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Aufklärung dauert noch Polizeigewalt am helllichten Tag mitten in Mannheim 

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Nicht ohne Zeug:innen: Viele Menschen filmten den Vorfall in Mannheim. Das wird hoffentlich zur Aufklärung des Falles beitragen. (Quelle: Screenshot Twitter)

Bisher ist zu dem Fall bekannt, dass ein Arzt des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit sich am 02.05.2022 an die Polizei wandte, mit der Bitte, einen Patienten zu suchen, der möglicherweise Hilfe brauche. Er hatte die Einrichtung gegen den Rat seines Arztes verlassen, und dieser befürchtete, dass der Mann sich etwas antun könnte. Der Mann war seit 20 Jahren wegen Angstzuständen in Behandlung. Zwei Beamte und der Arzt machten sich auf die Suche nach dem 47-jährigen Deutschen mit kroatischen Wurzeln. Die Polizisten fanden ihn, allerdings reagierte er nicht auf Ansprache und wehrte er sich gegen die Kontrolle, deshalb wurde er laut Polizeiangaben „überwältigt“.

Was das heißt, zeigen Videos im Internet, denn der Vorgang geschah in der Mannheimer Innenstadt, auf dem Marktplatz, in einem Viertel, das geprägt ist von Geschäften der migrantischen, vor allem türkischen Community in Mannheim: Die Polizisten knien auf dem Mann, mutmaßlich, um ihm Handschellen anzulegen. Sie drücken seinen Kopf, sein Gesicht gegen den Steinboden, dann folgen zwei heftige Faustschläge gegen den Kopf des Mannes. In Polizeisprache heißt das, „die Beamten“ hätten „unmittelbaren Zwang angewandt“ (vgl. Presseportal). Zuvor hatte der Mann bereits Pfefferspray ins Gesicht gesprüht bekommen.

Die Folge war drastisch: Laut Polizeiangaben sei der Mann sei daraufhin „kollabiert“ und „reanimationspflichtig geworden“. Er verlor das Bewusstsein, der anwesende Arzt versuchte, ihn wiederzubeleben, herbeigerufenen Rettungskräften brachten ihn in die Universitätsklinik Mannheim. Dort starb er.

Wie lückenlos wird die Aufklärung?

Weil die Bedrohung, durch Polizeimaßnahmen zu Tode zu kommen, für People of Colour (POC) in Deutschland ungleich höher ist, fordern Aktivist:innen, Politiker:innen und antirassistische Engagierte eine „lückenlose Aufklärung“ des Vorfalls. Etwa die Linken-Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Linke) aus Mannheim: „Strukturelle Defizite in der Polizei müssen beleuchtet werden. Es ist wichtig, mit weiteren Protestveranstaltungen den Druck aufrechtzuerhalten, damit es eine lückenlose Aufklärung gibt.“ Ebenso äußert sich gegenüber t-online der Vorsitzende des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats (BZI), Memet Kılıç: „Umso wichtiger ist es nun, dass die Polizei Mannheim, das Landeskriminalamt Baden-Württemberg und die Staatsanwaltschaft eine transparente und rassismuskritische Aufklärung dieses Todes vorantreiben.“

Damit läuft es bisher mittelmäßig. Ein Sprecher des Landeskriminalamtes (LKA) gab zunächst an, der Migrationshintergrund des Mannes „spielt für unsere Ermittlungen keine Rolle.“ Allerdings werde durch das LKA gegen die Einsatzbeamten ermittelt, wegen Verdachts der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge. Eine Wende gegenüber ersten Darstellungen, der Mann sie „plötzlich leblos zusammengebrochen“. Der angewendete „unmittelbare Zwang“ wurde dann zu „einfacher körperlicher Gewalt“ – das ist Gewalt ohne Hilfsmittel oder Waffen.

„Stumpfe, aber nicht massiver Gewalt“

Nach ersten LKA-Untersuchungen haben Rechtsmediziner am Leichnam Spuren „stumpfer, aber nicht massiver Gewalt“ gefunden. So sei etwa sein Gehirn nicht beschädigt worden. Der Mann habe aber unter einer Herzinsuffizienz (Herzschwäche) gelitten, was zu einem Mangel an Blut und Sauerstoff im Körper führte. Unklar sei die Wechselwirkung zwischen der Vorerkrankung und den Schlägen, ebenso, ob der Mann unter dem Einfluss von Medikamenten stand, und damit auch die genaue Todesursache. Weitere Untersuchungen sollen dazu Aufklärung bringen, werden aber noch sechs bis acht Wochen dauern.

Ausgeschaltete Bodycams

Die beiden Polizisten sind derweil vom Dienst suspendiert. Sie haben sich bisher nicht geäußert. Beim Einsatz waren die Polizisten mit Bodycams ausgestattet, die bei der Klärung solcher Fälle helfen könnten. Diese waren allerdings ausgeschaltet, obwohl in der Einsatzlage angemessen gewesen wäre, sie zu aktivieren. Einen rassistischen Hintergrund sieht das LKA bisher nicht. Allerdings, so der Leiter der Mannheimer Anklagebehörde, Romeo Schüssler, finde er die Schläge „befremdlich“.

Dieses Wort wäre auch für einige Stellungnahmen der Polizei nach der Tat angemessen: Der Mannheimer Polizeipräsident Siegfried Kollmar beklagte, nach der Tat seien seine Polizist:innen zu bedauern, die „150 Hassnachrichten“ erhalten hätten. Ohne Zweifel keine angenehme Sache für Polizist:innen – nach dem Tod eines Menschen, zu dem Polizeigewalt zumindest beigetragen haben könnte, allerdings keine angemessene Gewichtung der Konsequenzen.

30 Zeug:innen und 70 Videos dokumentieren die Tat

Was die Videodokumentation des Falles angeht, die ist in diesem Fall auch ohne Bodycams gegeben: rund 30 Zeug:innen meldeten sich, außerdem erhielten die Ermittler:innen mehr als 70 Videos zur Tat (vgl. RNZ).

Zivilgesellschaftliche Initiativen gegen die Tat fordern eine unabhängige Kommission zur Aufklärung des Falles, eine Polizei-unabhängige Beschwerdestelle und eine Opferberatungsstelle für Opfer von rassistischer und Polizeigewalt. Ein Argument dafür ist die bisherige Folgenlosigkeit von Strafanzeigen gegen Polizeigewalt: Laut Innenministerium wurden zwischen 2019 und 2021 nur in Baden-Württemberg 1.039 Strafanzeigen wegen Polizeigewalt gestellt – und nur in 6 der angezeigten Fälle kam es zu einer Verurteilung oder eine Disziplinarmaßnahme gegen die Polizist:innen (vgl. SWR).

209 Opfer rassistischer Polizeigewalt seit 1990

Sollte Rassismus ein Motiv für die Brutalität der Polizist:innen sein, dürfte dieses Motiv schwer zu belegen sein, auch wenn rassistischer Polizeigewalt ein reales Problem in Deutschland ist. Die zivilgesellschaftliche „Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt“ zählt in ihrer Chronik über 300 Fälle zwischen 2000 und 2021 allein für Berlin. Die Initiative „Death in Custody“ dokumentiert 209 Todesfällen von Schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus betroffenen Personen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in Deutschland seit 1990.

Neue Studie zeigt: Rassismus ist weiter weit verbreitet

Rassismus ist in Deutschland insgesamt noch weit verbreitet, wie eine jüngst veröffentlichte  Studie des Rassismus-Monitors des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) vom Mai 2022 zeigt:

  • Fast die Hälfte der Befragten (49 Prozent) glaubt noch an die Existenz menschlicher „Rassen“.
  • Ein Drittel (33 Prozent) findet, dass einige Völker oder ethnische Gruppen „von Natur aus fleißiger“ seien als andere.
  • 90 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass es in Deutschland Rassismus gibt.
  • 61 Prozent der Befragten finden, dass Rassismus Alltag in Deutschland ist.
  • Mehr als ein Fünftel (22 Prozent) der Befragten hat bereits selbst Rassismus erfahren.
  • 58 Prozent aller Angehörigen von rassifizierten Gruppen berichten von eigenen Rassismuserfahrungen.
  • Fast die Hälfte der Bevölkerung (45 Prozent) hat schon einmal einen rassistischen Vorfall beobachtet.

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