Es sollte eigentlich ein wichtiges Zeichen setzen, doch nach dem Gedenktag für Opfer terroristischer Angriffe in Deutschland gibt es von einigen Überlebenden und Hinterbliebenen rechtsextremer Anschläge vor allem Kritik. Am Samstag, den 11. März 2023, lud die Bundesregierung ins Berliner AXICA Kongress- und Tagungszentrum am Pariser Platz ein. Der Gedenktag, der dieses Jahr zum zweiten Mal stattfindet, knüpft an den Europäischen Gedenktag für die Opfer des Terrorismus an, der nach den Bombenanschlägen in Madrid am selben Tag im Jahr 2004 eingeführt wurde.
Die Gedenkveranstaltung wurde mit einem Film eröffnet, in dem Betroffene von terroristischer Gewalt ihre Erfahrungen teilen, heißt es in einer Pressemitteilung auf der Webseite des Bundesjustizministeriums. Der Tag sei „ein Zeichen unserer Einigkeit und unseres Mitgefühls mit den Betroffenen, Angehörigen und Freunden der Opfer“, so Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Pascal Kober, „Opferbeauftragte“ der Bundesregierung, sagte: „Der Gedenktag schafft Raum für ein gemeinsames Innehalten und Anteilnehmen. Dieser Gedenktag soll auch helfen, uns alle noch mehr für das Schicksal der Betroffenen zu sensibilisieren.“
Auch beim ersten Gedenktag 2022 waren von Bundesinnenministerin Nancy Faeser ähnlich versöhnliche Töne zu hören: Nicht die Täter, sondern die Opfer müssen in unserer Erinnerung bleiben, sagte Faeser damals – „mit ihren Namen, mit ihren Lebensgeschichten, mit ihren Schicksalen“.
Doch die Namen, Lebensgeschichten und Schicksale der Opfer von rassistischen, antisemitischen und rechtsextremen Terroranschlägen haben am Gedenktag teilweise gefehlt, bemängeln nun Überlebende sowie Hinterbliebene. Einige seien zu der Veranstaltung nicht eingeladen worden, heißt es in einem offenen Brief des „Betroffenennetzwerkes rechter und Polizeigewalt in Deutschland“, der in den sozialen Medien veröffentlicht wurde. Und das auch nicht zum ersten Mal.
Es sei unverständlich, nach welchen Kriterien zur Gedenkveranstaltung eingeladen wurde, lautet die Kritik. Das Netzwerk fordert Transparenz. Denn: „Ein solches Gedenken, welches alle Opfer terroristischer Gewalt undifferenziert zusammenfasst, relativiert und untergräbt die Strukturen und Motive des von uns erlebten Terrors – insbesondere den rassistischen und antisemitischen Rechtsextremismus“, schreiben sie.
Weiter heißt es: „Werden wir als Betroffene nach unserer politischen Zugehörigkeit, unseren Zahlen und Netzwerken oder unserer Fähigkeit, die deutsche Sprache zu sprechen, sortiert? Erkennen Sie uns als Opfer nach dem Ausmaß unserer Verletzungen und unseres Leids an? Und was ist mit denjenigen von uns, deren Fälle noch nicht vollständig untersucht und als Terror anerkannt worden sind?“ In den vergangenen Jahrzehnten sei auch an anderer Stelle zwischen Opfern von Terroranschlägen unterschieden worden, etwa wenn es um die Höhe der Entschädigung oder die Unterstützung nach der Tat gehe.
Der Gedenktag schaffe keinen angemessenen und ausreichenden Rahmen für alle Hinterbliebenen, lautet ein weiterer Kritikpunkt: „Er macht deutlich, dass Sie uns nicht hören wollen.“ Das Betroffenennetzwerk resümiert in deutlichen Worten: „Wir möchten kein Teil einer performativen Politik sein, die uns keinen Raum gibt zu sprechen.“
Unterzeichnet wurde der offene Brief von zahlreichen betroffenen Familien und Initiativen. Dazu zählen die „Initiative Hafenstraße ’96“, die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“, die „Initiative 19. Februar Hanau“, die „Soligruppe 9. Oktober Halle“ und die Gruppe „München Erinnern!“ in Gedanken an den OEZ-Anschlag 2016. Auch die Familien der NSU-Opfer Mehmet Kubaşık und Enver Şimşek haben unterschrieben. Manche der Unterzeichner*innen wurden nicht eingeladen, andere verzichteten nach Belltower.News-Informationen auf eine Teilnahme aus Solidarität mit anderen Angehörigen und Überlebenden.
Auf eine Anfrage von Belltower.News mit einer Bitte um Stellungnahme verweist das Bundesinnenministerium, das die Gedenkveranstaltung organisiert hat, auf das Bundesjustizministerium. Dieses antwortet: Eingeladen seien rund 800 Betroffene von Anschlägen im Inland als auch Betroffene von Anschlägen im Ausland, von denen der Bundesregierung Kontaktdaten vorliegen. „Darunter befanden sich Betroffene von länger zurückliegenden Anschlägen ebenso wie von Anschlägen aus jüngerer Vergangenheit, Betroffene von Anschlägen aus einer rechtsextremen und rassistischen Gesinnung ebenso wie Betroffene von Anschlägen aus einer islamistischen oder einer sonstigen menschenfeindlichen Motivation“, so eine Pressesprecherin. Auch Vertreter*innen aus dem Bereich der Opferhilfe wie der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) seien eingeladen worden. Die Einladung habe der üblichen Praxis bei solchen Gedenkveranstaltungen der Bundesregierung gefolgt, heißt es weiter.
İbrahim Arslan gehört zu denjenigen, die zum Gedenktag nicht eingeladen wurden. „Das passiert nicht zum ersten Mal. Und deshalb überrascht das mich nicht, dass sie uns nicht eingeladen haben“, sagt er im Gespräch mit Belltower.News. Er nennt die Haltung der Bundesregierung „ignorant“. Als Kind überlebte Arslan den rechtsextremen Brandanschlag in Mölln 1992. Neonazis warfen Molotowcocktails auf die Wohnhäuser von zwei türkischen Familien. Damals war er sieben, Großmutter Bahide Arslan, Schwester Yeliz Arslan und Cousine Ayşe Yılmaz verloren in jener Nacht auf den 23. November ihr Leben.
Seit vielen Jahren engagiert sich Arslan in Schulen gegen Rassismus, er setzt sich für die Perspektive von Betroffenen rechter Gewalt ein. Und seit 2013 organisiert er die „Möllner Rede im Exil“. Eine Antwort auf das offizielle Gedenken des Anschlags. „Das ist eine Reaktion auf die falsch laufende Gedenkkultur“, erklärt er. Er will damit Betroffene miteinbeziehen und die Veranstaltung selbst organisieren lassen. „Genauso sollte eine solidarische Gedenkveranstaltung aussehen“, sagt Arslan. Aber die Realität sieht oft anders aus.
Arslan kritisiert, dass Betroffene vom Gedenktag der Bundesregierung für Opfer terroristischer Angriffe am Samstag ausgeschlossen wurden: „Es ist eine Vereinnahmung der Gedenkkultur, die eigentlich den Betroffenen gehört.“ Denn: „Opfer und Überlebende sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen.“ Er plädiert für ein Netzwerk oder eine Institution für Betroffene rechtsextremer und rassistischer Anschläge, wo ihre Perspektiven Platz finden können. Das würde künftig auch dabei helfen, dass niemand ausgeschlossen werde. Wie dieses Netzwerk konkret aussehen würde? „Dazu müsste man Betroffene tatsächlich auch fragen.“