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Der Staat will nichts wissen

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Das Gespräch führten Andrea Böhm und Gunter Hofmann

DIE ZEIT: Gerhard Schröder und die Wildecker Herzbuben ziehen gemeinsam für Deutschland in den Kampf gegen den Rechtsextremismus. Ist das der überfällige Schulterschluss zwischen Politik und Gesellschaft?

WILHELM HEITMEYER:
Ich habe ein großes Problem mit dieser Debatte, weil sie eher von der Sorge um die Standortsicherung als von der Sorge um die Menschenwürde getragen wird. Das betrifft nicht nur den Kanzler, sondern zum Beispiel auch Wissenschaftsorganisationen, die sich nun plötzlich um ihre ausländischen Mitarbeiter sorgen. Wenn aber ein mosambikanischer Dachdecker von Rechtsextremisten angegriffen wird, erschrickt kaum jemand.

ZEIT: Aber immerhin ist jetzt eine Aufmerksamkeit für das Thema da. Wie sehr interessiert sich die Politik nach Ihrer Erfahrung für die Ursachen?

HEITMEYER: Von staatlicher Seite will man an vielen Stellen über Ursachen nichts wissen. Das trifft nicht überall zu, aber ausgerechnet in den Institutionen, die mit dem Gewaltmonopol ausgestattet sind – und das unabhängig davon, welche Partei den Minister stellt. Schon Mitte der achtziger Jahre war für uns klar, dass sich in der Jugend fremdenfeindliche, rechtsextreme Orientierungen herauszubilden begannen. In Reaktion auf eine unserer Studien bat uns der Leiter einer Polizeischule, seine Schüler auf ähnliche Tendenzen zu untersuchen – das zuständige Ministerium sperrte daraufhin die nötigen Gelder. Direkt nach der Wende schlugen wir eine größere Untersuchung zu der Entwicklung bei den Skinheads vor – ein hoher Beamter des Jugendministeriums erklärte das alles für Unsinn und unverantwortlichen Alarmismus und hat das verhindert. Dieser Beamte sitzt heute noch dort an führender Stelle. Was die rechtsextremen Strömungen in der Bundeswehr betrifft: Der Minister Rühe hat den Umgang mit diesem Thema blockiert. Doch auch die neue sozialdemokratische Führung des Verteidigungsministeriums hat bis heute nicht auf unsere Vorschläge für entsprechende Untersuchungen reagiert.

Das Interesse für die Ursachen nimmt immer weiter ab und konzentriert sich stattdessen auf symbolische Handlungen oder auftrumpfende Drohungen gegen rechts. Die aktuelle Debatte ist verbunden mit einer Taktik des Abschirmens und Ausblendens.

ZEIT: Was verstehen Sie unter Ausblenden?

HEITMEYER: Es wird immer noch so getan, als wäre Rechtsextremismus ein politisches Gebilde, das nichts mit einer angeblich intakten Gesellschaft zu tun hat und das sich von ihr abtrennen lässt. Die Diskussion um das NPD-Verbot ist dafür typisch: Wären Verbote effektiv, dürften wir jetzt keine Probleme haben, denn Mitte der neunziger Jahre sind ja zahlreiche rechtsextremistische Organisationen verboten worden. Stattdessen muss man den Blick auf die Mitte lenken. Ich bin der Auffassung, dass sich Rechtsextremismus vor allem aus zwei Elementen zusammensetzt: Da ist einmal die Ideologie der Ungleichwertigkeit, mit der die eigene Gruppe, die deutsche Nation, mit rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Argumenten höher als andere bewertet wird. Die Elemente werden auch von Teilen der politischen und wirtschaftlichen Elite produziert und öffentlich angeboten.

ZEIT: In welcher Form?

HEITMEYER: Zum Beispiel in der Art, wie über Asylsuchende gesprochen wird. Oder durch einen Konzernvorstand, der vor nicht allzu langer Zeit bestimmte Menschen als „Wohlstandsmüll“ bezeichnete. Oder durch einen Innenminister, der die „durchrasste“ Gesellschaft verhindern wollte. Oder ein Minister, der zwischen Ausländern unterscheidet, die uns nützen und die uns ausnutzen. Je höher der Status dieser Leute in der Hierarchie ist, desto stärker wirken ihre Worte als Einstieg für die Ideologie der Ungleichwertigkeit. Rechtsextremisten radikalisieren das dann nur noch.

Auch auf der Suche nach Ursachen der Gewalt landet man wieder in der Mitte der Gesellschaft: Wir haben es meist mit heranwachsenden jungen Männern zu tun, die in der Regel mit Gewalt agieren und das zum Teil ideologisch legitimieren. Nun steht aber außer Frage, dass die meiste Gewalt nicht von Jugendlichen auf der Straße ausgeübt, sondern in Familien erfahren wird. Einerseits als Leid, andererseits aber auch als effektives Handeln. Die Ideologien der Ungleichwertigkeit und die der Gewaltbereitschaft verbinden sich, wenn sich ein Einzelner der Gefahr der sozialen Desintegration ausgesetzt sieht und dann andere Gruppen neue, emotionalisierte Integrationsangebote machen.

ZEIT: Was genau meinen Sie mit Integration?

HEITMEYER: Dass Menschen Zugang haben zum Beispiel zu Arbeit, dass sie an den öffentlichen Debatten teilhaben können, dass sie in sichere soziale Zugehörigkeiten eingebettet sind. All dies ist nur die objektive Ebene, doch selbst die ist ja bei vielen schon lange nicht mehr gesichert. Hinzu kommt dann vor allem die subjektive Interpretation der Leute: Fühlen sie sich in der Arbeitswelt, auf dem Job tatsächlich anerkannt? Glauben sie, bei der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten überhaupt noch gehört zu werden? Bekommen sie emotionale Anerkennung in den eigenen Gemeinschaften? In diesen Bereichen erfahren immer größere Gruppen zunehmende Desintegration oder ängstigen sich davor. Das empirische Ergebnis ist sehr klar: Je stärker die einzelnen Personen aus den verschiedenen objektiven und subjektiven Facetten der Integration herausfallen, desto größer ist die Neigung, soziale Probleme zu ethnisieren, anderen die Schuld zuzuschreiben.

ZEIT: Aber dies kann doch als Erklärungsmuster nicht für ganz Deutschland gelten, weil es im Osten nur circa zwei Prozent Ausländer gibt.

HEITMEYER: Wir müssen uns dem Problem stellen, dass es immer noch zwei deutsche Gesellschaften gibt. Die Problemkonstellation im Westen ist durch hoch belastete Stadtteile bestimmt, in denen erhebliche untergründige Spannungen existieren. Dort findet eine Ethnisierung sozialer Probleme in beängstigender Form zum Beispiel auch durch größere – wie die türkische Migrantengruppe – gegen kleinere Gruppen – wie Asylbewerber und Aussiedler – statt. In Ostdeutschland fehlen diese Gruppen bekanntlich. Deshalb sind diese massiven Feindseligkeiten eigentlich nur durch die eigene Verunsicherung und den Anerkennungszerfall zu erklären. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Feindseligkeiten noch durch die typischen kleinen „Stadtgemeinschaften“ abgedichtet werden und Änderungen kaum in Sicht sind, weil die dazu notwendigen tatkräftigen Institutionen leer zu sein scheinen.

ZEIT: Die Fähigkeit, mit Vereinzelung, Ungleichheit und Desintegration zu leben, gilt aber als die neue Herausforderung. Jetzt wollen Sie eine Grundsicherung an Anerkennung?

HEITMEYER:
Das ist genau das Problem. Wem inmitten der Modernisierungsdynamik die Anerkennung genommen wird, wer also zum Verlierer wird oder zu werden droht, der wird sich Anerkennung woanders schaffen. Jugendliche gleich welcher Herkunft gehen in Gruppen, weil das eine neue Integrationsplattform ist, wo sie ihre eigene Ohnmacht ausgleichen können – über Stärkedemonstration, über Gewalt. Denn eines ist klar: Wo Anerkennung zerfällt, wo die Frage „Für wen bin ich wertvoll?“ nicht mehr beantwortet wird, erkennen Menschen andere Personen in ihrer Gleichwertigkeit nicht mehr an. Und sie erkennen auch soziale Normen nicht mehr an.

ZEIT: In diesem Szenario klingt der Ruf nach Zivilcourage gegen rechts ziemlich hilflos.

HEITMEYER:
Ja. Denn damit bekommt man das Problem strukturell nicht in den Griff. Entscheidend ist, wie man zu einer veränderten Kultur der Anerkennung kommt. Dann wäre nämlich auch die Frage auf dem Tisch, was heute noch eine Gesellschaft zusammenhält. Früher war das tatsächlich die Wertehomogenität oder die Nation. Diese oft zwanghafte Wertehomogenität existiert Gott sei Dank nicht mehr …

ZEIT: … aber den Bedeutungsverlust des Nationalstaats machen Politiker wie Edmund Stoiber und Roland Koch verantwortlich für Rassismus und Fremdenhass. Die Europäisierung sei schuld, denn die habe die Nation demontiert und die Zerfallsprozesse befördert. Solche Äußerungen treffen einen Nerv …

HEITMEYER:
Solche Äußerungen könnten Vorboten eines Rechtspopulismus sein, den wir in Deutschland so bisher nicht haben. Aber mit Blick auf die Bundestagswahl 2002 fürchte ich, dass da drei Themen hochgespielt werden, die es in sich haben: erstens „kulturelle Überfremdung“ im Zusammenhang mit der neuen Zuwanderungsdebatte, zweitens die „politische Fremdbestimmung“ durch Europa, und das dritte Thema wäre eine Art „Repräsentationskritik“. Da geht es dann um die Frage: Wer kümmert sich noch um die Bewohner abgehängter Stadtteile in den großen Städten Westdeutschlands? Und wer kümmert sich um die Ostdeutschen, die ohnehin keine Stimme haben?

Das könnte – positiv besehen – der Auftakt zu einer neuen Demokratisierungsdebatte sein. Aber ich bin eher skeptisch, die genannten Themen werden einem Rechtspopulismus Tür und Tor öffnen, denn Rechtspopulisten sind Mobilisierungsexperten. Sie achten weniger auf Inhalte als auf Stil. Und über den Politikstil kann man „kulturelle Überfremdung“ und „politische Fremdbestimmung“ in verheerender Weise auf die politische Tagesordnung bringen.

ZEIT: Aber in Nordrhein-Westfalen sind Jürgen Rüttgers und die CDU mit der „Kinder statt Inder“-Kampagne doch gerade erst gescheitert.

HEITMEYER: Inzwischen ist die Zuwanderungsdebatte aber in ein neues Stadium getreten. Damals ging es um die Green Card, also um eine ganz begrenzte Gruppe von so genannten „nützlichen“ Migranten. Demnächst werden wir über ganz andere Größenordnungen debattieren. Man muss vorsichtig sein, dass sich nicht ein rechtspopulistischer Stil ausbreitet, der uns noch große Sorgen bereiten könnte. Denn wir haben es in Deutschland insgesamt mit einem großen rechtsextremen Potenzial in der Bevölkerung zu tun, das derzeit zumeist noch die Volksparteien wählt. Und in Zeiten knapper Mehrheiten ist man auf die Stimmen dieser Personen angewiesen und wird sie möglicherweise auch bedienen wollen.

ZEIT: Bei ihren Analysen spielt Anerkennung eine große Rolle. Wie soll eine Politik und Kultur der Anerkennung aussehen?

HEITMEYER:
Zunächst einmal müsste man zum Grundgedanken der Republik und zu ihrem Konzept von Gleichwertigkeit und Unversehrtheit zurückkehren. Dahinter liegt ja immer der Gedanke, wie man mehr Menschlichkeit schafft. Derzeit lautet die Hauptfrage aber: Wie viel Menschlichkeit sollen wir uns leisten? Das ist schon ein Paradigmenwechsel. Wenn zunehmend die amerikanische Mentalität zum Vorbild wird, wonach die Fortschrittsdynamik nur auf Touren bleibt, wenn Angst vor Abstieg und Deklassierung die Menschen auf Trab halten soll, dann ist eine Politik der Anerkennung außerordentlich schwer zu formulieren. Dann muss man vielmehr in Kauf nehmen, dass man zu ähnlichen Desintegrationsprozessen wie in den USA kommt – und jede desintegrierte Gesellschaft hat riesige Gewaltprobleme.

ZEIT: Statt von Anerkennung spricht die Politik immer von Toleranz.

HEITMEYER: Man kann schon bei Goethe nachlesen, dass Toleranz im Grunde Duldung heißt. Das beinhaltet immer auch verdeckte Abwertung. Toleranz können sich nur Mächtige, nur die Mehrheit gegenüber der Minderheit leisten. Das Perfide besteht darin, dass die Mehrheit sie auch wieder entziehen kann, wenn sie will. Deshalb ist Toleranz auch kein essenzieller Bestandteil von Demokratie. Das ist bei Anerkennung anders. Anerkennung basiert auf Wechselseitigkeit. Sie setzt rechtliche Gleichheit und moralische Gleichwertigkeit voraus und ermöglicht so erst die Austragung von Konflikten. Solange das nicht gegeben ist, fehlt die Konfliktfähigkeit – auch aufseiten der Minderheit, der Immigranten. Da wird dann allzu leichtfertig jede Art von Kritik als Ausländerfeindlichkeit abgestempelt. Heute halten nicht nur gemeinsam geteilte Werte eine Gesellschaft zusammen, sondern der Konflikt, also der Modus, wie die Gegensätze, wie das Ringen um Prinzipien ausgetragen und durchgestanden werden.

Da gibt es auch aufseiten der Migranten-Communities bedenkliche Tendenzen. Nehmen Sie den christlich-muslimischen Dialog, der eigentlich nur aus Monologen besteht. Im Moment wird versucht, die Scharia in die Debatte zu bringen, aber die ist mit den egalitären Prinzipien dieser Gesellschaft nun wirklich nicht vereinbar. Wenn jetzt Sonderrechte eingeführt werden, dann bekommen wir Parallelgesellschaften und Konfliktpotenziale in Stadtteilen, die ich mir am besten nicht vorstelle.

ZEIT: Jedes Bündnis für Toleranz sollte sich also in Bündnis für Anerkennung umbenennen?

HEITMEYER: Bündnisse reichen nicht, weil sie allzu oft leer sind und leer bleiben. Daran ändern auch Umbenennungen nichts. Es geht um eine Politik der Anerkennung. Es wäre schon ein Signal wenn man die so genannte Zuwanderungskommission künftig als Integrationskommission bezeichnen würde – und zwar Integration für Zugewanderte und für Teile der deutschen Gesellschaft. Denn das ist das eigentliche Problem: Je größer die Desintegrationsprozesse in Teilen der deutschen Gesellschaft sind, desto geringer sind die Integrationschancen von Ausländern oder Menschen nicht-deutscher Herkunft. Insofern wäre das nicht nur eine Namensänderung, sondern dahinter würde eine andere Substanz stecken. Mit einer Politik der Anerkennung würde man auch betonen, dass es in dieser Gesellschaft für einige Gruppen massive Konflikte gibt und dass man sich diesen Konflikten stellen muss.

Erschienen in DIE ZEIT 35/2000

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