Kommentar von Johannes Hartl
Es gibt nicht viel Gutes, was man über das „Bayerische Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus“ sagen kann. Seit seiner Verabschiedung im Jahr 2009 hat der Leitfaden der Staatsregierung keinen substanziellen Beitrag geleistet, um Rechtsextremismus wirksam zu bekämpfen. Sein eigentliches Ziel verfehlt er aus naheliegenden Gründen: Er ignoriert systematisch die Bedeutung der Zivilgesellschaft, erkennt Probleme wie Rassismus in der Mitte der Gesellschaft nicht und überhöht die Rolle der Sicherheitsbehörden. Das gesamte Konzept wird von dem falschen Gedanken getragen, dass die Bekämpfung der Szene alleiniger Auftrag der staatlichen Behörden ist, deren Befugnisse im Rahmen dessen teilweise erheblich erweitert wurden.
Besonders deutlich wird das am Beispiel der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE). Unter deren Dach arbeiten Mitarbeiter von Polizei und Verfassungsschutz mit dem Ziel, Aufklärungsarbeit zu leisten. Dazu wurden die Schlapphüte zur Bildungsarbeit an Schulen ermächtigt und traten mit ihrem Angebot automatisch in Konkurrenz zu nichtstaatlichen Organisationen, auch wenn sie selbst das auf ihrer Internetseite verneinen und sich als Ergänzung verstehen. Die BIGE steht damit exemplarisch für die Überzeugung der CSU, dass mehr Polizei und Verfassungsschutz nahezu gleichbedeutend mit weniger Rechtsextremismus ist.
Mit der politischen Realität hat das natürlich wenig gemein. Denn trotz intensiver Bemühungen der bayerischen Behörden ist die extreme Rechte im Freistaat aktiv wie selten zuvor. Fast wöchentlich marschiert eine rechtspopulistische Organisation auf, Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte finden in erschreckender Regelmäßigkeit statt, neonazistische Strukturen konnten sich direkt nach ihrer Zerschlagung neuformieren und ihre Militanz ist unverhohlen hoch. Nicht grundlos haben Expert_innen in den vergangenen Jahren Kritik an dem sogenannten Handlungskonzept geübt und dessen weitere Daseinsberechtigung grundsätzlich in Zweifel gezogen.
Erst im Oktober wiesen Sachverständige im Landtag übereinstimmend auf diverse Fehler hin, die das Handlungskonzept durchziehen und den Kampf gegen Rechtsextremismus schwächen. Sie bezeichneten es als unzeitgemäß, einseitig und sprachen sich für einen fortschrittlicheren Leitfaden aus. Zentrale Kritikpunkte waren laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) das Aussteigerprogramm, das vom Verfassungsschutz betreiben wird, und die geringen Förderungen für zivile Projekte. Diese und weitere Aspekte würden der Realität nicht gerecht, waren sich die Experten mehrheitlich einig, und der Leitfaden bedürfe längst neuer Grundlagen.
Tatsächlich ist ihre Kritik rundum berechtigt. Das Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus ist, wenn man es einer nüchternen Lektüre unterzieht, eine einzige Farce. Statt eine wirksame Bekämpfung der Szene voranzutreiben, negiert es reale Problem und bemüht sich sogar ernsthaft um eine Diskreditierung wissenschaftlicher Ansätze, die sich nicht mit der Überzeugung der Regierung decken. So hat das Ministerium ein eigenes wissenschaftliches Gutachten bei dem umstrittenem Politikwissenschaftler Klaus Schröder in Auftrag gegeben, das angeblich die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung widerlegen sollte. Die Zivilgesellschaft selbst wird überhaupt bloß an zwei Stellen erwähnt, wobei kurz nebenbei deren Bedeutung für die Demokratie genannt wird — obwohl sie weder als gleichberechtigter Partner angesehen noch gefördert wird. Ihre knappe Nennung scheint in dem 43 Seiten umfassenden Dokument ohnehin mehr als Alibi zu dienen, dass man sie zumindest nicht vollständig vergessen hat.
Das ist nicht nur falsch; es ist vor allem auch gefährlich. So wichtig die Aufgaben der Sicherheitsbehörden in gewissen Fragen sind, so begrenzt ist ihr Auftrag. Polizei und Verfassungsschutz treten immer erst dann auf, wenn es längst zu spät ist: Wenn eine Gefahr für die demokratische Ordnung vorliegt, strafbare Handlungen begangen wurden oder Neonazis politisch aufgetreten sind. Mit Ausnahme der Präventionsarbeit an Schulen, zu der der Geheimdienst ermächtigt wurde, ist das der falsche Ansatz — und im Hinblick auf die Aufklärung muss außerdem bezweifelt werden, ob der Verfassungsschutz in solchen Fragen der geeignete Ansprechpartner ist. Die Behörde fiel immerhin nicht mit ihrem Fachwissen auf und ist mit ihrer kritischen Arbeitsweise kein Musterbeispiel für einen Akteur in demokratischen Gesellschaften.
Deshalb ist es endlich an der Zeit, das Handlungskonzept grundlegend zu evaluieren. Experten haben in der letzten Zeit eindrucksvoll dargelegt, wieso ein solcher Schritt dringend erforderlich ist, und die aktuelle politische Situation sollte einen zusätzlichen Anreiz zu einer schnellen Korrektur bieten. Den alltäglichen Herausforderungen durch den Rechtsextremismus konnte noch nie und kann nicht ausschließlich durch einen vermeintlich starken Staat begegnet werden. Der starke Staat ist nötig, wenn es seine Kompetenzen betrifft: Die Ermittlungen bei beziehungsweise die Verhinderung von Straftaten sowie die Überwachung von Gefahren für die verfassungsgemäße Ordnung. Alle anderen Aspekte sind jedoch in überwältigender Mehrheit Aufgaben für eine demokratische Gesellschaft, die ihre Werte selbstständig mit Engagement verteidigen muss. Wenn Neonazis und Rechtspopulisten die Gesellschaft angreifen, wenn sie sich gegen universelle Rechte wenden, kann das nicht durch Sicherheitsbehörden gelöst werden.
Dann sind wir als Demokratinnen und Demokraten gefragt, aufzustehen und für unsere Ideale einzutreten. Das war und ist eine Aufgabe, die in der Hand von uns Bürger_innen liegt. Lauten Widerspruch zu organisieren, menschenverachtenden Parolen entgegenzutreten und die Werte einer Demokratie mit Leben zu erfüllen, ist die mit Abstand wichtigste Aufgabe der Zivilgesellschaft. Die Staatsregierung müsste das im Zuge von „Pegida“, „Identitärer Bewegung“, AfD & Co. angemessen würdigen und den Einsatz entsprechend honorieren, auch mit einer nötigen Förderung für demokratisches Engagement. Es kann nicht sein, dass der Staat seine Behörden aufrüstet und ihre Aufgaben auf fragwürdige Weise ausbaut, während zivile Projekte ins Leere blicken, auf sich alleine gestellt sind oder mit Skepsis beäugt werden. Wenn seine Bürger/innen für demokratische Werte eintreten, muss der Staat mit ihnen solidarisch sein und sie fördern.
Zudem müssen die Aufgaben, die durch das Handlungskonzept teilweise dem Staat übertragen wurden, zurück in die Hände der demokratischen Zivilgesellschaft gehen. Staatliche Akteure wie Polizei und Verfassungsschutz sind fachlich nicht qualifiziert, demokratische Bildung zu betreiben oder Aussteigerarbeit zu leisten. Sie müssen sich auf ihre Kernkompetenz besinnen und diese ausfüllen — zumal die Aufklärungsquoten bei rechten und rassistischen Delikten nach wie vor bedenklich niedrig sind. Im Jahr 2015 konnten zum Beispiel höchstens 14,1 Prozent der Anschläge aufgeklärt werden, die gegen Asylbewerberunterkünfte verübt wurden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Regierung — und mit ihr die Behörden — viele Probleme wie den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft ignorieren, der für zahlreiche Phänomene eine plausible Erklärung liefert. Dass die CSU so überrascht von „Pegida“, „Identitärer Bewegung“, AfD & Co. war, kann angesichts der Ignoranz gegenüber der fragilen Mitte kaum verwundern. Wer jahrelang nicht wahrnehmen will, dass die vermeintlich demokratische Mitte bedenkliche Positionen vertritt, muss zwangsläufig irritiert sein, wenn sich das plötzlich im eigenen Bundesland Ausdruck verlieht. Am Ende ist dies ein umso stärker Beleg dafür, wie untauglich das Handlungskonzept in der Realität ist und welche gravierenden Fehleinschätzungen es beinhaltet.
Statt weiter an diesem überholten Modell festzuhalten — und es unverständlicherweise sogar noch zu loben —, braucht es nun einen vernünftigen neuen Leitfaden, der nicht aus ideologischer Blindheit Probleme ausblendet. Dieses Konzept müsste eine genaue und kritische Bestandsaufnahme der Szene mit ihren Ausprägungen beinhalten, eine Rückführung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden auf ihre Kernkompetenzen und der Zivilgesellschaft eine bedeutendere Rolle zuschreiben. Sie muss im Einsatz für demokratische Werte eine gleichberechtigte Stellung bekommen, als wichtigster Akteur ernstgenommen und richtig gewürdigt werden. Die CSU ist gut beraten, die scharfe Kritik von Experten aus der Zivilgesellschaft anzunehmen.
Das ist umso nötiger, als dass die Herausforderungen mit einer sich zunehmend radikalisierenden extremen Rechten keinesfalls leichter werden. Man kann sich in einer solchen Situation den Luxus nicht leisten, die mutige Zivilgesellschaft zu ignorieren und sie im Stich zu lassen.