Vor wenigen Wochen jährte sich zum ersten Mal der antisemitische Anschlag in Halle (Saale), bei dem ein Rechtsterrorist versuchte, an Yom Kippur die Synagoge zu stürmen, um ein Blutbad anzurichten. Die Tage zwischen dem diesjährigen Yom Kippur am 28.09. und diesem Jahrestag am 9. Oktober war für viele, insbesondere für Jüdinnen und Juden in Deutschland, eine Zeit des Gedenkens an diesen antisemitischen Anschlag der jüngsten Vergangenheit. In derselben Woche ereigneten sich aber auch gegenwärtige antisemitische Vorfälle.
In Hamburg wurde ein Jude vor einer Synagoge brutal niedergeschlagen. In Berlin kam es in einer Synagoge zu antisemitischen Schmierereien. In Wetzlar wurde eine Ausstellung zerstört, die jüdische Sportler*innen zeigt. In Halle selbst beschmierte jemand das Denkmal für die alte Synagoge. Und in Frankfurt am Main wurde auf einer linken Demonstration gerufen „Yallah Intifada“ und „From the river to the sea, Palestine will be free“. Eine Chronik antisemitischer Vorfälle muss alle fünf Fälle dokumentieren, auch wenn sie sehr unterschiedlich sind.
Allein diese eine Woche im Oktober zeigt wie alltäglich Antisemitismus in Deutschland ist. Um beurteilen zu können, ob antisemitische Vorfälle mehr werden, muss man sie dokumentieren. Eine Chronik bildet das ab. Wie groß das Dunkelfeld ist, zeigt sich insbesondere beim Blick in die Geschichte. Will man antisemitische Gewalttaten nach 1945 in einer Chronik dokumentieren, dann bleibt für die ersten Jahrzehnte der deutschen Nachkriegszeit kaum eine Datenbasis. Ronen Steinke, Autor von „Terror gegen Juden“, zeigt das eindrücklich in einer fast 100 Seiten langen Chronik antisemitischer Gewalt am Ende seines Buches. In den ersten Jahren, ja Jahrzehnten nach 1945 lassen sich vor allem Friedhofsschändungen und Beschädigungen von Mahnmalen belegen. Man bekommt den Eindruck, der Antisemitismus dieser Jahre habe sich nur gegen tote Juden gerichtet. Aber dem ist natürlich nicht so. Der Antisemitismus ist nach 1945 nicht verschwunden. Er prägte (und prägt) den Alltag und das Leben deutscher Jüdinnen und Juden in all den Jahren. Nur gab es niemanden, der das dokumentierte.
Die Datenbasis ist seit vielen Jahren besser geworden. Mittlerweile gibt es mit der Recherche und Informationsstelle Antisemitismus, kurz RIAS, einen Ort, an dem antisemitische Vorfälle gemeldet werden können. Dadurch wissen wir mehr über den Antisemitismus in Deutschland. Und das durchaus ungleich: wo es RIAS schon länger gibt, wie in Berlin, werden viel mehr Vorfälle dokumentiert, als in den Bundesländern, wo eine solche Meldestelle (noch) fehlt. Man sieht: Ob man als Gesellschaft Antisemitismus wahrnimmt oder nicht, hängt auch davon ab, ob und wie die antisemitischen Vorfälle sichtbar gemacht werden. Jüdinnen und Juden sind alltäglich damit konfrontiert.
Steinkes Chronik ragt bis ins Jahr 2020 hinein. Desto besser seine Datenlage wird, desto diverser werden die Fälle: Im November 2018 wurden in Chemnitz Stolpersteine beschädigt, in Berlin-Wedding wurde eine Frau wegen des Tragens einer Pro-Israel-Tasche bespuckt und in Berlin Wilmersdorf ein Mann antisemitisch beleidigt und niedergeschlagen. Drei Fälle antisemitischer Gewalt innerhalb weniger Tage; unterschiedlich in Ziel, Mittel und Effekt.
Allgemein gesprochen ordnet eine Chronik Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge. Diese Ereignisse haben etwas gemeinsam, das der Grund dafür ist, warum jenes Ereignis mitgezählt wird und ein anderes nicht. Es geht in einer Chronik nicht um die Dokumentation der Wiederkehr des Immergleichen, sondern um die Abbildung der Wiederkehr der Ähnlichen, wie der Historiker Alf Lüdtke das einmal nannte. Bei der Chronik antisemitischer Vorfälle ähneln sich die Ereignisse darin, dass sie antisemitisch sind oder zumindest mit gutem Grund als antisemitisch bezeichnet werden können, auch wenn sie sich in Intensität, Reichweite, Ziel und Wirkung unterscheiden können. Zwischen dem versuchten Mord in Hamburg und dem Rufen israelfeindlicher Parolen auf einer linken Demo besteht ein Unterschied, ohne Frage; aber es besteht eben auch ein Zusammenhang, der es rechtfertigt, diese Ereignisse in eine Kontinuität zueinander zu bringen, sie in einer Chronik zu vereinen. Die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (kurz IHRA) ist ein sinnvoller Maßstab zur Beurteilung, was antisemitisch ist, und einer, auf den sich viele geeinigt haben.
Wie soll man mit den Unterschieden umgehen? Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, spricht regelmäßig davon, dass man Antisemitismus nicht hierarchisieren sollte (vgl. Belltower.News). Die Debatten über Antisemitismus sind genau davor nicht gefeit. Es ist auffällig, dass insbesondere als Streitfall gilt, was mit israelbezogenem Antisemitismus zu tun hat. Der wird nicht selten als harmloser wahrgenommen oder in seiner Existenz ganz geleugnet. Dass „Yallah Intifada“ kein harmloser Ausruf ist, dürfte jeder*m Israeli klar sein. Und es sind insbesondere Fälle israelbezogenen Antisemitismus bei der eine Debatte darüber entsteht, ob das jetzt wirklich in eine Chronik antisemitischer Vorfälle aufgenommen gehört.
Auch der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus hat einst eine konsequente Erfassung und Veröffentlichung antisemitischer Straftaten gefordert, was vom Deutschen Bundestag im Januar 2018 als Aufgabe aufgegriffen wurde. Die Neugründung von Meldestellen nach dem Vorbild von RIAS in verschiedenen Bundesländern ist eine direkte Folge aus dieser Forderung.
Im Kampf gegen Antisemitismus ist es wichtig, sich ein Bild von der Lage machen zu können. Bei den Straftaten darf man allerdings nicht stehen bleiben. Meldestellen wie RIAS versuchen bewusst, auch solche Vorfälle zu benennen, die unter der Strafbarkeitsgrenze liegen, um einen realistischen Eindruck von der alltäglichen Gefahr des Antisemitismus für Jüdinnen und Juden, aber auch für jüdische oder als jüdisch gelesene Organisationen zu geben. Denn das Dunkelfeld muss erhellt werden, um Antisemitismus in all seinen Formen erkennen und bekämpfen zu können.