Workshops“, „mehr Personal“, „Beratungsangebote und Kooperation mit Moscheen, Kirchen, Kultur- und Sportvereinen“. Diese Forderungen richten sich vor allem an Institutionen wie Jugendamt, Bezirksamt, Verwaltung, Land oder Senat.
Positive Beispiele für erfolgreiches Praxishandeln
40 Prozent der Befragten waren dagegen der Meinung, mit antisemitischen Aussagen angemessen umgehen zu können. Was hilft Ihnen dabei Genannt werden: „Schnelle Abrufbarkeit von Dokumentationsmaterialien im Internet (z.B. youtube)“, „Fortbildungsmöglichkeiten, die mein Arbeitgeber mir bietet“ und „Personalmenge, Elternunterstützung, Leitungshandeln, Schulsozialarbeit“. Aber auch intensive Gespräche und ein gutes Vertrauensverhältnis zu Jugendlichen und Eltern sowie eine klare Haltung bezüglich Diskriminierungen scheinen eine große Rolle zu spielen. Spannend: Als entscheidend für ein Gefühl der Sicherheit in der Bearbeitung wird der Arbeitgeber/Träger wahrgenommen (Fort- und Weiterbildungsangebote) oder aber die eigene Haltung, Dialogfähigkeit, eigene Netzwerke – also die individuelle professionelle Kompetenz.
Beziehung, Gespräche, Interaktionen: Die Kernelemente der Offenen Kinder- und Jugendarbeit anerkennen
Um mit Antisemitismus und Rassismus in der Offenen Jugendarbeit gut umgehen zu können, sind angemessene personelle, finanzielle und infrastrukturelle Rahmenbedingungen die Voraussetzung. Dabei können wir uns nicht damit zufrieden geben, dass einzelne Arbeitgeber/Träger die Entscheidung treffen, Antisemitismus in den Fokus von Fort- und Weiterbildungen oder kontinuierlicher Praxisbegleitung zu stellen oder auch einzelne Sozialpädagog_innen und Team sich lediglich auf Ihre Eigeninitiative verlassen können. Vielmehr braucht es eine klare Haltung der öffentlichen Träger, Antisemitismus als Querschnittsthema der Jugendarbeit zu begreifen und entsprechend Ressourcen bereit zu stellen.
In den kommenden Monaten, wird die „ju:an – Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit“ ausgewählte Ergebnisse der aktuellen Befragung vorstellen und besprechen. Einen ersten Überblick über weitere Ergebnisse können Sie hier einsehen.
Website von Ju:an:
* Die Online-Umfrage erfolgte unter Sozialpädagog_innen in Berlin und Hannover. Ziel der Umfrage ist es, Antisemitismus und Rassismus als Herausforderungen in der Jugendarbeit besser einschätzen zu können, um den Bedarf an Unterstützung zu klären. An der 2015 durchgeführten Umfrage nahmen insgesamt 82 Pädagog_innen teil.
Das Foto wurde veröffentlicht unter Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 2.0.