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Das diskrete Pathos wissenschaftlicher Antisemitismusverharmlosung Über offene Briefe, “Israelkritik” und den “Streitfall” Antisemitismus

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Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. (Quelle: Flickr / Philippe Amiot / CC BY 2.0)

Öffentliche Debatten über Antisemitismus sind eine zwiespältige Angelegenheit: Einerseits schaffen sie ein häufig ambivalentes gesellschaftliches Bewusstsein über den Problemzusammenhang, andererseits ist ihr fachlicher Ertrag zumeist vollkommen vernachlässigenswert. Die Auseinandersetzungen Mitte der 1980er bis Ende der 1990er Jahre – der Historikerstreit, die Walser-Bubis-Debatte, die Goldhagen-Debatte etc. – prägen bis heute im Guten wie im Schlechten maßgeblich das, was unter dem Stichwort Erinnerungskultur firmiert, und brachten gleichzeitig aus wissenschaftlicher Perspektive kaum neue Erkenntnisse. Aber die Berge an Papier, Feuilleton-Artikeln, Traktaten, Polemiken, Gegenpolemiken, Talkshows, Podien usw. wollten ja kein selbstreferentielles Sittenbild für künftige Generationen abgeben. 

Vielmehr handelte es sich um gesellschaftliche Interventionen, die mit dem Anspruch auftraten, einen akademischen Disput zu vermitteln. Damals wurde vor allem über die Frage nach der deutschen Schuld und immer wieder über die Singularität von Auschwitz diskutiert und das meinte oft noch die einfachsten Trivialitäten gegen den ständigen Geschichtsrevisionismus verteidigen zu müssen. Aus heutiger Sicht kann einem leicht schwindelig werden, wenn man die plumpen Schuldabwehrmotive in deutschen Talkshows zur Zeit der Goldhagen-Debatte am Werk sieht oder sich die angebliche “Auschwitzkeule” in Erinnerung ruft, die spätestens seit Martin Walsers Rede in der Paulskirche immer wieder angeführt wird, um endlich einen Schlussstrich zu forden. 

Die Diskussion ist heute weiter, mag man meinen, und in mancherlei Hinsicht stimmt das auch. Aber dennoch werden gegenwärtig im deutschen Feuilleton kontinuierlich an vermeintlich immer neuen Gegenständen noch die simpelsten Einsichten zu aktuellen Formen des Hasses gegen Jüdinnen und Juden infrage gestellt. Diese Debatten irritieren, weil in ihnen auch von eigentlich kundiger Seite Dinge behauptet werden, die nicht stimmen – oder wenigstens: so nicht stimmen. Insbesondere in der politischen Bildungsarbeit sind diese Debatten Segen und Fluch: Einerseits verdeutlichen sie die Dringlichkeit, sich dem Problem anzunehmen, und bieten unentwegt neuerliches Diskussionsmaterial, andererseits werden hier auch Motive der Bagatellisierung von Antisemitismus bereitgestellt, die ihren Niederschlag im Alltagsbewusstsein finden. Mythen der Verharmlosung oder Abwehr tauchen fragmentiert immer wieder in Form von Fragen oder Einwänden auf, nicht selten vermeintlich legitimiert über ihre prominente Stellung im bürgerlichen Feuilleton. Der wahrscheinlich häufigste Mythos: Man darf nichts mehr über Israel sagen, ohne sofort als Antisemit abgestempelt zu werden.

Eine Folge dieses Mythos sind auch die neuesten Angriffe auf Felix Klein sowie sein Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Die Angriffe sind der traurige vorläufige Höhepunkt einer Debatte über Antisemitismus, die seit Jahren schwelt und jetzt an die Oberfläche getreten ist. Oftmals scheint dabei der Antisemitismusvorwurf schwerer zu wiegen als etwa die Tatsache, dass jemand antisemitische Texte veröffentlicht hat. Es sind Artikel wie der kürzlich von Aleida Assmann in der “Berliner Zeitung” veröffentlichte, die zu diesem Klima beitragen. Assmann behauptet, es gehe  “ein Gespenst um in Deutschland das Gespenst des Antisemitismusvorwurfs”. Assmann wollte damit sagen, dass es Personen in Deutschland gäbe, allen voran Felix Klein, die diesen Vorwurf gezielt einsetzten. Das Gegenteil ist richtig. Personen wie Klein oder auch vor Jahren Jutta Ditfurth gegen Jürgen Elsässer oder eine Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung gegen Xavier Naidoo, die einen Antisemitismusvorwurf aussprechen, müssen sich auf was gefasst machen aber nicht diejenigen, denen der Vorwurf gilt..

Ein neuer Sammelband, herausgegeben von dem Historiker Wolfgang Benz, bis vor fast zehn Jahren Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Berliner TU, hat sich zur Aufgabe gemacht, diesen und andere Mythen mit dem diskreten Pathos wissenschaftlicher Expertise zu untermauern. Besondere Aufmerksamkeit erhielt der Band durch einen nachfolgenden offenen Brief von u.a. Wolfgang Benz adressiert an die Bundeskanzlerin, der versuchte den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein zu delegitimieren. In Streitfall Antisemitismus lässt Benz eine Reihe von Autor*innen öffentliche Debatten um Antisemitismus systematisch entschärfen. Der Streit um Entscheidungen der letzten Direktion des Jüdischen Museums, die antiisraelische Boykottbewegung BDS, den postkolonialen Philosophen Joseph-Achille Mbembe, antisemitische Gewalttaten im Jugendkontext, sowie die antisemitische Zeichnung eines Karikaturisten der Süddeutschen Zeitung – in all diesen Fällen wird in dem Buch der titelgebende „Streitfall” Antisemitismus mit der Verharmlosung von Antisemitismus ad acta gelegt. 

Dem Buch gehe es nicht um Polemik, „sondern um wissenschaftlich geführte und belegte Problemanalyse“ (S. 14) behauptet Benz in der Einleitung, nachdem er wenige Seiten zuvor polterte, der Anspruch des Jüdischen Museums Berlins sei größer „als der kleingeistigen Enge nörgelnder Kritiker begreifbar war“ (S. 8) und mit Moshe Zuckermann die Sorge um eine „zunehmend auf Zerstörung und Vernichtung Andersdenkender gerichtete Debatte“ (S. 12) teilte. Der immer wieder behauptete ostentativ nüchterne Tonfall wird also bereits in der Einleitung kassiert. 

Insgesamt lässt sich der Inhalt womöglich auf drei Hauptthesen reduzieren: 1. Die Thematisierung von Antisemitismus schade dem Kampf gegen Antisemitismus, 2. Es gäbe ein Tabu, Antisemitismus und (antimuslimischen) Rassismus zu vergleichen und 3. Es dürfe keine Kritik gegen die Politik Israels geäußert werden. Diese Thesen stehen symptomatisch für die Antisemitismusdebatten der letzten Jahre, die wir im Folgenden problematisieren wollen. Einschränkend möchten wir vorwegschicken, dass wie oft bei Sammelbänden, selbstverständlich nicht alle Beiträge jede These unterlegen und sich auch Argumente finden, die wir bekräftigen würden. Beispielsweise gibt es wirklich eine Tendenz, gerade in der Zeit nach 2015, Antisemitismus zu isolieren, indem die Judenfeindschaft zu einem beinahe ausschließlichen Ressentiment von Muslimen deklariert wird, was einerseits den aggressiven Antisemitismus der Rechten, aber auch den der Gesamtgesellschaft verharmlost. Der Sammelband reagiert aber weniger damit, das Problem in seiner Tragweite ernst zu nehmen, sondern den alltäglichen Antisemitismus immer wieder zu verharmlosen. Manche Teile von Beiträgen wirken auch merkwürdig deplatziert, sodass wir sie in der Kritik nicht berücksichtigen. Etwa schreibt Katajun Amirpur in ihrem Beitrag “Schurkenstaat Iran” über die oppositionelle iranische Zivilgesellschaft, ganz als würde dieser der Antisemitismusvorwurf gelten und nicht dem iranischen Regime, das immer wieder zur Vernichtung Israels aufruft.

1. „Die Thematisierung von Antisemitismus schadet dem Kampf gegen Antisemitismus“

An mindestens zwei Stellen wird frappierend offensichtlicher Antisemitismus im Jugendkontext geleugnet, wobei es sich lohnt, die Begründung nachzuvollziehen: Michael Kohlstruck schreibt über den Fall eines antisemitischen Angriffs, der sich im April 2018 in Berlin-Prenzlauer Berg ereignet hatte. Ein junger Mann mit einer Kippa wurde von einem anderen wiederholt mit dem Gürtel geschlagen, der dabei immer wieder „Yahud“ (Jude) rief. „Man kann hier ‚Antisemitismus‘ skandalisieren“, schreibt Kohlstruck samt der distanzierenden Anführungszeichen, „[d]ifferenzierter würde man den Fall verstehen, wenn man den Angriff als strafbare Körperverletzung bewertet und die Tätermotive als jungmännertypisches Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politisierten Kontext des Nahost-Konflikts lokalisiert.“ (S. 142) Kohlstruck beansprucht, den Begriff Antisemitismus zu problematisieren, weil unter ihm alles von der Shoah bis zum Berliner Gürtelangriff subsumiert werden könne: „Unter dem Dach des Allgemeinbegriffs ‚Antisemitismus‘ wird damit ein unausgewiesener Objektwechsel vom Makroverbrechen des Holocaust zu Vorfällen vorgenommen, die man ohne diese Bedeutungsrahmen der leichten Kriminalität zuordnen würde.“ (S. 141f.) In politikwissenschaftlich anmutender Sprache verbrämt wird hier das Argument des Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke, Dieter Dehm, aufgewärmt, Antisemitismus sei Massenmord und müsse dem Massenmord vorbehalten bleiben. Nun begann die organisierte Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden nicht mit Auschwitz, sondern mit Emanationen des Antisemitismus, verbaler Gewalt und physischen Übergriffen, die Kohlstruck doch nicht der „leichten Kleinkriminalität“ zurechnen wollen würde. Der Versuch, Antisemitismus weg zu definieren, wird ergänzt mit seiner verbürgerlichten Normalisierung: Gruppenfeindschaften „sollen zivilisiert und in möglichst zivilen Formen ausgetragen werden“. (S. 148)

Juliane Wetzel schlägt in eine ähnliche Kerbe: „Wenn selbst Schüler, die auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit ‚Du Jude‘ beschimpfen, als Antisemiten tituliert werden, dann läuft etwas ziemlich schief.“ (S. 61) Antisemitismus sei vor allem durch Verschwörungsdenken und unüberwindliche Charaktereigenschaften geprägt, die Juden zugeschrieben werden: „Will man allen Ernstes Kindern unterstellen, sie seien Teil einer solchen Sphäre? […] Das Schimpfwort ‚Du Jude‘ kann, muss aber keine antisemitische Konnotation haben. Es kann als Provokation eingesetzt werden und/oder es wird synonym zu ‚Du Opfer‘ verwendet.“ (Ebd.) Kaum vorstellbar, dass ähnliche Pausenhofsbeleidigungen, wenn sie mit rassistischer, frauenfeindlicher oder ableistischer Wortwahl daherkommen, auf diese Art von renommierten Forscher*innen der jeweiligen Fachgebiete entschärft würden. Irritierend auch die Beschwichtigung, wenn “Du Jude” schlicht “Du Opfer” bedeutet, sei es kein Antisemitismus. Tatsächlich macht Antisemitismus Jüdinnen und Juden zu Opfern einer mörderischen Praxis, damit werden sie aus antisemitischer Sicht zum Synonym für ebendieses.

Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und damit sind auch Kinder oder Jugendliche durch ihre Sozialisation mit antisemitischen Ressentiments konfrontiert, die sie unter Umständen auch verinnerlichen. Viel wichtiger aber noch als die Absicht oder subjektive Motivation ist die Wirkung des Gesagten: Mag es bisweilen nicht in der Absicht von Schüler*innen liegen, reproduziert die Aussage doch die antisemitische Ideologie. Zudem ist die Thematisierung einer Aussage als antisemitisch oder nicht gerade nicht dasselbe wie die Frage, ob jemand ein*e Antisemit*in ist oder nicht. Der “Streitfall” der Beleidigung “Du Jude” wird nicht dadurch entkräftet, dass man einem Kind wohl kaum unterstellen möge, Antisemit*in zu sein. Die Botschaft ist es allemal, gewollt oder nicht. Pädagogisch ist es sicher in vielen Fällen nicht sinnvoll Jugendliche als Antisemit*innen zu „titulieren“, das scheint uns allerdings auch nicht Praxis zu sein. Viel häufiger folgen auf derlei antisemitische Beleidigungen – wie Julia Bernstein in ihrer jüngsten Studie Antisemitismus an Schulen in Deutschland (2020) dargelegt hat – die Arten von Bagatellisierung, die hier vorgeschlagen werden. Eine politisch wie wissenschaftlich adäquate Einschätzung zu israelbezogenem Antisemitismus im Schulkontext liefert Peter Widmann in seinem Beitrag zum Sammelband.

Begründet wird die Dethematisierung von Antisemitismus im Buch immer wieder damit, der Antisemitismusvorwurf stumpfe bei häufiger Verwendung ab. Shimon Stein und Moshe Zimmermann fassen diese Position in einem populären Bild zusammen: “Der Hirtenjunge, der zu oft den falschen Hilferuf ertönen ließ, wurde ja mitsamt seiner Schafe vom Wolf gefressen.” (S. 32) Die Skepsis vor “falschen Hilferufen” schließt selbst die neueren Meldestellen für antisemitische Vorfälle mit ein. Daniel Cil Brecher konstatiert eine angebliche Diskrepanz zwischen der jüdischen Wahrnehmung von Antisemitismus und tatsächlichen Übergriffen. Er rezipiert eine Studie der European Agency of Fundamental Rights von 2013, nach der 76% der Jüdinnen und Juden in Europa einen Anstieg von Antisemitismus beobachteten, jedoch lediglich zwischen drei und fünf Prozent “verbalen oder physischen Attacken ausgesetzt waren”. (S. 55) Die Studie selbst hingegen spricht eine andere Sprache: Dort heißt es, 21% gaben an, allein in den 12 Monaten vor dem Erhebungszeitpunkt antisemitische verbale Beleidigungen, Belästigungen oder physische Übergriffe selbst erlebt zu haben. Die von Brecher zitierte Zahl gibt das Erleben von physischer antisemitischer Gewalt bzw. Androhung derselben im selben Zeitraum wieder. Mit dieser Reduktion von Antisemitismus auf physische Angriffe und ihrer Androhung wird  auch die Arbeit des Monitoring suspekt. Brecher schreibt: “Das Gespräch über Antisemitismus in der Bundesrepublik ist in einen argumentativen Zirkel geraten, der von der Berichterstattung in den Medien, von den Zahlen der Meldestellen und vom Gespräch im jüdischen Umfeld genährt wird”. (S. 56) Aus dem Versuch, alltägliche antisemitische Vorfälle ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen und nicht länger zu verschweigen,wird ein angeblicher Zirkelschluss konstruiert. Auf die “Gefahr, dass die erhobenen und dann veröffentlichen Zahlen [von der Meldestelle RIAS, d.A.] ein Bild zeichnen, das eine permanenten Zunahme antisemitischer Vorfälle suggeriert” (S. 63), weist auch Wetzel hin, womit der Ansatz des Monitoring, den Status Quo überhaupt erst sichtbar zu machen, verfehlt wird. Dagegen gilt es festzuhalten, dass es Meldestellen wie RIAS zu verdanken ist, dass heute überhaupt eine Einschätzung der antisemitischen Fälle möglich ist.

2. Es gibt ein Tabu, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zu vergleichen

In seinem ersten eigenständigen Beitrag im Buch “Anspruch auf Einzigartigkeit. Darf man Ressentiments gegenüber verschiedenenen Minderheiten vergleichen?” konstruiert Benz ein vermeintliches Tabu, Rassismus und Antisemitismus miteinander ins Verhältnis zu setzen. Neben einiger begrifflicher Unsicherheit, beispielsweise der mangelnden Differenzierung zwischen Vorurteil und Ressentiment, vertritt Benz hier seine schon öfter vorgetragene These: “Die Methode der Diskriminierung ist von einer Gruppe [den Jüdinnen und Juden, d.A.] auf eine andere [die Muslime, d.A.] übertragbar.” (S. 86)  Frappierend dabei ist, dass Benz mit einer geschichtlichen Bestimmung des Antisemitismus – die im Übrigen an die historisch fundierte Analyse früherer Arbeiten erinnert –, dieser These selbst permanent Gegenargumente liefert. So zitiert er etwa den antisemitischen Autoren Wilhelm Marr aus dem 19. Jahrhundert mit den Worten: “Ein Volk von geborenen Kaufleuten unter uns, die Juden, hat eine Aristokratie, die des Geldes, geschaffen, welche alles zermalmt von oben her, aber zugleich auch eine kaufmännische Pöbelherrschaft, welche durch Schacher und Wucher von unten herauf die Gesellschaft zerfrisst und zersetzt.” (Ebd.) Diese Gleichzeitigkeit von Inferioritäts- und Superioritätsunterstellung ist dem Antisemitismus eigentümlich und gerade nicht auf andere ideologien wie den antimuslimischen Rassismus übertragbar, wo die Zuschreibung von Unterlegenheit, eines weniger zivilisierten, weniger wertvollen Feindes überwiegt. Verschwörungstheorien ranken sich um das Bild des “reichen Juden”, nicht das des “reichen Moslem”. 

Um aber seine Thesen zu untermauern, es gäbe dazu doch ein antimuslimisches Argument, zieht Benz (auch nicht zum ersten mal) die völkisch rechten Stichwortgeber Udo Ulfkotte und Thilo Sarrazin heran, allerdings mit einigen folgenreichen Auslassungen: “Autor Ulfkotte hatte den verschwörerischen Geheimbund in der Muslim-Bruderschaft ausgemacht, die 1982 einen ‘Masterplan’ zur Eroberung der Welt ausgeheckt habe” (S. 92). Die Personalisierung der Verschwörungen seien Benz zufolge also austauschbar. Nur ist das Argument in zweierlei Hinsicht nicht stichhaltig: Bei der Muslim-Bruderschaft handelt es sich tatsächlich um eine Art islamistische Verschwörung, ihr Vordenker Yusuf al-Qaradawi gab selbst die Losung aus, man müsse Staaten mit der Ideologie der Muslim-Bruderschaft unterwandern. Das rechtfertigt selbstredend nicht Ulfkottes Rassismus, ist aber etwas grundlegend anderes als der Verschwörungsmythos, die Juden würden im Geheimen die Geschicke der Welt lenken. Diese antisemitischen Verschwörungsideologien lässt Ulfkotte jedoch keinesfalls aus, was Benz zu ignorieren scheint. In seinem Buch Gekaufte Journalisten (2014) ist etwa von “Spinnennetzen vor allem amerikanischer und israelischer Einflussgruppen” die Rede und unentwegt geht es um die angeblichen finsteren Machenschaften George Soros’. Auch Sarrazins Rassismus ersetzt nicht einfach den Antisemitismus, auch wenn dessen Gespinste über ein “Juden-Gen” den Antisemitismusforscher Benz im Beitrag keine Bemerkung wert zu sein scheint.

Diese Art der Auslassung stellt sich auch allzu oft bei der Besprechung der neurechten Verschwörungserzählung vom “großen Austausch” ein, an der man die unterschiedlichen Funktionen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus wie im Brennglas sehen kann. Die Erzählung behauptet, die deutsche oder wahlweise europäisch-weiße Bevölkerung werde nach und nach durch muslimische Einwanderer*innen ausgetauscht. Plausibilisiert werden soll das durch unterschiedliche Geburtenraten. Bis dahin wird die Story oft rezipiert. Ausgelassen wird dann aber etwas Essenzielles: der vermeintliche Kopf hinter dem Plan. Denn die Migrationsströme passieren in dieser Geschichte nicht einfach, sie werden gelenkt. Und zwar von “dem Juden”, meist in Form des amerikanischen Philantropen George Soros. Hier erkennt man gut den Unterschied: Muslim*innen werden als passive Verfügungsmasse vorgestellt und Jüdinnen und Juden als aktive und sinistre Gestalten, die den Weltengang lenken. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus ergänzen sich, haben allerdings unterschiedliche Strukturen..

Auch Daniel Bax wirft in seinem Beitrag die “Frage” auf, “ob und inwieweit man Vorurteile und Ressentiments gegen Juden mit jenen vergleichen darf, die sich gegen andere Gruppen wie etwa Muslime richten.” (S. 115) Wem sich diese Frage stellt, bleibt ungeklärt, in Forschung und Praxis wird seit langem versucht, Rassismus und Antisemitismus zusammen zu denken, mal mit mehr mal weniger glücklichem Ausgang, tabuisiert ist der Vergleich keinesfalls. Was aber zurecht auf Kritik stößt, sind “Vergleiche”, mit denen alle Unterschiede verwischt werden, und vollkommen unplausibel behauptet wird, das eine ließe sich auf’s andere reduzieren oder habe es in seiner Funktion abgelöst. Wenn etwa Wetzel feststellt, “Vergleich und Differenzierung als oberstes Gebot der Wissenschaft zu benennen bedeutet eigentlich, Eulen nach Athen tragen” (S. 78), ist ihr zuzustimmen, außer dass es in der Wissenschaft keine obersten Gebote gibt. Jedoch wird sich ja eher nicht über den Vergleich zwischen Antisemitismus und Rassismus echauffiert, solange er die gewichtigen Unterschiede (“Differenzierung”!) beinhaltet, die der Sammelband, insbesondere der Beitrag von Benz vermissen lässt.

3. Es darf keine Kritik gegen Israel geäußert werden

Wahrscheinlich liegt die Kernthese des Buches, auch nochmal bekräftigt durch einen offenen Brief, den u.a. Wolfgang Benz kurz nach Veröffentlichung zusammen mit rund 60 “besorgten deutschen und israelischen Bürgerinnen und Bürgern” an die Bundeskanzlerin geschickt hat, im Vorwurf, man dürfe keine Kritik gegen die Politik Israels äußern, ohne sogleich als Antisemit*in bezeichnet und aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen zu werden. Zum Teil wird dieses angebliche Tabu beinahe verschwörungstheoretisch anmutend begründet. So schreibt Benz in der Einleitung “Die extensive Auslegung dieses in erster Linie politischen Phänomens [des israelbezogenen Antisemitismus, d.A.] ist ein Anliegen des zuständigen israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten.” (S. 9) Die unheimliche Macht israelischer Public Relations wird allerorts hinter der postulierten Schwierigkeit vermutet, israelische Politik zu kritisieren. Insbesondere Bax spinnt diesen Faden weiter, wenn er den Zentralrat der Juden in Deutschland zum Agent israelischer Außenpolitik stilisiert. Aber auch andere Autor*innen bedienen den Mythos. Alexandra Senfft schreibt, nach der Arbeitsdefinition Antisemitismus, “wird jegliche Kritik an Israel als Bedrohung für das jüdische Leben weltweit definiert und folglich jeder Befürworter von BDS willkürlich zum Antisemiten gestempelt.” (S. 277) Muriel Assenburg behauptet der BDS-Beschluss des Bundestages sei “nur im Zusammenhang mit einer breit angelegen Kampagne der israelischen Regierung zu verstehen”, die im Kern darauf abziele, “Kritik an israelischer Regierungspolitik pauschal als antisemitisch zu diskreditieren, Kritiker als Terroristen oder Antisemiten zu dämonisieren und ihre Unterstützer einzuschüchtern.” (S. 292f.) Überhaupt ist man im Buch schnell dabei, BDS Unbedenklichkeit zu attestieren. Benz schreibt: “Die nach ihrer Intention nicht judenfeindliche und das Existenzrecht Israels nicht bedrohende Boykottbewegung BDS will ohne Gewalt mit ökonomischen Mitteln eine Änderung der israelischen Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten herbeiführen.” (S. 12) Offenbar hat Benz nicht mitbekommen, dass BDS sich angesichts der tatsächlichen Wirkungslosigkeit ökonomischer Boykotte auf die kulturelle und politische Isolierung Israels verlegt hat und immer wieder einem Klima der Einschüchterung gegen Israelis aber auch allgemein Jüdinnen und Juden zuarbeitet. Mag es auch nicht in der Intention aller BDS-Unterstützer*innen liegen, Antisemitismus zu verbreiten, die Hauptziele von BDS laufen auf die faktische Abschaffung Israels hinaus. Durch das ‘Rückkehrrecht’ sollen die demographischen Verhältnisse derart verändert werden, dass Israel kein mehrheitlich jüdischer Staat mehr wäre, und die Forderung nach dem Abbau von Sicherheitsanlagen ignoriert die lebensbedrohliche Gefahr, der israelische Bürger*innen dadurch ausgeliefert wären.

Aus der Kernthese, man dürfe Israel nicht kritisieren, folgten in den letzten Monaten und Jahren politische Einlassungen: Angriffe auf die Arbeitsdefinition des Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance, Kritiken des BDS-Beschlusses des deutschen Bundestages sowie neuerdings auch Angriffe auf den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. Immer geht es darum, ein Verständnis von Antisemitismus in Frage zu stellen, das in den letzten Jahren hart erkämpft worden ist und indem alle Formen des Antisemitismus thematisiert werden. Damit sind wir beim Punkt: Durch die IHRA-Arbeitsdefinition, den BDS-Beschluss und die Arbeit von Felix Klein wird eben auch israelbezogener Antisemitismus thematisiert. Genau das wird jetzt aber Felix Klein in diesem offenen Brief vorgeworfen. Er würde mit “politischer und finanzieller Unterstützung” das Verbot der Israelkritik durchsetzen. Auf diese Behauptung hat die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel im Deutschlandfunk reagiert, indem sie den Umgang der Briefeschreiber mit Fakten mit demjenigen von Donald Trump vergleicht. Denn es handelt sich bei der Behauptung, man dürfe nichts gegen Israel sagen, weil jede Kritik an Israel als antisemitisch gelte, um “Alternative Fakten”, um Fake News. Es ist schlicht Unfug, dass man in Deutschland Israel nicht kritisieren darf oder dafür als Antisemit*in geschmäht würde. Der Blick in eine beliebige deutsche Tageszeitung beweist das, wie Schwarz-Friesel sehr gut weiß: 2012 etwa analysierte sie 400 Schlagzeilen deutscher Zeitungen und kam zu dem Ergebnis, dass in über drei Viertel Israel als Aggressor dargestellt wird. Im DLF stellt Schwarz-Friesel fest:

“Eine der Hauptaussagen ist ja, Kritik an Israel würde prinzipiell jetzt immer gleichgesetzt mit Antisemitismus. Das stimmt ja so überhaupt nicht, das Gegenteil ist ja eigentlich der Fall. Niemand behauptet das, ich kenne niemanden von Sinn und Verstand, niemand aus der Forschung, niemand in den Medien – ich habe das auch empirisch überprüft an Hunderten von Texten – hat allen Ernstes jemals gesagt, legitime Kritik an israelischer Regierungspolitik sei Antisemitismus. Die Einzigen, die das behaupten, sind eigentlich diese Briefeschreiber. Also das ist ein Phantasma in den Köpfen.”

Aber dieses Phantasma prägt die Debatten. Das Gespenst des Antisemitismusvorwurfs geht nicht um, aber vor seiner phantasmatischen Gestalt wird gewarnt. Dazu passt die Geste, in den größten Tageszeitungen zu behaupten, man dürfe ja nirgendwo schreiben und fände kein Gehör. Auch diese Geste erinnert frappierend an Aussagen, die man eigentlich aus der rechten Ecke kennt. Einiges spricht dafür dass das Phantasma des Antisemitismusvorwurfs zur Auschwitz-Keule unserer Zeit wird. 

Ein weiteres Dokument für die Nachwelt

Bisweilen entbehrt das Buch nicht einer unfreiwilligen zynischen Komik, etwa wenn Brecher die Überführung des massenmordenden Schreibtischtäters Adolf Eichmanns nach Israel einen “unrechtmäßigen Akt der Entführung” nennt, Benz sich mit Eva Illouz über Rücktrittsforderungen beschwert, nachdem er wenige Zeilen zuvor Rücktrittsforderungen gegen den Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, Felix Klein, als Verteidigung der “Freiheit der Wissenschaft” lobte (S. 16) oder Thomas Knieper beim Versuch, die eindeutig antisemitische Karikatur Netanjahus als harmlos auszuweisen (“Netanjahu besitzt nun mal eine große Nase und abstehende Ohren” (S. 199)) und gleich noch Krakendarstellungen als “klassisches Symbol politischer Karikatur” (S. 209) rehabilitieren möchte. Die Widersprüche, in welche sich die Autor*innen ständig verheddern, rühren aus dem Anspruch, zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, nämlich Antisemitismus.

„Der Begriff Antisemitismus wird zum Schlagwort im Wortsinne, wenn er nur politischen Zwecken dient, und zwar dazu, ohne Differenzierung mundtot zu machen“ (S. 14), verlautet Benz und gibt damit den Ton vor, der bei der nachfolgenden Lektüre zu einem ohrenbetäubenden Crescendo von Auslassungen und Verharmlosungen ansteigt. Warum sich Forscher*innen mit einigem wissenschaftlichen Renommee in diese Niederungen begeben, bleibt ein Rätsel, aber eines, das sich nicht zum ersten mal stellt. Wie in den eingangs zitierten Debatten wird das Buch ein Zeitdokument bleiben, das in weiten Teilen den betrüblichen Stand dessen beschreibt, wogegen die Antisemitismuskritik auch weiter praktisch ankämpfen muss.

Foto: Flickr / Philippe Amiot / CC BY 2.0

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