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Der Jürgen von der NPD

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Ein neuer Gott ist da, sein Name ist »Journalist«. Ein Gott der Moderne, könnte man sagen. Jeder Prominente will mit ihm sprechen, und auch die einfachen Leute wollen es. Ich komme gerade aus Port al-Kantaoui in Tunesien zurück. Die Angestellten des Hotels dort waren sehr herzlich, sie behandelten mich wie einen echten Gott. Einer von ihnen, ein Supergläubiger, fragte, ob ich ein wenig Zeit für ihn hätte. Er bat mich in perfektem Deutsch, »meine Brüder in Palästina« nicht zu vergessen, und drängte mich, in den Gaza-Streifen zu fahren und »zu erläutern, was die Juden so machen«. Wenn ich das täte, so verhieß er mir, würde die Gerechtigkeit obsiegen und »jeder, wo immer er sich befindet, wird ein Gewehr in die Hand nehmen und jeden Juden töten, der ihm unter die Augen kommt«. Zwei ältere Touristen saßen neben uns, beide aus Deutschland, und sie nickten zu den Worten des jungen Tunesiers. »Klar«, sagten sie, »klar.«

Ich war allein und versuchte, diesen überwältigenden Hass auf die Juden zu entschlüsseln, einen Hass, der mir immer wieder an den unterschiedlichsten Orten entgegenschlägt. Ich bin einer von jenen, von denen Sie vielleicht schon mal gehört haben. Ein Jude, ein Jude mit Gepäck. Sie kennen die Litanei: Ein Großteil meiner Familie wurde im Zweiten Weltkrieg ermordet. Meine Mutter, die das KZ überlebte, hatte eine von diesen bedeutungslosen Nummern auf dem Arm, die sie gern zeigte. Sie hatte Glück: Die meisten ihrer Geschwister wurden in einen Fluss geworfen, und dann schossen sie ihnen ins Gesicht.
Alles in allem endet die Geschichte meiner Familie ? eine lange Reihe toter Rabbiner ? mit mir, einem Mann, der dem Rabbinertum und seiner Religion den Rücken gekehrt und eine Österreicherin geheiratet hat. Ich schwimme mit dem Strom, von einem Land zum nächsten. Und mein nächster Stopp wird Deutschland sein. Ich fahre dorthin mit einem neu erwachten Missionsbedürfnis: Leute auf der Straße anhalten. Sie fragen, ob sie jenem charmanten Ehepaar zustimmen.

Und so lande ich am 1. Mai 2008 in Hamburg. Ich hatte ja keine Ahnung. Zwei Stunden später bin ich in Barmbek. Tausende Menschen, viele schwarz gekleidet, demonstrieren fleißig. Ich versuche, ihrem Gegröle zu entnehmen, was sie wollen. Ich frage die Männer in Schwarz, doch sie brüllen mir nur Parolen zu, keine Antwort. Hier ist nicht Tunesien, diese jungen Leute scheinen nicht zu darben. Einige haben ziemlich teure Videokameras und filmen sich selbst. Was wollen sie? Ich kenne einen Trick, die Leute zum Sprechen zu bringen: meinen Presseausweis. Ich hänge ihn mir um den Hals, damit ihn alle sehen. Und das tun sie fürwahr. Die hier, das seien die Anarchisten (»Autonome«), und da drüben, das seien die Neonazis, werde ich belehrt. Der Jude in mir ist angetan von der Idee, die Neos zu sehen. Ich habe viel von den Nazis gehört ? das ist die Chance, sie endlich leibhaftig zu erleben.

Auf den ersten Blick sehen die sogenannten Neonazis der Gruppe auf der anderen Straßenseite sehr ähnlich. Sie sprechen dieselbe Sprache, tragen eine ähnliche schwarze »Uniform«, sehen ebenfalls wohlgenährt aus, und auch sie haben Videokameras dabei und filmen sich selbst. Ich habe keine Ahnung, warum die Polizei so viele Beamte bereitgestellt hat, um die beiden Gruppen voneinander zu trennen, als würden sie sich sonst gegenseitig abschlachten. Ich würde sie einfach zusammenbringen, damit sie sich gegenseitig filmen.

Doch, da sind Skinheads. Aber, unter uns gesagt, diese kahl geschorenen Köpfe unterscheiden sich, zumindest ästhetisch, nicht so sehr von den Leutchen auf der anderen Seite des Polizeikordons, die ihre Köpfe blau, orange oder wie auch immer färben. Diese beiden Völkchen machen viel Aufhebens um ihre Haare; Unruhe kommt auf. »Frei, sozial und national«, singen sie. Dann wird ein Schild hochgehalten: »Deutsche Intifada«. Wie ist die Sache mit der Intifada bloß da hineingerutscht? Ich versuche, Hamas-Zeichen zu erspähen, doch stattdessen sehe ich: »1. Mai seit ?33 arbeitsfrei!« Das ist was Deutsches, hier geht es um Geschichte. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber dieses Zeichen hat mich zum Sprechen gebracht. »Habt ihr Typen was mit Hitler am Hut?«, höre ich mich einen Mann in Schwarz fragen. »Wir reden nicht mit der Presse, weil ihr alle Lügner seid«, lautet die Antwort. Nach ereignislosen Minuten finde ich doch einen Gläubigen. Seine Augen heften sich auf meinen Presseausweis.

»Woher sind Sie?«, fragt der Mann. Sein Name, bemerkt er stolz, sei Jürgen Rieger. »Sie schreiben für die New York Times?«, fragt er, ich habe keine Ahnung, warum. »Ich kenne die New York Times«, erklärt er. Toll. Wir verbünden uns auf der Stelle. Wir kennen beide die New York Times, wir teilen etwas. Jürgen erzählt mir, er sei Landesvorsitzender der NPD in Hamburg. Ich frage nach seiner Visitenkarte. »Habe ich nicht mehr, aber hier kennt mich jeder.« Jürgen ist nicht schwarz gekleidet. Warum? »Mir gefällt das nicht. Ich trage lieber Jackett und Schlips.«

Er beklagt sich darüber, wie die Jugendlichen sich hier kleiden, aber er zweifelt nicht an ihrer Gesinnung. Für ihn sind diese Leute das Beste, was Deutschland zu bieten hat. »Sie glauben an die Sache.« Ein Glück, Jürgen redet gern. Wir plaudern über eine Stunde. Jürgen mag mich. Nach 30 Minuten sagt er: »Ja, ich weiß, ich habe Ihnen gesagt, ich hätte keine Visitenkarte. Ich habe aber eine. Möchten Sie sie?« Ja, ich möchte. Es ist schwer, Nein zu einem Nazi zu sagen, meine Familie konnte das auch nicht. Jürgen gibt, der Jude nimmt.

»Juden«, findet Jürgen, »sind von Geburt an intelligenter, ihr IQ ist etwa 20 Prozent höher als im Durchschnitt, doch sie sind aggressiv und wollen alles beherrschen, wo immer sie auftauchen. Sehen Sie doch, wie sie die Palästinenser behandeln!« ? »Frei, sozial und national«, singt die Menge, und Jürgen lächelt. Offenbar liebt er diesen Slogan. »Muslime sind von Natur aus gewalttätig. Sehen Sie einem Türken in die Augen, und Sie werden es sofort erkennen. Es liegt in ihrer Natur.« ? »Frei, sozial und national!«

Ich offeriere Jürgen eine »intellektuelle« Frage: »Wenn die Muslime von Natur aus gewalttätig sind, dann sind die Israelis vielleicht deshalb so hart zu ihnen?« Er hört die Frage gar nicht, er fährt automatisch fort, glücklich wie ein Kind, das Gelegenheit hat, zu zeigen, was es weiß. »Schwarze«, erklärt er, seien »von Natur aus zurückgeblieben. Ihr IQ liegt 20 Prozent unter dem Durchschnitt.« Jürgen ist ein gebildeter Mann. Doch so sei er nicht immer gewesen, gesteht er. Er habe Jahre gebraucht, um es zu werden. »Vor vielen Jahren traf ich mich mit einem dunkelhaarigen, braunäugigen Mädchen«, vertraut er mir an. »Nach sechs Monaten ging die Beziehung den Bach runter. Damals wusste ich nicht, warum. Heute weiß ich es.« Stolz zeigt er auf sein Haar. »Ich muss mit einer Frau zusammen sein, die ist wie ich. Blonde, blauäugige Menschen müssen blonde, blauäugige Menschen heiraten. Alles andere klappt nicht.«

Ich mag »intellektuelle« Unterhaltungen, darum frage ich ihn: »Wenn ein blonder, blauäugiger Mann eine blonde, blauäugige Frau heiratet, ist das die Garantie für eine glückliche Ehe?« Die Frage gefällt ihm. »Juden«, erklärt er mir, »sind die intelligentesten Menschen der Welt. Sind Sie Jude?« Das weise ich entschieden von mir. »Gut«, sagt er, denn »Juden wollen auch die ganze Welt beherrschen. Sie sind hierhergekommen, in unser Land, 200 000 Juden aus Russland. Wissen Sie, warum? Weil sie Deutschland unter ihre Herrschaft bringen wollen. Wir müssen sie zurückschicken!«

Jürgen, der ewig lächelnde, sieht für mich nicht aus wie der klassische Nazi, ob Neo oder nicht. Eher wie ein Clown, finde ich. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie er Juden in einen Fluss wirft und dann auf sie schießt. »Was halten Sie von Adolf Hitler, würden Sie ihn wählen?«, frage ich. »Ja«, erwidert er. »Ja«, ein Wort; ein Wort, das alles sagt.

Ich schaue ihn mir genauer an und kann es kaum glauben. So wie meine Familie im Krieg komme auch ich damit nicht klar. Zu absurd. Vielleicht habe ich ihn nicht richtig verstanden, vielleicht hat er meine Frage nicht kapiert. Ich versuche es noch einmal anders, nur um sicherzugehen: »Glauben Sie, mein Freund, dass sechs Millionen Juden von den Nazis ermordet wurden?« Er sieht mich vielsagend an, als habe er diese Frage erwartet.

»Es ist in unserem Land verboten, das zu leugnen«, sagt er. »Vergessen Sie das Gesetz«, sage ich, »was glauben Sie tief, tief drinnen in Ihrem Herzen?« Er mag meine Art nachzuhaken. »Das kann ich sagen: Ich glaube nicht daran. Es ist legal, wenn ich das sage, und es ist die Wahrheit. Ich glaube nicht, dass es passiert ist.« Der Mann ist Rechtsanwalt. Ich fühle mich wie vor einem Scheidungsgericht auf einem billigen TVKanal und versuche ihm eine Falle zu stellen: »Glauben Sie, dass Adolf Hitler von der Ermordung der Juden wusste?« Überraschenderweise tappt Jürgen hinein. »Adolf Hitler wusste nichts davon; die niederen Offiziere haben es getan.«

»Frei, sozial und national!« Er singt gern, mein Jürgen. Derzeit ist er Single. Keine Liebe in seinem Leben. Hätte er eine, sänge er vielleicht dieses Frei-Gedöns-Zeug nicht, der Gedanke schießt mir durch den Kopf. Könnte eine Jüdin sexuell attraktiv für ihn sein?, frage ich mich laut. Oder eine Muslimin? Doch in diese Fall tappt Jürgen nicht. »Merke ich, dass ich anfange, etwas für eine Frau einer solchen Rasse zu empfinden, würde ich sofort aufhören, mich mit ihr zu treffen.«
Jürgen ist kein »kalter« Mensch, er hat nichts gemein mit den Nazicharakteren, wie sie lange in amerikanischen Filmen gezeigt wurden. Dieser Mann ist ein liebenswertes Geschöpf. Wenn er einem die Hand schüttelt, fühlst du, wie er Wärme verströmt, sein Lachen ist ansteckend. »Mag ja sein, dass im Krieg 300000 Juden ums Leben kamen, aber das ist normal im Krieg«, sagt er mit seinem ewigen Lächeln, unvermittelt, ohne auf eine Frage zu antworten. »Frei, sozial und national!« Jürgen, alle hier haben eine Menge Spaß. Sie brüllen, ja, aber es ist ein Freudengebrüll, kein Schmerzensgeheul. Der Hotelangestellte in Tunesien trug einen größeren Schmerz in sich, ob zu Recht oder Unrecht, als alle diese Neonazis zusammen.

Ich frage Jürgen, ob er glaube, dass seine Partei eine Chance habe, noch zu seinen Lebzeiten die Wahlen in Deutschland zu gewinnen. »Im Moment sind wir noch unbedeutend«, gibt er zu, »aber wenn es der Wirtschaft schlechter geht, werden wir gewinnen. So war es doch auch bei Adolf Hitler, ein guter und kluger Führer, und so wird es wieder sein.«

Hamburg, 2008. Eine wunderschöne Stadt: reich, hoch kultiviert. Das Beste, was Deutschland gegenwärtig an Kulturellem zu bieten hat, kommt unter anderem von hier. Millionen Euro fließen jedes Jahr in die Museen und Bildungseinrichtungen. Doch wozu? Wenn man hier so steht und die nächste Generation betrachtet, scheint das Jahr 1933 ein Datum in der Zukunft zu sein, nicht in der Vergangenheit. Als ich schließlich Barmbek hinter mir lasse, treffe ich einen anderen Gott, einen niederländischen Journalisten. Er hat die meiste Zeit des Tages bei den Anarchisten verbracht. Er sieht keinen Unterschied zwischen den beiden Lagern. »Es tut mir leid, das zu sagen, aber sie sind beide rassistisch, halten sich für die Besten und glauben, dass niemand anderes ein Recht habe zu leben«, sagt er. Ich sage nichts. Es ist zu kompliziert, wenn ein Gott versucht, den anderen zu interviewen. Ich gehe zum Bahnhof, setze mich auf eine Bank und zünde mir eine Zigarette an. Ein Polizist kommt auf mich zu. »Es ist verboten, hier zu rauchen«, sagt er.

Aus dem Englischen von Sigrid Weise

Tuvia Tenenbom, Autor und Regisseur, geboren in Jerusalem, leitet seit 1994 gemeinsam mit seiner Ehefrau das Jewish Theater of New York

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