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Naziaufmärsche und Gegenproteste in Kleinstädten sind anders als in größeren Städten. Demmin ist dafür ein gutes Beispiel. Die 11.000-Einwohner*innen-Stadt in Mecklenburg-Vorpommern wird seit acht Jahren am 8. Mai 1945 von Neonazis besucht, die hier eine gute Kulisse für ihren Geschichtsrevisionismus wähnen – hat doch Demmin eine noch in größeren Teilen unaufgearbeitete NS-Geschichte, in der erbitterter Widerstand im nationalsozialistischen Sinne, Gräueltaten der russischen Armee und eine zahl von 500 Selbstmorden eine tragische Rolle spielen (Details hier gestern). Außerdem gibt es in Mecklenburg-Vorpommern eine leicht zu mobilsierende, große Neonazi-Szene. Und in Demmin ist sonst nicht so viel los. Zuschauer*innen – wie immer sie das Spektakel auch finden – sind den Nazis sicher.
Gegenaktionen am Nachmittag
So ist die Lage in Demmin am Nachmittag des 8. Mai 2014 auch schwierig. Immer wieder gibt es Platzregen. Demmin ist praktisch leer. Die Gegenproteste sind diesmal als rund 40 Mahnwachen organisiert. Das heißt: Überall in der Stadt stehen 3 bis 10 Menschen an kleinen Tischen mehr oder weniger im Regen. Nützt das etwas? Am „Historischen Mahngang“ des „Aktionsbündnisses 8. Mai“ und des Demminer Regionalmuseums nehmen immerhin etwa 100 Menschen teil. Plötzlich sind die Straßen kurz bunt, wie auch die Plakate das „Aktonsbündnisses 8. Mai“ mit dem Slogan „Demmin bleibt bunt“ versprechen.
Die Polizei spricht aber immerhin von einer „dynamischen Situation“, weshalb sie die Route der Nazis noch nicht festlegen könnten. Das liegt aber nicht so sehr an den Mahnwachen, als an rund 40 Menschen, die sich an zwei Orten in Demmin auf die Straße gesetzt haben. Die Blockaden hier sind geradezu niedlich. Friedliche, größtenteils junge Menschen, die auf der Straße sitzen (oder stehen, wenn es zu nass wird). Die Polizei steht darum herum.
Die Nazi-Demonstration
Am Bahnhof sammeln sich währenddessen die Neonazis. Leider schreckt das schlechte Wetter sie offenbar nicht. Es sind rund 200 Neonazis, nicht wenige Frauen darunter, zum Teil auch Familien mit Klein- oder Grundschulkindern, die verängstigt zwischen Kameradschaftsnazis und martialisch anmutenden Polizist*innen stehen. Die Rechtsextremen wollen am 08. Mai, dem Tag der Befreiung vom NS-Regime, natürlich trauern und nicht feiern. Die Botschaft des Trauermarsches soll hauptsächlich eine Art Laienspielgruppe verdeutlichen, die der Demonstration vorangeht. Zwei Frauen, denen ihre Rolle offenbar so peinlich ist, dass sie praktisch komplett vermummt gehen, dahinter eine Gruppe Männer, mit Koffern, blutigen Verbänden um den Kopf, einem Bollerwagen mit Kranz darauf. Transparante gibt es nur zwei und zwar recht nichtssagende. Dass es Nazis um Inhalte ginge, glaubt ja auch eh niemand wirklich.
Auf dem Weg durch die Stadt
Als sich die Demonstration um 20 Uhr in Bewegung setzt, wird klar, warum die Nazis sich in Demmin nicht unwohl fühlen. Die Polizei reagiert auf die Situation, dass es in der Stadt nicht viele Straßen und inzwischen einige kleine Blockaden gibt, nicht etwa damit, dass die Nazis nicht laufen dürften (könnte man ja machen) oder indem sie die Blockaden auflösen (auch nicht unüblich) – sie führt die Nazi-Demonstration einfach unmittelbar an Blockaden wie auch an Gegendemonstrant*innen-Gruppen am Straßenrand vorbei. So schafft sie eine oft recht unübersichtliche Situation, in der es auf die Disziplin der Beteiligten ankommt, um sie nicht eskalieren zu lassen.
Erstaunlicherweise klappt das aber. Die Nazis marschieren stoisch geradeaus, zu getragener Pathosmusik und mit der Freude, einen ziemlich weiten Weg durch die Innenstadt und verschiedene Wohngebiete von Demmin bis zur Peene zurücklegen zu dürfen. Und dies vor Publikum, denn die Balkone und Fenstersimse sind mit Schaulustigen gut gefüllt. Beobachtung am Rande: An einem Fenster steht eine Mutter mit ihrem etwa achtjährigen Sohn. Sie ruft ihm – laut und beifallheischend – zu: „Gleich marschiert hier dein Bruder vorbei. Ich bin so stolz auf ihn!“ Die Gegendemonstrant*innen nutzen ihre Möglichkeit zu Protest an der Strecke, singen, rufen, machen Musik oder einfach Krach, schwenken Ballons oder werfen Konfetti. Ein einziges Mal gibt es einen Böllerwurf – aber in weiter Entferung und aus einem Wohnhaus an der Strecke. Die Polizei allerdings ist nervös und reagiert auf sitzende Gegendemonstrant*innen mit Gewalt. Einen trifft es besonders schwer: Er wird so sehr angegangen – zeitweise sitzen zwei Polizisten auf seinem Rücken, als sie die Handschellen anlegen – dass er das Bewusstsein verliert und die Nacht im Krankenhaus im künstlichen Koma verbringt. Inzwischen konnte er allerdings das Krankenhaus wieder verlassen.
Friedliche Proteste, trotzdem nervöse Polizei
Dies ist besonders traurig, da die Proteste in Demmin – entgegen der anders lautenden Polizei-Pressemitteilung, die aktuell in der Presse wiedergekäut wird – ausgesprochen friedlich verlaufen. Die Nazis haben ihre Hauptkundgebung am Hafen der Peene – ein symbolischer Ort, denn hier ginge viele der NS-überzeugten Selbstmörder*innen von 1945 ins Wasser. Weil dies schon vorher bekannt war, hat in einiger Entfernung das „Aktionsbündnis 8. Mai“ sein Infobüro und auch gleich ein paar Essens- und Getränke-Stände. Die Nazis lauschen schlechten revisionistischen Gedichten. NPD-Europawahl-Kandidat Olaf Rose schwadroniert davon, wie wahnsinnig „mutig“ es gewesen sei, dass „Eltern ihre Kinder, Großeltern ihre Enkel ermordet haben, weil sie nicht wollten, dass sie dem entmenschten Russen in die Hände fallen“ (wie entmenscht muss man sein, um das Umbringen der eigenen Kinder aus fanatischem Glauben an eine faschistische Ideologie als Mut zu bezeichnen?). Später wollen die Nazis ihren Kranz in die Peene geworfen haben. Die anwesenden Journalist*innen können dies nicht sehen – sie werden des Veranstaltungsgeländes verwiesen – so viel zur Pressefreiheit. Währenddessen sammeln sich beim Aktionsbüro Gegendemonstrant*innen, die ihren Protest noch einmal hörbar machen wollen. Sie bewegen sich, langsam, nicht einmal hektisch, ein paar Schritte Richtung Nazi-Demonstration – da fährt die Polizei sofort Wasserwerfer auf. Sie setzt sie nicht ein, warum auch? Aber als Geste der Abschreckung erscheinen sie der offenbar überforderten Polizei wohl angebracht. Später dürfen die Gegendemonstrant*innen das Gelände nicht verlassen, bis die Nazis die Stadt verlassen haben.
Ein Fazit aus Demmin kann so nicht komplett positiv ausfallen. Rund 200 Nazis sind durch die Stadt gelaufen, das ist schlecht. Rund 400 Menschen haben dagegen protestiert, das ist gut. Das haben sie kreativ und friedlich getan. Leider hat die Polizei Situationen, die sie nervös gemacht haben, nicht mit Souveränität und Umsicht, sondern mit Gewalt bearbeitet – und das, ohne dass es wirklich nötig gewesen wäre. Schlimm, dass deshalb ein Gegendemonstrant so schwer verletzt wurde, dass er ins künstliche Koma versetzt werden musste. Laut Polizeiangaben sollen auch zwei Neonazis und drei Polizisten verletzt worden sein. Es gibt bis 2015 noch viel zu tun, um den Nazis den Spaß an Demmin ganz zu verderben.
Mehr Fotos aus Demmin:
| Flickr-Stream von Sören Kohlhuber