Der 08. Januar 2014 ist ein angenehmer, sonniger Mittwoch in München. Im Saal des Oberlandesgerichtes München in der Nymphenburger Straße ist am ersten Verhandlungstag des NSU-Prozesses im Jahr 2014 allerdings nichts davon zu merken. Der Saal, in dem der wichtigste Rechtsterrorismus-Prozess in Deutschland stattfindet, ist ein gedrungen anmutender, fensterloser Bunker mit abgehängter Decke in sattem 70er-Jahre-Beige. Alles ist hier eng: Die Richter*innen des Prozesses, die Vertreteter*innen der Bundesanwaltschaft, die Angeklagten mit ihren Anwält*innen sitzen aufgereiht beieinander in U-Form, Zeug*innen nehmen in der Mitte des „U“s Platz. Die Vertreter*innen der Nebenklage sitzen dahinter – Befragungen sind nur über Leinwände möglich, die Zeugen sprechen dann mit einem Video-Bild auf der Wand. Über den Sitzen der Nebenklageanwält*innen ist eine Decke eingezogen, die es im ersten Stock Besucher*innen und Journalist*innen ermöglicht, den Prozess zu beobachten. Alles ist so klein, dass man fast den Eindruck hat, den Angeklagten auf dem Schoß zu sitzen. Der Raum wirkt, als solle er bereits eine Bestrafung für die Angeklagten sein, die hier viele Tage ihres Jahres verbringen. Für alle anderen Prozessbeteiligten gilt das allerdings auch.
Exemplarische Nazi-Typen
Es ist ein starker Eindruck, die fünf Angeklagten so dicht vor sich sitzen zu sehen, die sonst maximal von Fotos oder aus dem Fernsehen bekannt sind. Sie sehen ein bisschen so aus, als habe man sie gecastet, um exemplarisch verschiedene Nazi-Typen darzustellen, die es in der rechtsextremen Szene eben gibt. Da sitzt André E., der unter anderem Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bei Wohnungs- und Wohnmobilanmietungen geholfen haben soll, mit kurz geschorenem Haar, in schwarzem Sweatshirt, Lederweste, Armyhose, mit schwarzen Tunneln in den Ohren einen jugendkulturell orientierten Typus verkörpernd. Er spielt mit der Maus am Computer herum, der offiziell nur die Gerichtsakten enthält, ihn aber offenbar dauerhafter fesselt als die Zeugenbefragung. In den Pausen daddelt er auf seinem Handy.
Hinter ihm NPD-Funktionär, Szene-Strippenzieher und im NSU-Fall mutmaßlicher Waffenlieferant Ralf Wohlleben. Der sehnige Mann mit Bürstenschnitt sitzt kerzengrade in einem senfgelben Pullover, die Hände vor sich abgelegt, die Finger verschränkt bis verkrampft, er scheint Beherrschung ausstrahlen zu wollen – außer in den kurzen Momenten, wenn er mit seiner leuchtendrot gefärbten Szeneanwältin Nicole Schneiders lacht.
Holger G., um den es heute im Prozess viel geht, da er die Krankenkassenkarte besorgte, mit der Beate Zschäpe in der Untergrundzeit zum Arzt ging, sitzt in der hintersten Reihe, schwarzes Sweatshirt mit blauem Oberhemd darunter, schmale Brille, stumpfer Gesichtsausdruck auf dem breiten Schädel unter kurzem Haupthaar – ein unauffälliger, geradezu langweilig bis stumpf wirkender Typ, der im Prozess aber auch gern mal den „Spiegel“ unterm Tisch liest.
Daneben Carsten S., der die hauptsächliche spätere Mordwaffe, die Ceska 83, besorgte und übergab. Er hat sich schon vor Jahren von der Naziszene losgesagt. Ein schmächtiger Typ mit Pilzkopf und großen Kotelletten, der so sehr nach Hamburger Schule aussieht, dass er wie im falschen Film wirkt.
Und natürlich die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die eine große Girlie-Show bietet – die langen offenen Haare schwenken, mit den Händen durchfahren, den romantischen Rosen-Schal auf dem engen lila Pulli richten, mit ihrem Anwalt Wolfgang Stahl flirtenden Blickkontakt suchen – wenn sie nicht gerade genervt guckt, indem sie eine Schnute zieht und die Augenbrauen hebt. Ab und zu fasst sie sich an den Nacken, als wäre er verspannt. Man ertappt sich dabei, dass man ihr wünscht, es wäre so.
Nur die Spitze eines Netzwerks, dass hier nicht Thema ist
Diese Fünf sind die Spitze eines Netzwerks, das den Mord an 10 Menschen und drei Nagelbombenanschläge verantwortet und möglich machte. Es sind Morde und Anschläge aus Rassismus, tiefgreifendem Hass und nach genau der strategischen Anleitung, die der militante „Blood and Honour“-Arm „Combat 18“ seinen Mitgliedern für Anschläge empfahl: kleine Zellen bilden, das Morden aus der zum Schein aufgebauten Angepasstheit. Die „Blood and Honour“-Strukturen in Deutschland sind allerdings nicht Teil dieses Strafverfahrens – genauso wenig wie etwa die Verstrickungen des Verfassungsschutzes oder die rassistischen Ermittlungspraktiken der Polizei. Wenn die Nebenklageanwält*innen den heutigen Zeugen dazu fragen, der vor Gericht vorgelegten Fotos zufolge auch Kontakte in diese „Blood and Honour“-Szene hatte, werden sie vom Richter gerügt, weil dies nichts mit dem Strafverfahren zu tun hat. Immerhin dürfen sie heute aber fragen – der Richter kann dies auch unterbinden – und so auf Zusammenhänge hinweisen.
Ein frech grinsender Szene-Zeuge mit „Gedächtnisschwierigkeiten“
Überhaupt, so ein Strafverfahren ist mühselig und zumindest für Nicht-Jurist*innen ausgesprochen merkwürdig. Alle Aussagen, die Zeug*innen bei der Polizei getätigt haben, müssen sie vor Gericht wiederholen, damit sie in die Urteilsfindung einfließen können. Nun ist aber zwischen den Aussagen beim LKA und denen vor Gericht Zeit vergangen – Zeit, in der sich die Angeklagten überlegen konnten, ob sie ihre Freund*innen auf der Anklagebank wirklich derart belasten wollen und sich bei Anwält*innen Rat holen konnten, ob sie das denn müssen. So ist es etwa beim heutigen Zeugen, dem nach eigenen Angaben ehemaligen Neonazi Alexander Sch., der einer der besten Freunde des Angeklagten Holger G. war (und offenbar auch noch ist, da er ihn gar in der Haft besuchen wollte und es während er im Zeugenschutzprogramm war auch tat). Sch. hat beim der Befragung durch die Polizei vor rund zwei Jahren einige Angaben dazu gemacht, wie Holger G. ihn und seine Frau fragte, ob sie ihm ihre Krankenkassenkarte verkaufen würde. Nun sitzt er feixend im Gerichtssaal und lügt den Anwesenden ins Gesicht. Bekäme man für jedes „Kann ich mich nicht erinnern“ von ihm einen Euro, wäre man am Ende des Verhandlungstages reich. Er kann zwar auf der Stelle beantworten, wer auf einem Nazi-Konzert vor zehn Jahren die Headliner-Band war, aber ob Holger G. seine Frau „bequatscht“ hat, die Karte zu verkaufen, wie er vor zwei Jahren noch bestätigte, oder dies ohne große Worte passierte – das weiß er nun nicht mehr.
Und ein taktierendes Gericht
Was macht das Gericht mit so einem? Richter, Bundesanwaltschaft und Nebenklageanwält*innen fragen und fragen. Zum Teil immer wieder das Gleiche. Mal nachsichtiger, mal strenger. Das zermürbt auf Dauer alle Beteiligten. Manchmal lässt sich Alexander Sch. dann zu verschiedenen Antworten hinreißen, wird darauf hingewiesen, dass er nun aber etwas anderes geantwortet hätte als vor einer halben Stunde. Auf der Zuschauertribüne gibt es verwunderte bis empörte Gesichter. Ist das nicht eine Falschaussage? Warum lässt das Gericht das dem Angeklagten durchgehen? Warum sind es nur die Anwälte von Beate Zschäpe, die versuchen, die Zeugenaussagen zu verwenden, um die Aussage von Holger G. vor Gericht unglaubwürdig zu machen? Der Zeuge hat zumindest bestätigt, dass Holger G. seiner Frau, einer bicolor-rotgesträhnten Friseurin, die Krankenkassenkarte abgekauft hat. Das braucht das Gericht. Der Rest seiner Show wird zähneknirschend akzeptiert. Das ist sicher vernünftig, aber deprimierend.
Ach, zu den Übergabe-Umständen fällt Alexander Sch. zuletzt doch noch was ein. Dass sie Drogen genommen haben an dem Abend. Amphetamine. Ecstasy. Das verursache ja bekanntlich Gedächtnisschwierigkeiten. Fast möchte man lachen, wenn es nicht so traurig wäre.
Weitere Berichte zum diesem Verhandlungstag
Spiegel Online, taz, Blick nach rechts, PNN, Thüringer Allgemeine, Vorwärts
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