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„Das staatliche Versagen ist weitreichend“

Das Interview führte Bernhard Jarosch.

Sie haben für die Amadeu Antonio Stiftung i bereits das „Das Kartell der Verharmloser“ verfasst. Der neue Report richtet den Blick nun ausschließlich auf die alten Bundesländer. Warum?

Zum einen gab es nach unserem ersten Report etliche Reaktionen von Betroffenen aus den alten Ländern. Zum anderen ist auch nach den Erfahrungen mit der Terrorgruppe des NSU, der seine Taten fast ausschließlich in den alten Bundesländern verübte, die Erkenntnis gereift, hier einmal genauer hinzusehen. Lange glaubte man sich im Westen immun, Rechtsextremismus wurde ausschließlich als Ostphänomen diagnostiziert – ein Trugbild, an dem alle gesellschaftlichen Akteure, auch die Medien, lange Zeit festhielten. Fest steht: Auch im Westen verfolgen Rechtsextreme ihre Strategie des Raumgewinns mit aller Macht.

Der NSU wird gemeinhin als ein Phänomen des Rechtsextremismus der neuen Bundesländer verstanden. Gibt es denn so etwas wie Besonderheiten oder Eigenschaften des Rechtsextremismus im Vergleich der alten und neuen Bundesländer?

Erst einmal zur Begriffsklärung: Rechtsextremismus ist eine Ideologie, die sich aus etlichen Bausteinen zusammensetzt. Rassismus und Antisemitismus, Chauvinismus, autoritäres Denken, Verharmlosung des Nationalsozialismus. All diese Ideologiebausteine treten im Osten wie im Westen zu Tage, nur in unterschiedlicher Ausprägung. Im Osten leben nach der Studie „Die Mitte im Umbruch“ knapp 16 Prozent mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild, im Westen immerhin 7 Prozent. Entsprechend finden sich auch im Westen Alltagsrassismen, Angriffe auf Migranten, Holocaustleugnungen etc. Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt hat der Westen bei den rechtsextremen Straftaten in den vergangenen Jahren aufgeholt: Da liegen neue und alte Bundesländer inzwischen gleichauf.

Gibt es ein Spezifikum des Rechtsextremismus in den alten Bundesländern?

Während im Osten das Thema Ausländerfeindlichkeit sehr stark dominiert, ist der Unterschied bei der Verharmlosung des Nationalsozialismus beispielsweise nur sehr gering. Das zeigt, wie wichtig nach wie vor die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist. Auch in den alten Ländern sind alle Spielarten rechtsextremen Denkens vorhanden. Im Osten ist der Rechtsextremismus mitunter Teil einer stark ausgeprägten Alltagskultur, was sich auch in den Wahlerfolgen der NPD niederschlägt. Aber auch im Westen gibt es problematische Gegenden, wie in Dortmund oder Wuppertal, wo Neonazis mit aller Brutalität versuchen, die Deutungsmacht über einzelne Stadtteile zu erlangen. Auch hier werden Migranten oder „Andersdenkende“ drangsaliert, bedroht, angegriffen. Zudem findet sich in den alten Bundesländern ein Phänomen, das Wissenschaftler „Lokalismus“ nennen. Dabei geht es um den überzogenen und pervertierten Stolz auf das Heimatstädtchen oder die Region. Dieser „Lokalismus“ führt dazu, dass man sich nach außen abschottet: Wir gegen die. Das ist der Nährboden, auf dem auch rechtsextreme Taten verübt werden.

Hat es Sie persönlich überrascht wie etabliert die rechten Strukturen in den alten Bundesländern sind? Was hat Sie bei Ihren Recherchen besonders am Verhalten der Behörden und deren Umgang mit Rechtsextremismus schockiert?

In der Tat ist es erstaunlich, wie fest verankert rechtsextreme Strukturen im Westen mitunter sind. Schockierend ist meines Erachtens, wie weitreichend und vielschichtig das staatliche Versagen im Umgang mit Rechtsextremismus ist. Von der Polizei über die Justiz, vom Verfassungsschutz bis hin zu kommunalen Politikvertretern – sie alle beteiligen sich an einer Kultur des Wegschauens und Leugnens. Besonders perfide: Während rechte Täter oft davonkommen und nicht mit aller Härte für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, erfahren gerade die, die sich gegen Neonazismus engagieren, Ausgrenzung und Unverständnis. Das geht mitunter so weit, dass diese Akteure – etwa das Recherche-Archiv a.i.d.a. in Bayern – gezielt kriminalisiert werden, indem man sie unter Linksextremismus-Verdacht stellt. Leider kein Einzelfall.

Das mediale Interesse am NSU ist enorm. Der bald beginnende Prozess gegen Beate Zschäpe* beschäftigt die ganze Nation. Haben Sie das Gefühl, dass dabei der Rechtsextremismus Westdeutschlands in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt?

De facto findet diese inhaltliche Auseinandersetzung so gut wie nicht statt. Wann wird schon mal über Demokratie gefährdende Strukturen im Westen gesprochen? Dass es einmal ausländerfeindliche Anschläge in Solingen und Mölln gab, ist aus dem kollektiven Gedächtnis nahezu verschwunden. Über die Nazis in den neuen Bundesländern wissen alle Bescheid, mit den rechtsextremen Umtrieben vor der eigenen Haustür, im Kollegenkreis, im Sportverein will man sich dagegen lieber nicht auseinandersetzen.

Der neue Report zum Rechtsextremismus in den alten Bundesländern trägt den Titel „Staatsversagen.“ Sie sprechen explizit nicht von „Gesellschaftsversagen“. Besteht eine Diskrepanz zwischen staatlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement gegen Rechtsextremismus?

Es gibt in der Zivilgesellschaft ein bemerkenswert hohes Engagement gegen Rechtsextremismus. Viele engagieren sich in ihrer Freizeit, um gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen. Leider erfährt dieses Engagement staatlicherseits entschieden zu wenig Unterstützung. Die Beratungsstellen gegen rechts, in denen viel Ehrenamt geleistet wird, bluten finanziell fast aus, eine verstetigte Arbeit gegen Rechtsextremismus ist so kaum möglich. Diese mangelnde Unterstützung geht sogar so weit, dass staatliche Stellen jene Akteure, die sich gegen rechts stark machen, ins Visier nehmen. Sie und ihre Aktionen werden problematisiert – nicht die Nazis. Sie gelten als „Nestbeschmutzer“, werden kriminalisiert. Das ist das Besorgniserregende: Dass ausgerechnet jene, die einen entscheidenden Beitrag für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie leisten, an den Pranger gestellt werden.

Macht es Ihnen Mut, dass die demokratiefördernden Projekte trotz dieser geringen staatlichen Wertschätzung ihre Arbeit fortsetzen?

Ja, denn das anhaltende Engagement zeigt, dass in unserer Gesellschaft ausreichend zivilgesellschaftliches Potenzial vorhanden ist, um dem Rechtsextremismus die Stirn zu bieten. Wir müssen jetzt aber die Sonntagsreden und Lippenbekenntnisse beenden und das in die Tat umsetzen, was bereits alle Parteien im Bundestag nach Auffliegen des NSU entschieden haben, nämlich dafür Sorge tragen, dass jene demokratischen Gruppen, die sich gegen rechtsextreme Umtriebe engagieren, die uneingeschränkte Unterstützung von Staat und Gesellschaft erfahren. Hier benötigen wir einen fundamentalen Richtungswechsel, der auch die Ausbildung einer Null-Toleranz-Kultur gegenüber rechtsextremen Tätern beinhalten muss.

Sie berichten von „Mentalitätsproblemen“ und „Alltagsrassismus“ bei der Polizei. Wie stellen Sie sich denn mögliche Veränderungen vor?

Dass im Behördenapparat Rassismen existieren, steht außer Frage – er ist ja Spiegelbild der Gesamtgesellschaft. Dennoch muss man hier rigoroser gegen die Existenz rechtsextremer Überzeugungen vorgehen. Ein Mittel ist die politische Bildung: Was ist überhaupt Rechtsextremismus, wie äußert er sich? Zudem muss in interkulturellen Schulungen deutlich gemacht werden, dass wir eine Migrationsgesellschaft sind und Nationalismen in Uniform nichts zu suchen haben. Schließlich bedarf es harter Sanktionen gegenüber all jenen Beamten, die durch rassistische Äußerungen bzw. Taten auffallen. Daran mangelt es bislang. Wenn, wie in Frankfurt am Main, jüngst ein unbescholtener Bürger mit äthiopischen Wurzeln von Beamten bewusstlos und krankenhausreif geprügelt wird und der Polizeisprecher anschließend – ohne die Ergebnisse der staatsanwaltlichen Untersuchung abzuwarten – erklärt, die Polizei habe kein Rassismusproblem, ist das nicht nur zynisch sondern auch gefährlich.

Der Report kann hier als PDF-Version heruntergeladen werden.

Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

*Der NSU-Prozess begann im März 2013 vor dem Oberlandesgericht München. Nach fünf Jahren und 438 Verhandlungstagen wurden die Urteile gesprochen.

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