Als sich die Neonazis vom selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) Ende 2011 enttarnten, reichten die Reaktionen der breiten Öffentlichkeit von Überraschung bis Fassungslosigkeit. Kaum jemand hätte geglaubt, dass es in Deutschland möglich ist, jahrelang unbehelligt durchs Land zu ziehen, dabei 14 Banken zu überfallen, zwei schwerwiegende Sprengstoffanschläge zu verüben und mindestens zehn Menschen zu töten. Der „NSU“ belehrte uns eines Besseren. Der mediale Rummel um Zschäpe, Bönhardt und Mundlos war groß, es wurde über mögliche Unterstützer und Mitwisser spekuliert.
Heute, über ein Jahr nach dem Auffliegen der Zelle, ist es bedeutend ruhiger geworden. Die Anklage gegen die vermutlich einzige Überlebende des angeblichen „Trios“ wurde erhoben, verschiedene Untersuchungsausschüsse in Thüringen, Bayern, Sachsen sowie auf Bundesebene bemühen sich bisher vergeblich um Aufklärung. Meldungen über „Pannen“ bei den Sicherheitsbehörden, darüber, dass wichtige Daten gelöscht, brisante Akten vernichtet wurden, schaffen es kaum mehr in die Hauptnachrichten. Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt: Die Versäumnisse des Verfassungsschutzes schockieren uns längst nicht mehr, sie ringen uns höchstens noch ein müdes Schulterzucken ab.
Die Gleichgültigkeit gegenüber der skandalösen Arbeitsweise von Sicherheits- und Ermittlungsbehörden oder die Übersättigung hinsichtlich „neuer“ NSU-Schlagzeilen darf jedoch nicht den Blick auf das eigentliche Problem verstellen. Die Neonazis sind aktiv wie eh und je. In Deutschland sind sie mal mehr, mal weniger sichtbar in Kameradschaften, losen Zusammenschlüssen, in der NPD oder anderen rechtsextremen Parteien organisiert. Von den zahlreichen unorganisierten Neonazis sowie von rechtsextremen Einstellungen in den Köpfen der Menschen ganz zu schweigen.
Übersichtskarte rechtsextremer Kameradschaften in Deutschland
Mit der Deutschlandkarte soll auf die Gefahr von Rechts aufmerksam gemacht werden, die von einer flächendeckenden Neonaziszene ausgeht (Download als PDF am Ende des Artikels). Lokale Kameradschaften oder Zusammenschlüsse „Autonomer Nationalisten“ gibt es bundesweit. Die Übergänge zu regionalen NPD-Gruppen sind dabei meist fließend, auch mit den Ortsverbänden der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) gibt es enge Verflechtungen, häufig ist das „Personal“ sogar identisch.
Ein weiteres Problem, auf das etwa Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) am Beispiel Berlins hinweist: Oftmals sind die Namen, auf die man stößt, nicht mehr als Labels, die aber nicht zu bestimmten realen Gruppierungen gehören. Konkret bedeutet dies etwa für Berlin, so die MBR: „Rechtsextreme Aktionszusammenhänge können in der Regel einzelnen Bezirken zugeordnet werden, agieren jedoch auch Berlinweit und sind z.T. untereinander vernetzt. Fast alle Berliner Aktionszusammenhänge stehen in enger Verbindung mit den örtlichen NPD-Strukturen. Für politische Aktionen verwenden sie unterschiedliche Label, welche lediglich eine Zuordnung der Sprüherei oder der Propaganda als rechtsextrem ermöglicht, nicht jedoch einem spezifischen Personenkreis.“ In der Haupstadt waren die am meisten verwendeten Label „NW-Berlin“ (Nationaler Widerstand Berlin), „ANB“ (Autonome Nationalisten Berlin), „NS-Crew“ (Nationale Sozialisten Crew) und seltener auch „FKB“ (Freie Kräfte Berlin).
Recherche mit Hindernissen
Die Recherche für eine umfassende Übersicht der deutschen Nazi-Kameradschaften gestaltet sich recht schwierig. In erster Linie sind es die Landesämter des Verfassungsschutzes, die darüber Auskunft geben. Es haben jedoch auch viele lokale Initiativen aus dem Bundesgebiet auf die Anfragen der Amadeu Antonio Stiftung geantwortet. Aus den gesammelten Informationen ist die Karte entstanden. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich rechtsextreme Kameradschaften häufig umbenennen, selbst auflösen oder neugründen. Die auf der Karte gelisteten Gruppen können daher nur als „Momentaufnahme“ gewertet werden – hinzu kommt die Problematik, die eben am Beispiel Berlin erläutert wurde. Einen Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass verbotene Kameradschaften auf der Karte fehlen. Allein in Nordrhein-Westfalen beispielsweise wurden in 2012 vier einflussreiche Neonazi-Gruppen verboten, darunter die „Kameradschaft Aachener Land“ und der „Nationaler Widerstand Dortmund“.
Doch obwohl die Karte nur eine „Momentaufnahme“ zeigt, macht sie so doch eindrücklich grafisch deutlich, wie flächendeckend das Netz freier rechtsextremer Gruppierungen ist. So nutzte Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, sie bei der Debatte zum NPD-Verbot am 1. Februar im Bundestag, um klar zu machen, was das „reale Problem jenseits der NPD“ sei (ab 5:06 min zum Thema Kameradschaften):
Besonders hinsichtlich des rechtsextremen Personenpotentials ist die Quellenlage äußerst unspezifisch – die Zahlen basieren ausschließlich auf den Angaben in den Verfassungsschutzberichten für das Jahr 2011. Deshalb sind auch DVU-Mitglieder erfasst. Die rechtsextreme Partei löste sich jedoch im Mai 2012 selbst auf.
Braune Kameradinnen
Spätestens seit Beate Zschäpe werden auch Frauen als Akteurinnen in der extremen Rechten wahrgenommen. Sie sind schon lang aktiv, als Mitglieder in gemischtgeschlechtlichen Kameradschaften oder aber in Frauengruppen. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden fast 40 rechtsextreme Frauengruppen/-kameradschaften gegründet, mit unterschiedlicher Größe, regionaler Ausdehnung, Relevanz und Lebensdauer (Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus, Stand: Januar 2009). Die sichtbaren Aktivitäten von Frauengruppen und vor allem -kameradschaften sind in den letzten Jahren zurückgegangen, viele der Aktivistinnen sind jedoch weiterhin in gemischtgeschlechtlichen rechten Gruppen aktiv. Der Anteil von Frauen in Kameradschaften, Organisationen oder rechten Cliquen bewegt sich, je nach Region und Gruppe, zwischen 10 und 33 Prozent (Bitzan 2008).
Die vermeintlich harmlos-völkisch auftretende „Gemeinschaft Deutscher Frauen“ wurde 2001 gegründet und ist über ihre Regionalgruppen deutschlandweit aktiv. Ihren Regionalgruppen gehören zwischen drei und zwanzig Personen an, die größte Gruppe ist wohl die in der Region Berlin-Brandenburg. Zu berücksichtigen sind auch neue Entwicklungen, wie sie deutlich werden in der überregionalen Initiative „free-gender”: Diese ideologisch rechte Gruppe widmet sich vor allem den Themen Feminismus und Gender Mainstreaming als Feindbild.
Redaktioneller Hinweis:
Da die Karte eben nur eine Momentaufnahme sein kann, freuen wir uns über Hinweise von Leserinnen und Leser über nicht verzeichnete Kameradschaften. Diese Hinweise werden wir hier veröffentlichen.
Bitte schicken Sie uns eine Mail, am besten mit Quellenangabe, an netz@amadeu-antonio-stiftung.de
Ergänzungen unserer Leserinnen und Leser:
Im schwäbischen Raum fehlt die Skinhead-Kameraschaft „Voice of Anger“ (Memmingen).In Brandenburg ist die „Heimattreue Jugend“ in Rathenow und Premnitz aktiv.In Brandenburg fehlen die „Nationale Jugend Bamme“ und die „Freien Kräfte Brandenburg/Havel“, außerdem die „Freie Aktionsgruppe Brandenburg“ und die „Autonomen Nationalisten Ost“.In Hessen sind „Nationalen Sozialisten Reichelsheim“ und die „Heimattreue Deutsche Bewegung“ zu ergänzen.In Rheinland-Pfalz wurde die „Kameradschaft Westerwald“ verboten.In Berlin bezeichnet der „Nationale Widerstand Berlin-Brandenburg“, der gern mit NW-Berlin verwechselt wird, nichts weiter als eine Internetseite. Die zentrale Struktur der NPD ist NPD ist das Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“ (NW-Berlin). Dem angegliedert sind kleinere Strukturen wie z.B. die „Aktionsgruppe Rudow“ (AGR).In Nordrhein-Westfalen fehlt die „Aktionsgruppe Windeck“. (Anm. der Redaktion: Deren letzter Blogeintrag ist allerdings von Ende 2011)