Interview: Jan Riebe
Das Interview erschien in der Broschüre: „Man wird ja wohl Israel noch kritisieren dürfen…“? Eine pädagogische Handreichung zum Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung
Jan Riebe: Ihr betreibt ein auf unterschiedliche Zielgruppen ausgerichtetes Monitoring von sozialen Medien. Wie ist Eure Einschätzung: Welche Rolle spielt israelbezogener Antisemitismus dort?
Jan Rathje Projektleiter von »No World Order. Handeln gegen Verschwörungsideologien«: Israelbezogener Antisemitismus spielt eine herausragende Rolle in sozialen Medien. Ergänzend zum Antisemitismus gegen nur in der Vorstellung vorhandenen »Juden« bietet Israel etwas Konkretes, das als Projektionsfläche für judenfeindliche Stereotype genutzt werden kann. Hinzu kommt, dass israelbezogener Antisemitismus als Antizionismus in unterschiedlichen Milieus Verbreitung findet. Er wird von Menschen aus der sogenannten gesellschaftlichen Mitte, aber auch von Linksradikalen, Rechtsextremen und Islamist*innen geäußert. Im Internet scheint die Hemmschwelle zu sinken, antisemitische Äußerungen, die als »Kritik« am Staat Israel verstanden werden, unter Klarnamen zu veröffentlichen. Die Anlässe dazu sind vielfältig. Reelle Ereignisse können hierfür einen Anlass geben, etwa bei Auseinandersetzungen zwischen Palästinenser*innen und Israelis oder wenn Meldungen aus oder über Israel kursieren. Davon unabhängig wird israelbezogener Antisemitismus allerdings auch geäußert, ohne dass eine reelle Verbindung zu Israel existiert. Ein Beispiel hierfür waren verschwörungsideologische Vorwürfe gegen Israel nach Terroranschlägen.
Christina Dinar (Projektleiterin von »debate// – für digitale demokratische Kultur«): Das Monitoring in unserem Projekt bezieht sich auf rechte Gruppen. Diese haben sehr klar umrissene antisemitische Vorstellungen von Jüd*innen und auch Israel. Antisemitismus bildet einen festen Bestandteil ihrer Weltsicht. Das trifft insbesondere auf Rechtsextreme zu. Diese schüren offen Hass gegen Jüd*innen und nutzen Soziale Netzwerke, um ihre Anhänger*innen zu bestärken, ihre Ansichten auch auf der Straße zu demonstrieren, oder gar gewalttätiges Handeln zu legitimieren. Sie haben ihre eigenen Gruppen, Orte, Boards und Meme, die sie untereinander teilen. In die durch generellen Hass auf Jüd*innen geprägten Narrative wird nahtlos der Hass auf Israel mit hineingewebt.
Judith Rahner, Leiterin der Fachstelle »Gender und Rechtsextremismus« und Koordinatorin der Praxisstelle »ju:an – antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit«: Vor dem Gaza-Krieg 2014 bspw. waren in den Postings der von mir beobachteten Profile jugendlicher Facebook-User*innen die Themen »Israel« und »Nahost« so gut wie nicht vorhanden. Mit dem Beginn des Gaza-Krieges und dessen medialer Präsenz änderte sich das explosionsartig. In den heftigen Diskussionen über den Konflikt wurde auch auf judenfeindliche Stereotype und antisemitische Hetze zurückgegriffen. Nachdem das Thema aus den Medien so gut wie verschwunden war, ebbte dieses Phänomen interessanterweise wieder sehr schnell ab.
Hagen Troschke, arbeitet zu Antisemitismus in den Sozialen Medien, zuletzt an der TU Berlin: Der israelbezogene Antisemitismus wird also u. a. dann besonders sichtbar, wenn Anknüpfungen an aktuelle Ereignisse in Nahost möglich sind. Abgesehen von solchen Konjunkturen ist israelbezogener Antisemitismus in den letzten Jahren zur dominierenden und stetig vorzufindenden Form des Antisemitismus geworden. Er umfasst sowohl spezifisch neu an der Projektionsfläche Israel geformte antisemitische Zuschreibungen als auch solche aus älteren Phasen des Antisemitismus – dem Antijudaismus, dem Rassenantisemitismus und dem sekundären Antisemitismus. Diese älteren Zuschreibungen werden an das Objekt Israel angepasst (wie z. B. die Anschuldigung einer Brunnenvergiftung, der zu Pestzeiten kursierte und 2016 von Palästinenserpräsident Abbas vor dem EU-Parlament in Bezug auf Israel vorgetragen wurde).
Ich untersuche seit Jahren die Leser*innenkommentare v. a. in den Nachrichtenmedien des politischen Mainstream, d. h. solche mit politischen Positionen innerhalb des demokratischen Konsenses, sowohl in deren eigenen Kommentarbereichen als auch deren Facebook-Präsenzen. Dort zeigt sich: Der bedeutendste Anknüpfungspunkt der gegenwärtigen antisemitischen Kommunikation ist Israel. In Verbindung damit dominiert thematisch weit überwiegend der Nahostkonflikt. Aber auch jeder andere Sachverhalt, in dessen Zusammenhang Israel genannt wird – seien es Sportveranstaltungen, Wirtschaftsnachrichten, Tourismus, Neuigkeiten aus Wissenschaft oder Kultur, wird als Anlass genutzt, Israel abzuwerten oder auszugrenzen. Dabei werden antisemitische Zuschreibungen an Israel bzw. Israelis auch in Zusammenhängen geheftet, in denen im redaktionellen Ausgangstext ursprünglich nicht der Nahostkonflikt thematisiert wurde. In den Kommentaren wird dann über eine Themenverschiebung zum Nahostkonflikt hingeführt.
In welchen Vorstellungen wird israelbezogener Antisemitismus in den von euch untersuchten Milieus ausgedrückt und auf welchem Weg kommuniziert?
Judith Rahner: In den Profilen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Facebook-Monitoring wurde häufig Bezug auf antisemitische Verschwörungsideologien oder die »Ritualmordlegende« genommen. Jugendliche haben hier also christliche, antijudaistische Ideologiefragmente verwendet und in die gegenwärtigen weltpolitischen Ereignisse eingepasst. Es handelt sich also um einen alten europäischen Antisemitismus in neuem Gewand. Dieser Befund ist für die Präventionsarbeit ungeheuer wichtig. Bilder und Videos zum Gaza-Krieg, die verletzte, vermisste oder getötete palästinensische Kinder und Frauen zeigten, wurden nicht nur am meisten gepostet und diskutiert, sondern auch entsprechend geteilt und mit einer großen Anzahl Likes versehen. Für mich persönlich war es manchmal nicht nachvollziehbar, woher diese Bilder und Videos kamen. Wer hatte sie gedreht und aufgenommen? In wessen Auftrag waren sie entstanden? Entsprachen Untertitelung und Übersetzung in den Videos dem tatsächlich Gesagten? Auch wenn selten danach gefragt wurde, ist beispielsweise seit einer kleinen BBC-Studie vom Sommer 2014 bekannt, dass ursprünglich in Syrien aufgenommene Kriegsfotos zur Bebilderung des Gaza-Kriegs verwendet wurden – und in dem Sinne gefälscht waren. Am zweithäufigsten gepostet wurden Verschwörungstheorien. Das ist wenig überraschend, weil sie seit vielen Jahren in sämtlichen politischen Spektren auftauchen: Coca-Cola gehöre zum »Weltjudentum«, die Medien seien von »den Juden« beherrscht, weshalb bestimmte Meldungen nicht gesendet, bestimmte Bilder nicht gezeigt würden. Dies geht mit der Meinung einher, die »Deutschen« verstünden aufgrund der Beeinflussung der Medien nicht, was da passiere. Zuweilen sind die Bilder, die auf Facebook gepostet wurden, insofern unproblematisch, als sie schlicht fordern: »Wir wollen Frieden«. Sie werden erst durch entsprechende Kommentare antisemitisch gerahmt. Werden diese Bilder geteilt, geschieht dies in der Regel jedoch ohne eine Problematisierung der nebenstehenden Sprüche – und zwar weder von Seiten der Jugendlichen noch von Erwachsenen oder gar Fachkräften aus der Bildungsarbeit. D. h., die Kommentare stehen dort bis heute.
Jan Rathje: Im verschwörungsideologischen Kontext werden Israel und der Zionismus in letzter Instanz für alles Übel der Welt verantwortlich gemacht. Damit wird der Mythos von der »jüdischen Weltherrschaft« wieder aufgewärmt, für den seit über 100 Jahren die antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion als Beleg herangezogen werden – eine der ersten deutschsprachigen Ausgaben trug sogar den Titel Die zionistischen Protokolle. Praktisch sieht es zumeist so aus, dass von einer geheimen »jüdisch-zionistischen Weltverschwörung« geraunt wird, die hinter der Wirtschaft, allen Regierungen und den Medien stecke. In dieses Erklärungsmuster werden dann auch Terroranschläge in der westlichen Welt integriert, indem sie als »False Flag«-Operation (unter falscher Flagge) oder als inszeniertes Schauspiel des israelischen Geheimdienstes Mossad bezeichnet werden. Diese Weltverschwörungsideologie wird besonders gern in Bildern, Memes und Videos verbreitet. Dabei genügt es zumeist, eine Person, ein Land oder einen Staat mit einem Israel-Pin zu versehen, um die vermeintliche Steuerung darzustellen. Bei Bildern spielen Cartoons die größte Rolle; es haben sich mehrere professionelle Zeichner etabliert.
Hagen Troschke: Prominente stereotype Vorstellungen in den Leser*innenkommentaren der Mainstreammedien sind bspw. die von Israel als Unrechtsstaat, Kolonialstaat oder Kriegsverbrecher. Auch die Unterstellungen, Israel würde Antisemitismus zum Erreichen seiner Ziele als Druckmittel instrumentalisieren oder ein Kritiktabu zur Absicherung seines Handelns aufrichten oder unterstützen, sind weit verbreitet. User*innen setzen verschiedene Strategien ein, um selbst über jeden Antisemitismusverdacht erhaben zu erscheinen. So stellen sie z. B. heraus, dass sie aufgrund bestimmter persönlicher Parameter wie Biographie oder politischem Standpunkt nicht antisemitisch sein könnten. Auch der Verweis auf Aussagen von „Autoritäten“ dient diesem Zweck. Ebenso kommt es vor, dass Neudefinitionen von Antisemitismus versucht werden, um die eigenen Äußerungen davon auszunehmen.
Die öffentliche Tabuisierung offen gezeigten Antisemitismus’ führte dazu, dass User*innen in der Absicht, nicht als antisemitisch zu gelten, darauf ausweichen, antisemitische Äußerungen entweder implizit und/oder bezogen auf Israel zu formulieren (mit dessen Gründung ein neues jüdisches Objekt entstand). Damit wollen sie sich und ihre Botschaft vor Sanktionen – vonseiten der Moderation oder durch die Gegenrede anderer – schützen. Über implizite Formulierungen wie z. B. mittels rhetorischer Fragen kann jedoch derselbe abwertende und ausgrenzende Sinngehalt weitergegeben werden wie bspw. mit explizit hervorgebrachten antisemitischen Beleidigungen – nur sind die verdeckten Inhalte schwerer angreifbar. Dennoch können Rezipient*innen die in diesen Äußerungen enthaltenen Andeutungen über Kontext- und Weltwissen erschließen und antisemitische Vorstellungen übernehmen oder stärken. D. h., man muss genau hinschauen, um solche Äußerungen zu dechiffrieren. Dies zu können, ist wichtig, um die Bedeutungen erkennen und auch (vor und mit den Jugendlichen) nachweisen zu können. Angesichts des Stellenwerts impliziter Formulierungen ist der sichere Umgang mit diesen keine Nebensache.
Was wäre ein einfaches Beispiel dafür?
Hagen Troschke: Wenn bspw. im deutschen Kontext angeführt wird, Deutschland hätte aus „der Vergangenheit“ gelernt, Israel jedoch nicht, stellt sich hier die Frage, aus welcher Vergangenheit Israel denn habe lernen sollen. Die implizit bleibende NS-Vergangenheit wird hier zum Bezugspunkt einer universellen Lehre und somit des Lernens für beide Staaten gleichermaßen. Damit wird Israel jedoch unterstellt, es sei in seinem Wesen und Handeln NS-Deutschland nahe, weil es dessen Charakteristika nicht überwunden habe – ein dämonisierender und zugleich entlastender NS-Vergleich, ohne dass diese Gleichsetzung Wort für Wort ausbuchstabiert ist.
Die Tatsache, dass Jugendliche alltäglich mit Antisemitismus im Internet konfrontiert werden können, auch ohne sich auf diesbezüglich einschlägigen Websites zu bewegen oder sie bspw. gelikt zu haben, hebt die Notwendigkeit hervor, sich mit Antisemitismus in allen seinen Ausdrucksformen auseinanderzusetzen. Gerade die unterschwellig kommunizierten Botschaften, die in den Kommentarbereichen von Mainstreammedien überwiegen, tragen – wenn sie dann auch noch in erst einmal scheinbar unverdächtigen Zusammenhängen wahrgenommen werden – besonders zu einer Normalisierung antisemitischer Deutungen bei. Für die pädagogische Arbeit ist also neben dem Augenmerk auf drastische antisemitische Äußerungen und evtl. Radikalisierungstendenzen auch die Sensibilität für die leisen Töne nötig, mit denen Antisemitismus bemäntelt, z. T. nur mit höherem analytischen Aufwand aufzudecken und bspw. als (wohlmeinende) Kritik ausgegeben daherkommt.
Wo bestehen populäre Schnittmengen von einschlägigen Verschwörungsmilieus mit anderen Milieus oder auch inhaltlichen/thematischen Bereichen im Internet? Wie greifen antisemitische Verschwörungstheorien auf diese über?
Jan Rathje: Antisemitismus und Verschwörungsideologien sind strukturell und funktional gleich aufgebaut. Die Verschwörungsideologie bietet dem Antisemitismus die Möglichkeit, alles Übel in der Welt zu erklären, während der Antisemitismus der Verschwörungsideologie ein Feindbild mit sehr langer Tradition bereitstellt. Aufgrund dieser Tradierung wird die Zuschreibung Weltverschwörer beinah ausschließlich an »Juden/Zionisten« gerichtet. Keiner anderen Gruppe wird bisher vorgeworfen, das Weltgeschehen seit Jahrtausenden zu steuern, für bspw. die Französische Revolution, Kapitalismus, Kommunismus, Gendermainstreaming und den »großen Austausch« verantwortlich zu sein. Aus diesem Grund laufen schließlich alle Verschwörungserzählungen in der antisemitischen Vorstellung der »jüdischen/zionistischen Weltverschwörung« zusammen. Sie stellt somit eine Super-Verschwörungserzählung dar. So können Menschen sich von einfachen Verschwörungsideologien zum Antisemitismus hinbewegen, etwa wenn sie die zunächst allgemeine verschwörungsideologische Erzählung von der gesteuerten Regierung zu einem Vorwurf gegen Israel konkretisieren. Gleichzeitig codieren und chiffrieren Antisemit*innen ihre verschwörungsideologischen Botschaften, um einen Antisemitismusvorwurf abzuwehren.
Überschneidungen existieren zwischen einschlägigen verschwörungsideologischen Milieus und Querfrontgruppierungen, Rechtsextremen und esoterischen Milieus. Sie alle werden durch ein manichäisches Weltbild geeint, in dem böse Mächte im Hintergrund die Fäden ziehen.
Welche Funktionen erfüllen diese Verschwörungstheorien?
Jan Rathje: Antisemitismus und Verschwörungsideologien erfüllen für ihre Anhänger*innen mehrere Funktionen. Sie erklären ihnen die Welt als Kampf zwischen »Mächten des Guten und des Bösen«, und geben ihnen darin eine Identität als Kämpfer*innen für das Gute. Agitator*innen nutzen Antisemitismus und Verschwörungsideologien darüber hinaus, um Menschen zu Taten gegen das vermeintlich Böse aufzustacheln, und diese hinterher zu legitimieren. Diese Funktionen lassen sich besonders gut in Sozialen Medien verwirklichen. Dort werden alle wichtigen Ereignisse des Weltgeschehens »erklärt«, die Identitätskonstruktion in Echokammern und Filterblasen vorangetrieben, zum »Widerstand« und anderen Aktionen aufgerufen.
Welchen weiteren Einfluss hat die Rezeption antisemitischer Beiträge im Internet?
Hagen Troschke: Gerade junge Menschen sind hier am ehesten gefährdet, da bei ihnen Wissen und Problembewusstsein bzgl. antisemitischer Inhalte meist noch weniger vorhanden sind. Über die plötzliche oder auch wiederholte Konfrontation mit diesen Inhalten, die sie meist auch ohne Unterstützung bei deren Einordnung erleben, können sie antisemitische Deutungen übernehmen – oder bereits vorhandene antisemitische Haltungen aufgrund einer online erfahrenen Bestätigung verstärken. Auch die Masse antisemitischer Beiträge, die je nach User*innenverhalten rezipiert wird, kann suggerieren, dass antisemitische Deutungen repräsentativ wären. Dies kann dazu führen, dass sich User*innen in Folge zustimmend an den Meinungen bzw. Überzeugungen einer scheinbaren Mehrheit orientieren. Außerdem sind die sozialen Beziehungen in der Offline-Welt wichtig: Liegen in den Bezugsgruppen der Offline-Welt antisemitische Einstellungen vor, steigt damit auch die Bereitschaft, sich antisemitische Deutungen aus dem Internet anzueignen, da sie den Werten der Gruppe entsprechen. Dasselbe gilt auch, wenn eine Bezugsperson, der ein hoher Status zugeschrieben wird (wie bspw. ein Elternteil), antisemitische Einstellungen zeigt. Die Einflüsse aus Online- und Offline-Welt greifen also auch ineinander und verstärken sich ggf. gegenseitig. Dementsprechend müssen die sozialen Kreise der Jugendlichen für eine umfassendere Intervention mit in den Blick genommen werden.
Auf welche Weise tragen radikale Gruppen oder Seiten zur Verbreitung antisemitischer Vorstellungen bei?
Jan Rathje: Radikale Gruppen können ihren Antisemitismus nur verbreiten, wenn sie ihn codieren. In seinen krudesten Formen stößt er meist auf breite Ablehnung. Dies ist den meisten Akteuren jedoch bewusst und auch die meisten ihrer Fans üben Kritik bei zu direkten Beiträgen, um sich nicht aus der Diskussion zu entfernen. Sie unterwandern jedoch anschlussfähigere Gruppen und versuchen, dort ihr Narrativ zu verbreiten und den Diskurs zu prägen. Dies stößt oft auf offene Ohren, wenn sie es schaffen, das Bedürfnis nach einem klaren Feindbild zu nutzen.
Judith Rahner: Von einigen orthodox- und radikal-islamistischen Personen und Gruppen wird der Nahostkonflikt als Vehikel genutzt, um von einer anvisierten jugendlichen Zielgruppe wahrgenommen zu werden, die dafür normalerweise nicht unbedingt in Frage käme. So teilte etwa ein Jugendlicher, der nicht religiös ist, Postings des salafistischen Predigers Pierre Vogel zum Nahostkonflikt. Ein anderes Beispiel: Islamistische Facebook-Gruppen wie »Der Schlüssel zum Paradies« teilten während des Gaza-Krieges ältere antisemitische Bilder und Fotos, die bereits vor einigen Jahren im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt von Rechtsradikalen gepostet worden waren. Sie versahen diese Bilder mit ihrem Label, Logo oder dem islamischen Glaubensbekenntnis und erreichten so Jugendliche, die sich vorher weder mit der Organisation noch mit deren Ideologien identifizierten. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Haben Jugendliche einmal die Seiten radikaler oder islamistischer Gruppen gelikt, dann bekommen sie sämtliche andere Themen dieser Seiten ebenfalls angezeigt. Ich habe während des Monitoring plötzlich Pierre Vogel oder »Die Stimme der Ummah« von Facebook als »Freunde« vorgeschlagen bekommen. In der intensiven Phase meiner Recherchen war ich in einer virtuellen »ideologischen Blase«. Mir wurden nur noch »Das-könnte-Sie-auch-interessieren«-Vorschläge zu Gruppen und Seiten gemacht, die auf den Gaza-Krieg Bezug nehmen oder konservativ-religiös bis radikal sind. Das macht ein wichtiges Moment deutlich: Der Algorithmus, der das Verhalten der Facebook- User*innen analysiert und auf dieser Basis die passende Werbung für Mode oder Urlaubsziele bereithält, funktioniert genauso verlässlich auch bei ideologisch fragwürdigen Inhalten und Gruppen. Diese Blase kann gerade für Jugendliche problematisch werden, die in komplexen Zeiten nach Orientierung und einfachen Antworten suchen.
Warum werden schwierige Themen, wie beispielsweise der Nahostkonflikt, in Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen kaum aufgegriffen?
Judith Rahner: Sowohl in Bezug auf den Nahostkonflikt als auch in Bezug auf Antisemitismus besteht die Angst, zu wenig darüber zu wissen und sich »problematisch« zu äußern. Der Gaza-Konflikt 2014 fiel, zumindest in Berlin, fast zeitgleich mit den Sommerferien zusammen. Nach Ende der Ferien wurde das Thema nicht aufgegriffen, obwohl es noch immer aktuell war. Die offizielle Begründung lautete, dass dies wegen des offiziellen Lehrplans nicht ohne Weiteres möglich gewesen sei. Inoffiziell teilte man uns mit, dass das Thema aus Angst vor Diskussionen im Unterricht gezielt vermieden wurde. Meiner Ansicht nach ist das ein großer Fehler. Es geht an der Stelle nicht nur darum, den Nahostkonflikt in den offiziellen Lehrplan aufzunehmen, sondern generell darum, aktuelle weltpolitische Ereignisse, die eine Vielzahl von Schüler*innen direkt oder indirekt betreffen, aktiv in den Lehrplan zu integrieren. Das bedeutet, Lehrkräfte müssen fit gemacht werden, über diese Themen zu sprechen oder wissen, wen sie als Expert*in dazu holen können. Wir bekommen bundesweit zahlreiche Unterstützungsanfragen von Schulen und Jugendeinrichtungen aufgrund antisemitischer Vorfälle. Zuletzt wieder, als es im Rahmen von Demonstrationen gegen die Entscheidung, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, zu massiven antisemitischen Handlungen und Äußerungen kam. Der hohe Bedarf zeigt, dass geopolitische Eskalationen nicht einfach »ausgesessen« werden können. Dies gilt jedoch ebenso und vor allem für den kontinuierlichen, alltäglichen Handlungsbedarf zu diesem Thema. Je besser Lehrkräfte und Pädagog*innen vorbereitet sind, desto effektiver lässt sich intervenieren. Ein informierter, reflektierter und zugewandter Umgang kann für Fachkräfte und Jugendliche entlastend sein.
Was sollte außerdem beachtet werden?
Judith Rahner: Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen müssen ernst genommen werden. Jugendliche werden – auch in Bildungseinrichtungen – rassistisch angegriffen, müssen sich gegen Vorbehalte und Stereotype aufgrund ihrer Religion oder ihrer familiären Herkunft wehren und sich ständig rechtfertigen. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, was eigentlich passiert, wenn Medien und Lehrkräfte geradezu mantrenhaft wiederholen, dass muslimische Jugendliche vermeintlich antisemitischer seien als andere. Die Aufgabe von pädagogischen, der Mehrheitsgesellschaft zugehörigen Fachkräften sollte vor allem darin bestehen, beim Thema Antisemitismus nicht erneut ein »Ihr (Muslime) seid anders als wir (Deutsche)« zu konstruieren und damit noch einen Grund mehr liefern, warum »die« nicht »richtig« dazu gehören. Auf Antisemitismus muss, ganz gleich aus welcher Richtung, entschieden reagiert werden.
Insbesondere vor diesem Hintergrund sollte man sich bewusst machen, dass in den Sozialen Netzwerken ein weiteres Problem sichtbar wird: Diskriminierungserfahrungen sind ein Einfallstor für extremistische Ideologen, die – nach dem Motto: »Die deutsche Gesellschaft will dich nicht, komm zu uns« – daran anknüpfen. Wenn Jugendliche den Nahostkonflikt als »Krieg« zwischen »den Muslimen« auf der einen und »der westlichen Welt« auf der anderen Seite interpretieren oder ideologisch »serviert« bekommen, setzt man am besten bei den Jugendlichen an, die konkrete Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Dieser Schritt kann Ausgangspunkt für Medienkritik und für das Sprechen über den Nahostkonflikt ohne antisemitische Stereotype sein.
Was mache ich als Pädagog*in, wenn ich mitbekomme, dass Jugendliche sich bspw. auf Facebook antisemitisch äußern?
Judith Rahner: Das lässt sich nicht pauschal beantworten und wird in der pädagogischen Praxis eine Einzelfallentscheidung sein. Die Möglichkeit eines klärenden persönlichen Gesprächs hängt vom gegenseitigen Vertrauensverhältnis ab, aber ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Beispielsweise traf ich mich mit einem Jugendlichen, den ich bereits länger kenne, und konfrontierte ihn mit seinen Facebook-Postings. Ich habe ihn gefragt, ob er diese »Meinung« tatsächlich vertritt, ihn an gemeinsame Projekte zum Thema Nahostkonflikt erinnert, in denen er sich sehr engagiert eingebracht hatte. Am nächsten Tag waren sämtliche dieser Postings auf seinem Profil verschwunden. Solche Gespräche haben Sinn, wenn man darin auf ein gemeinsam erarbeitetes Wissen Bezug nehmen kann. Schwieriger wird es, wenn kein Vertrauensverhältnis gegeben ist. Schreibt man dann z. B. unter ein antisemitisches Posting »Das ist antisemitisch«, kann dies das Gegenteil bewirken: Man wird aus der Freundesliste auf Facebook gestrichen und erreicht die Person gar nicht mehr. Als Regel gilt: Antisemitische Stereotype nicht unwidersprochen lassen, allerdings ohne Jugendliche öffentlich vorzuführen. Im Zweifelsfall die Diskussion in den privaten Chat ziehen. Das Beste ist aber, sie entweder persönlich darauf anzusprechen oder anonymisiert in der Klasse über antisemitische Postings zu reden. Dann wissen die Betroffenen im Regelfall Bescheid, wer gemeint ist.
Christina Dinar: Wenn ich in meiner pädagogischen Praxis darauf stoße, ist manchmal der erste Impuls, dass ich denke: „Nicht auch das noch“. Menge und Schärfe von antisemitischen Äußerungen aber auch das Unerwartete, wenn sie z. B. von einer bestimmten Person kommen, können die eigenen Ressourcen sehr beanspruchen. Trotzdem ist es wichtig, die Äußerung zu bearbeiten und nicht stehen zu lassen. Es ist eine Herausforderung, die angenommen werden muss, da alles andere bedeuten würde, die Jugendlichen mit einer völlig irregeleiteten Weltdeutung allein zu lassen und dazu die Bedrohung, die von Antisemitismus ausgeht, billigend in Kauf zu nehmen. Um sie zu meistern, kann und sollte auch Unterstützung aus dem Kollegium oder von externen Expert*innen in Anspruch genommen werden.
Welchen Stellenwert haben Soziale Medien für die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus?
Judith Rahner: Am Beispiel des Nahostkonflikts zeigt sich, dass viele Jugendliche ihre Informationen nur aus dem Netz bekommen, weil weder in Schulen noch in Jugendclubs offen darüber gesprochen wird: Was ist das für ein Konflikt? Wer sind die Parteien, die darin involviert sind? Stehen sich wirklich nur zwei homogene Gruppen gegenüber oder gibt es auch andere Beteiligte? Was sind Fakten, was Gerüchte? Wie lassen sich diese auseinanderhalten? Beispiele wie der letzte Gaza-Krieg oder zuletzt die Ankündigung der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, haben deutlich gezeigt, dass das Bedürfnis von Jugendlichen, Informationen über den Konflikt zu bekommen und darüber zu reden, extrem hoch ist. Wenn dieses Bedürfnis nicht berücksichtigt wird, wenn bei Pädagog*innen zwar Verständnis, aber teilweise auch Ängste bestehen, wie darüber gesprochen werden kann, dann holen sich Jugendliche ihre Informationen woanders.
Erfolgversprechend ist für mich ein Korrektiv, das in der Offline-Welt dagegen hält. Dafür müsste die Pädagogik das Web 2.0 allerdings viel mehr als bisher in der Praxis berücksichtigen. Im Netz verhalten sich Jugendliche anders als in pädagogischen Einrichtungen, ergo stellt sich die Frage: Was besprechen Jugendliche in ihrer Freizeit via Facebook oder Instagram? Mit wem treten sie warum in Kontakt? Es geht hier nicht um eine Überwachung und Sanktionierung, sondern es ist sinnvoll, Argumente oder Bilder zu kennen und in die pädagogische Arbeit zu integrieren. Das heißt im Zweifelsfall, Jugendliche damit zu konfrontieren. Dazu gehört auch, sie medienpädagogisch für ein kritisches Medien- und Bildbewusstsein zu schulen, dessen sie in allen Lebenslagen bedürfen. Jugendliche und pädagogische Fachkräfte müssen verstehen, welche Aussagen und Bilder Propagandamittel sind, woher sie kommen, ob und in welcher Weise sie manipuliert wurden.
Das Interview erschien in der Broschüre: „Man wird ja wohl Israel noch kritisieren dürfen…“? Eine pädagogische Handreichung zum Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung