Aktuelle Entwicklungen in Schneeberg, Fürth oder Burg zeigen: rechte Einstellungen sind in Deutschlandnach wie vor weit verbreitet. Und nicht zuletzt im ländlichen Raum treten den Nazis häufig zu wenige Menschen entgegen. Die Amadeu Antonio Stiftung arbeitet seit Jahren mit Schwerpunkt im ländlichen Raum. Auch an der Uni Bielefeld wird dazu seit geraumer Zeit geforscht. Gemeinsam stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie die Akteurinnen und Akteure der Praxis immer wieder fest: Grundlegend ist die Situation in den von Rechtsextremismus betroffenen Kommunen sehr ähnlich. Trotzdem stehen Akteurinnen und Akteure in den Orten und von außerhalb häufig vor der Problemlage: Wo und wie soll man ansetzen, um an einem akuten Nazi-Problem zu arbeiten? Ein erster Schritt ist also immer erst einmal die Analyse des Problems vor Ort und der Möglichkeiten, diesem zu begegnen. Erfahrungsgemäß kann das dauern.
Aber: „Der Kampf gegen Nazis kann nicht warten!“ unterstreicht Swantje Tobiassen vom Projekt „Region in Aktion“. In den vergangen zwei Jahren hat sie mit Akteuren vor Ort im ländlichen Raum gegen rechte Strukturen zusammengearbeitet und dabei die Erfahrung gemacht, dass Kommunen immer ähnlich ticken bzw. sich wiederkehrende Grundmuster identifizieren lassen. „Ein Problem mit Rechten wird bekannt, die Verwaltung oder die Bevölkerung ist damit unzufrieden, man fasst den Entschluss etwas tun zu müssen. Und dann vergehen Jahre, in denen erst einmal das Problem analysiert wird. Die Akteure in den Kommunen sind immer wieder der Meinung, ihre Situation sei ganz speziell und mit jeder anderen unvergleichbar. Dabei sind die Grundlagen doch immer ähnlich! Und besonders dieser erste Analyseschritt hemmt die Arbeit und lässt den eigentlichen Fokus, das Nazi-Problem, verschwinden“, so Tobiassen weiter.
Neues Instrument zum Einstieg in die Arbeit vor Ort
Auf Grundlage der Erfahrungen des Projekts „Region in Aktion“ und eigenen Forschungen im Bereich zivilgesellschaftlicher Arbeit gegen Rechts hat das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld unter Leitung von Andreas Grau und Gabriela Jaschke ein Raster zur Analyse der kommunalen Verhältnisse erstellt. Der Arbeitstitel dieses heuristischen Modells ist „Kommunale Typologie“. Das Modell dient zur Analyse der Kommunen, um die Ausgangslage zu verorten und so den ersten Schritt in der Arbeit gegen Rechts zu machen. Somit soll die Analyse vereinfacht und verkürzt werden. Aus der Erfahrung heraus, dass die Kommunen grundlegend sehr ähnlich sind, wurden neun Idealtypen gebildet, in die man die Lage vor Ort einordnen kann. Bewusst sind dabei nur zwei Dimensionen in das Modell eingegangen – die Ressourcen der zivilgesellschaftlichen Akteure sowie die Ressourcen von Politik und Verwaltung. Eingeordnet werden beide Akteursgruppen von passiv bis aktiv, so entsteht eine Art Skala der Kommunen zwischen Kommunen vom Typ 1 (passive Verwaltung, passive Zivilgesellschaft), über Kommunen vom Typ 5 (anlassbezogene Aktivität der Verwaltung, mittel starkes Engagement der Zivilgesellschaft) bis Kommunen vom Typ 9 (starke Verwaltung, starke Zivilgesellschaft). Die Dimensionen sind bewusst knapp gehalten, da die Typologie nur dazu da ist, die ersten Schritte in der Arbeit im kommunalen Raum zu erleichtern und zu beschleunigen. Trotzdem bildet die Typologie die Diversität der Kommunen ab, wie sie real existieren.
Die Methode hat verschiedene Zielsetzungen. Zum einen dient sie der Analyse des Potentials vor Ort im Engagement gegen Rechts. Durch die Potentialanalyse erleichtert sie die Zielsetzung der politischen Arbeit im kommunalen Raum. Zum anderen ermöglicht sie die Evaluation der Arbeit, um die Nachhaltigkeit der Maßnahmen zu sichern, da zu Projektbeginn eine realistischere Einschätzung der Ziele möglich ist, die am Ort erreicht werden sollen. „Dabei können nicht nur Beraterinnen und Berater von außen sondern auch die zivilgesellschaftlichen sowie die staatlichen Akteurinnen und Akteure die Typologie zur Reflexion lokalen Situation und der eigenen Arbeit nutzen“, erläutert Andreas Grau.
Dabei muss man laut Timo Reinfrank von der Amadeu Antonio Stiftung grundlegend beachten: „Zivilgesellschaft ist nicht gleich Bürgergesellschaft! Die Zivilgesellschaft trägt im Selbstverständnis, für Demokratie und gegen menschenverachtende Strömungen zu arbeiten. Bürgergesellschaftliches Engagement tut das nicht selbstverständlich.“ Eine Freiwillige Feuerwehr im Ort zu haben, bedeutet also nicht automatisch, dass eine aktive Zivilgesellschaft für Demokratie und gegen Menschenverachtung arbeitet.
Aktive aus der Zivilgesellschaft äußern Kritik
Teilnehmende eines Workshops zum neuen Analyseraster vermissten außerdem die Dimension der Nazis. Warum gebe es im Modell keine Skala, die auch die Aktivitäten der Rechtsradikalen im Blick habe?
„Besonders beim Start des Engagements gegen Nazis muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Die Vereinfachung schärft dafür den Blick. Je komplexer die Akteure ihre kommunalen Gegebenheiten empfinden, umso schwieriger wird es, zu etwas zu kommen“, antwortet Andreas Grau auf diese Kritik. Natürlich könne man Dimensionen hinzufügen, wie eine Dimension „Aktivität der Nazis“. Das Wissen darum sei wichtig. Aber wichtiger bleibe doch, dass immer etwas gegen Menschenverachtung getan werde. Schließlich sind beispielsweise Rassismus oder Sexismus tief in der gesellschaftlichen Mitte verankert und auch ohne einen aktiven NPD-Kreisverband stellt das ein Problem dar, dem zivilgesellschaftliches Engagement begegnen muss.
Die Workshopteilnehmenden äußerten indes weitere Kritik. So wurde besonders diskutiert, von welcher Arbeit die Typologie eigentlich ausgehe, wenn sie von „Arbeit gegen Rechtsextremismus“ spreche.Was wäre wichtiger: die Intervention gegen Nazis vor Ort oder eine zivilgesellschaftliche Arbeit für eine menschenfreundliche und demokratische Gesellschaft? Eine Workshopteilnehmerin fragt: „Ist es nicht eher die Aufgabe von uns als Akteuren der Zivilgesellschaft, alltäglichen Formen von Menschenverachtung zu begegnen und eine menschenfreundliche Gesellschaft zu initiieren? Wir beim Netzwerk für Demokratie und Courage haben als Ansatz, Zivilcourage zu fördern und nicht-rechte Jugendliche zu bestärken – so wollen wir es Nazis unmöglich machen, Raum in der Gesellschaft einzunehmen. Und arbeiten an genau den Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die mitten in der Gesellschaft existieren und nicht nur an ihren sogenannten Rändern.“ Andere Diskutierende vermissten eine negative Ausprägung der Skala. Man könne nicht sagen, dass die schwächste Form der Politik und Verwaltung in den Kommunen nur als „passiv“ bezeichnet werde, wenn die Kommunen zum Beispiel so ablehnend agierten und reagierten wie etwa in Limbach-Oberfrohna (Sachsen).
Die Typologie macht Sinn
Auch darauf hat Grau die Antwort, dass die Kraft der Typologie in ihrer Einfachheit liege. Sie sei ein Instrument, um eine Arbeit gegen Rechts zu beginnen, um den Fokus auf das Wesentliche zu behalten. Und um eben auch aktiv zu bleiben, wenn kein offensichtliches Nazi-Problem mehr bestehe. Weil Menschenverachtung auch ohne Nazis ein Problem ist. Daher ist es etwa Swantje Tobiassen immer wichtig, vor Ort mit starken Partnerinnen und Partnern zu agieren. Und diese in ihrer Arbeit nur zu begleiten. „Die eigentliche Arbeit gegen Rechts, das machen unsere Partnerprojekte vor Ort. Wir schaffen vielleicht einen passenden Rahmen, geben Wissen weiter und unterstützen bei Startproblemen. Aber die eigentliche Verantwortung für die Arbeit haben die Akteure vor Ort. So können sie auch weiterarbeiten, wenn wir uns wieder aus der Region zurückziehen müssen“, so Tobiassen weiter. Dass dieser Ansatz fruchtet, zeige sich nicht zuletzt beim Projekt „Region in Aktion“, das Ende des Jahres ausläuft – aber den Akteurinnen und Akteuren vor Ort die richtigen Werkzeuge in die Hand gegeben hat, um sich weiter gegen Nazis zu engagieren. Denn der Kampf gegen Nazis und für eine menschenfreundliche, demokratische Gesellschaft kann nicht warten.