?Du Jude!?, ?Du Opfer!?, ?Du Schwuchtel? ? menschenverachtende und antisemitische Beleidigungen sind auf deutschen Schulhöfen und Jugendzentren aktuell weit verbreitet! Auch im ?comX?, einem Kinder-, Jugend- und Familienzentrum im Berliner ?Märkisches Viertel?, fallen solche und ähnliche Beleidigungen regelmäßig. Der Leiter des ?comX?, Filippo Smaldino-Stattaus, wollte das nicht einfach hinnehmen. Er suchte bei der Amadeu Antonio Stiftung Rat, die im Bezirk Reinickendorf schon durch ihr Projekt ?Ghetto ist immer wo anders? bekannt ist.
Ein diskriminierendes Klima im Kiez
Smaldino-Stattaus hatte die Idee, mit den Jugendlichen die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu besuchen. Dr. Andrés Nader von der Amadeu Antonio Stiftung bot Hilfe an. Seit April arbeitet er nun mit einer Gruppe von 17 Jugendlichen, alle im Alter zwischen 15 und 23 Jahren, die regelmäßig das ?comX? besuchen. Hauptziel ist es, die Jugendlichen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah anzuregen. Aber auch die Reflektion über die eigene Geschichte der Jugendlichen wird nicht vergessen.
Alle aus der Gruppe haben Migrationserfahrungen, die meisten wurden in muslimischen Milieus sozialisiert, viele sind schon selber Opfer rassistischer Diskriminierungen und Ausgrenzungen geworden. ?Gerade Jugendliche, die wegen ihrer ?Herkunft? von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden, bringen sich durch antisemitische Äußerungen in noch prekärere Situationen, da die Gesellschaft sie dann nur noch als Problem behandelt?, beobachtet Andrés Nader. Durch homophobe und antisemitische Äußerungen würden die Jugendlichen außerdem zu einem diskriminierenden sozialen Klima im Märkischen Viertel beitragen.
Interessiert Kinder mit Migrationshintergrund die Shoah?
Im Oktober werden die Jugendlichen die Gedenkstätte des größten NS-Vernichtungslagers besuchen. Dabei werden sie von der Amadeu Antonio Stiftung und den Jugendarbeiterinnen des ?comX? begleitet. ?Mit einer intensiven Vorbereitung kann ein solcher Besuch den Jugendlichen eine Gelegenheit zur persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust anbieten und sie somit für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands sensibilisieren?, erklärt Nader.
Eigene Bilder, eigene Geschichten
Am vergangenen Donnerstag war die Gruppe nun in der Gedenkstätte ?Haus der Wannsee-Konferenz? zu Besuch. Bildungsreferentin Elke Gryglewski führte die Jugendlichen durch die Ausstellung. Sie hat sich viel damit auseinandergesetzt, wie Jugendliche heute mit der Shoah umgehen. Gerade schreibt sie ihre Doktorarbeit über ?Arabisch-palästinensische und türkische Berliner Jugendliche und ihr Verhältnis zur Geschichte des Nationalsozialismus?. Am Donnerstag legte sie vor allem Wert darauf, dass die Jugendlichen ihren eigenen Zugang zur Ausstellung finden. Dafür mußten sich alle ein spezielles Bild der Ausstellung aussuchen und überlegen, was sie mit diesem verbinden können. Enes* wählte ein Bild mit rassistischen Darstellungen aus den 1930ern mit der Begründung, dass auch er ?so etwas? schon selber erlebt habe.
Anderen haben die Gemälde von KZ-Häftlingen am meisten berührt. Auf diesen kann man das Grauen der Nazis aus der Sicht der Opfer sehen. Nach dem Rundgang waren alle sehr im Thema. ?Warum hat es eigentlich ausgerechnet die Juden getroffen??, wollte die 18-jährige Sibel* wissen. Nachfragen wie diese zeigen Gryglewski, dass ihr Konzept aufgegangen ist. Auch bei den Jugendlichen kam der Tag überwiegend gut an. ?Elke ist die Coolste. Die hört richtig darauf, was wir zu sagen haben? fand zum Beispiel Sibel*.
Soziale und kulturelle Kompetenzen steigern
In der Schule wurde den Jugendlichen aus migrantischen Communities dagegen oft signalisiert, sie müßten sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands nicht auseinandersetzen. Nader und Gryglewski finden, alle Jugendlichen, die hier aufwachsen, egal mit welchem Hintergrund, hätten die Verantwortung und das Recht, sich mit der Geschichte auseinander zu setzen. In dem Projekt können die Jugendlichen ohne ?Notendruck? die Geschichte der Shoah erlernen. Sie können ihre sozialen und kulturellen Kompetenzen steigern und dann im ?comX? und anderswo von ihren Erfahrungen berichten. Dadurch, so erhoffen sich die Projektorganisatoren, können die Jugendlichen dann ihren Teil zu einem diskriminierungsfreien Klima in ihrer Umgebung beitragen.
*Alle Namen von Jugendlichen geändert.
Das Projekt wird gefördert im Rahmen vom Bundesprogramm „VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ durch den Lokalen Aktionsplan in Reinickendorf.