Bisher hatte AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel vor allem die öffentliche Funktion, die AfD bürgerlicher und vielseitiger erscheinen zu lassen. Eine lesbische Betriebswirtschafterin mit internationaler Arbeitserfahrung, die mit ihrer Freundin aus Sri Lanka in eingetragener Lebenspartnerschaft lebt und zwei Söhne hat, an der Spitze einer rechtspopulistischen Partei – das sollte, trotz anderslautender Parteiprogramme und Äußerungen von Mitfunktionär_innen, der lebende Beweis sein, dass es mit der Homo- und Transfeindlichkeit, aber auch dem Sexismus in der Partei nicht weit her sei. Auch, dass die Partei nicht nur für alte weiße Männer interessant ist, sollte Alice Weidel verkörpern (vgl. BTN, II).
Doch ohne inhaltliche Übereinstimmungen kommt auch ein so gut passendes Alibi wie Alice Weidel nicht in die Führungsposition der AfD. Mit ihrer Islamfeindlichkeit hielt die 38-Jährige nie hinter dem Berg – begründet mit der angeblichen Angst vor Sexismus und Homofeindlichkeit „der Muslime“ äußerte sie schon früh rassistische und undifferenzierte Dinge über muslimische Migrant_innen und Geflüchtete (vgl. BTN). Auch bei der Elitenschelte, gerade in Bezug auf die Parteien in Deutschland, war Weidel stets dabei.
Trotzdem gefiel ihr offenbar auch ihr bürgerlich-konservatives Image: So sprach sie sich für ein Parteiausschlussverfahren gegen AfD-Rechtsaußen Björn Höcke aus, zu dem es dann allerdings (wieder einmal) nicht kam. Im laufenden Bundestagswahlkampf ist es mit der Zurückhaltung allerdings nicht mehr weit her: Wenn ihr Co-Spitzenkandidat Alexander Gauland Bundesintegrationsministerin Aydan Özoguz in der Türkei „entsorgen“ will, möchte Weidel sich nicht distanzieren, auch den Rassismus darin nicht sehen (gerade wiederholt, vgl. Welt). Ein Radikalisierungsprozess?
Offenbar nicht. Die „Welt am Sonntag“ veröffentlicht am Wochenende eine E-Mail, die Weidel im Jahr 2013 unter ihrer Email-Adresse an ihren damaligen Bekanntenkreis aus dem Frankfurter Finanzmilieu von Banker_innen, Kaufleuten und Unternehmenberater_innen geschickt haben soll. So versichert zumindest der Empfänger der Mail, die mit Weidels Spitznamen „Lille“ unterzeichnet ist, und untermauerte seine Aussage mit einer eidesstattlichen Erklärung. Die Mail ist brisant, weil sie nicht „nur“ rassistisch und demokratiefeindlich ist, sondern in rechtsextremer Sprache und Begrifflichkeit verfasst ist, wie sie in „Reichsbürger“-Kreisen verwendet wird.
In der Mail heißt es:
Satz 1: „Der Grund, warum wir von kulturfremden Voelkern wie Arabern, Sinti und Roma etc ueberschwemmt werden, ist die systematische Zerstoerung der buergerlichen Gesellschaft als moegliches Gegengewicht von Verfassungfeinden, von denen wir regiert werden.“
Das heißt:
Es gibt ein „Wir“.
Und es gibt „kulturfremde Völker“ – ein Begriff der „Neuen Rechten“, der den biologischen Rassismus (es gäbe „Rassen“) durch einen kulturalistischen Rassismus („verschieden Kulturen“) ersetzen will- und diese „Völker“ sind also der als „unsere“ definierten Kultur fremd: Hier genannt werden „Araber“ und „Sinti und Roma“ – beides offenkundig als rassistische und antiziganistische Sinnbilder dessen gemeint, was Weidel nicht als Teil „unserer“ Gesellschaft ansieht.
Bedrohung wird aufgebaut durch das Naturkatastrophen-Verb „überschwemmt“.
Die „Überschwemmung“ passiert aber nicht einfach, sondern hat für Weidel offenbar Methode -> „systematische Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft“. Und wer will die zerstören, sogar planvoll?
„Verfassungsfeinde(n), von denen wir regiert werden“ – Feind ist also die Bundesregierung, die Deutschland in diesem Weltbild bewusst zerstöre. Das ist, was Reichsbürger denken, die sowohl die Bundesregierung nicht anerkennen als auch Verschwörungserzählungen verbreiten, dass die Zerstörung dessen, was sie als „deutsch“ ansehen, bewusst geschehe.
Vgl. zu beliebeten Verschwörungserzählungen: Begriffe, Trends und Dauerbrenner der Verschwörungsideologien
Satz 2: „Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK und haben die Aufgabe, das dt Volk klein zu halten indem molekulare Buergerkriege in den Ballungszentren durch Ueberfremdung induziert werden sollen.“
„Diese Schweine“ – Entmenschlichung durch Tier-Metapher
„Marionetten der Siegermächte des 2. Weltkriegs“ -> ist die antisemitisch konnotierte Verschwörungserzählung der „heimlichen Strippenzieher“ in der Welt kombiniert mit der bei Reichsbürger_innen beliebten Erzählung, deutsche Regierungen seien seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr unabhängig, sondern verträten andere als deutsche Interessen.
„Aufgabe, das deutsche Volk klein zu halten“ -> Verschwörungserzählung, dass Deutschland viel mehr Macht und Einfluss in der Welt haben könnte, wenn es nicht von externen Mächten geknechtet würde.
Und wie geschieht das? Durch „molekulare Bürgerkriege“, die in Städten stattfinden sollen und durch „Überfremdung“, also durch Migrant_innen ausgeführt werden sollen – immer noch, so die Verschwörungserzählung, im Auftrag der Bundesregierung, die ihren Auftrag dafür wiederum von der USA, Großbritannien, Frankreich und Russland bekomme („alliierte Siegermächte“).
Satz 3: „Lies doch mal diesen Link durch zur „Souveraenitaet“ Deutschlands.“
Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland in Frage zu stellen ist eine klassische Reichsbürger-Erzählung, vgl. BTN: Was wollen eigentlich Reichsbürger_innen?
Satz 4: „Dass D gar nicht souveraen ist, duerfte doch fuer den ekelhaften Fatalismus in der Tagespolitik z.B. unsere Enteignung durch die Eurorettung, korrumpierte Judikative (Bundesverfassungsgericht) erhellend sein…“
Hier wird die Verschwörungserzählung weitergesponnen: Weil also die Bundesregierung nicht für Deutschland arbeite, sondern für die „Siegermächte“, sei ihr also die Tagespolitik egal und damit auch die Beschädigung Deutschlands.
Die Beispiele sind hier die Eurorettung – und der Widerstand gegen Euro und Eurorettung führte ja zur Gründung der AfD.
Aber auch die „korrumpierte Judikative“, die in der Mail noch explizit als „Bundesverfassungsgericht“ benannt wird. Damit wird fundamentales Misstrauen gegen Deutschland als Rechtsstaat geäußert.
Satz 5: „Mehr dazu ein anderes Mal: http://www.terra-kurier.de/Deutschland.htm“
Dankenswerterweise benennt die Verfasserin hier auch noch eine Quelle all ihrer verschwörungsideologischen „Weisheiten“: Der „Terra-Kurier“ ist eine rechtsextreme, antisemitische Verschwörungs-Website mit Anknüpfungspunkten an esoterische Milieus in der Tradition von Jan Udo Holey, Ernst Zündel oder Horst Mahler. Auf der Website finden sich „Klassiker“ der Verschwörungsideologie von „9/11 als Inside Job“ über Ufos und Chemtrails bis zu verschwörungsideologischen Interpretationen aktueller Ereignisse (vgl. BTN), aber auch ausführliche Texte über eine angebliche zionistische Verschwörung gegen die Deutschen oder über das „Deutsches Reich“ als Heilsraum .
Über Alice Weidels Lesetipp freut sich die Redaktion übrigens: „Die Redaktion des TK möchte ganz entschieden nochmals betonen, regelmäßige Leser kennen diese Einstellung ja bereits, dass wir uns von jeglicher Nähe zu bundesdeutschen Systemparteien distanzieren. Dies gilt auch für die AfD und deren Vertreter und Kandidaten. Wenn allerdings diese Vertreter der Parteien auch den Terra-Kurier lesen und einige Artikel gar weiterreichen, dann begrüßen wir diese Haltung ohne Sympathisantentum für diese Partei zu entwickeln. Die Wahrheiten im TK sind für alle da!“
Die Sprache und Gedankenwelt dieser Email ist eindeutig: Nur jemand, der sich auf die Reichsbürger-Bewegung positiv bezieht, würde auf die Idee kommen, solche Worte und Ideen zu verbreiten.
Weidels Bekanntenkreis freute sich 2013 übrigens nicht über ihre Hinwendung zur rechtsextremen Ideologie und distanziert sich nach Mails wie dieser. Weidel war damals bereits bei der „Wahlalternative 2013“ engagiert, der Vorläufer-Organisation der AfD.
Die „Welt am Sonntag“ berichtet, dass Alice Weidel im Vorfeld versuchte, die Veröffentlichung der Mail zu verhindern. Nach der Veröffentlichung verlautbarte AfD-Sprecher Christian Lüth, Alice Weidel habe ihm versichert, die Mail stamme nicht von ihr, sie sei „eine Fälschung“. In einem Interview mit „Welt-Online“ am Sonntag, den 10.09.2017, nach Veröffentlichung der Mail fragt die Moderatorin Alice Weidel selbst, ob diese eine eidesstattliche Erklärung abgeben werde, dass die Mail nicht vor ihr stamme. Darauf sagte Weidel: „Das werden sie sehen, was wir tun werden.“ Ja sagt sie nicht.
Mehr im Internet
Interessant außerdem: Im „Welt-Online“-Chatinterview mit Alice Weidel am Sonntag werden einige interessante Themen angesprochen oder vielmehr wird einigen interessanten Themen ausgewichen, etwa Antisemitismus (Weidel unterstellt u.a. grünen und linken Politiker_innen, Israel das Existenzrecht absprechen zu wollen), politische Korrektheit (die überdeckt Zahlen, Daten und Fakten), die Distanzierung von Rechtsextremen in der Partei („Unsere Basis ist das Wahlprogramm“) oder wie sie sich fühlen würde, wenn jemand sie in die Schweiz entsorgen wollte (will sie nicht kommentieren).