Niemand ist gern der Aggressor, offenbar nicht einmal Wladimir Putin. Deshalb bedient sich der russische Präsident am 24. Februar, als er mit der russischen Armee die Ukraine angreift und damit einen Krieg beginnt, rhetorisch der Täter-Opfer-Umkehr. So versucht er, zugleich ungerechtfertigt ein Land anzugreifen und sich dabei trotzdem noch als Menschenfreund darzustellen.
Kein Genozid im Donbass
Putin verwendet also die einzige gesellschaftlich leidlich akzeptabel erscheinende Begründung für einen Angriff und spricht von einem „Genozid“ in den Regionen Luhansk und Donezk im Donbass, also von einem Völkermord an Millionen russischsprachiger Menschen, der dort im Gange sei – und er müsse eingreifen, um die Menschen dort zu schützen. Nur: Es gibt keinen Völkermord in Luhansk und Donezk, den beiden Regionen, die Putin am 21. Februar als „Volksrepubliken“ anerkannt hat. Dort werden keine Menschen ermordet. Es ist eine schlichte Lüge. Und keine sehr geschickte: Denn Russland und die Ukraine stehen ja bereits seit 2014 im Konflikt, Donezk und Luhansk stehen seit 2014 unter der Kontrolle des russischen Militärs und der Separatisten, die die Regionen von der Ukraine abspalten wollen.
Die Ukraine hat keinen Zugriff auf die Regionen und kann daher dort auch keinen Genozid begehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist zudem selbst russischer Muttersprachler und wurde bei den vergangenen Wahlen vor allem von der russischsprachigen Bevölkerung unterstützt.
Eine Entnazifizierung der Ukraine gibt es nicht
Die Ukraine ist ein demokratisches Land mit einer demokratisch gewählten Regierung. Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde 2019 in freien, demokratischen Wahlen gewählt. Er ist selbst Jude und sein Großvater hat, wie viele Ukrainer:innen, mit der sowjetischen Roten Armee gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Während 2014 rechtsextreme und nationalistische Gruppen versuchten, Macht in der politischen Landschaft der Ukraine zu gewinnen, haben die rechtsextremen Parteien bei den letzten Wahlen in der Ukraine 2019 weniger als fünf Prozent der Wähler:innen-Stimmen bekommen. Warum also spricht Putin davon, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen?
Die Mär von einer „faschistischen“ Ukraine oder zumindest einer „faschistischen“ Regierung der Ukraine spinnen russische Desinformationsmedien seit Jahren. Die deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband, die aus einer jüdischen Familie stammt, kommentiert gegenüber der ARD: „Putin setzt seit acht Jahren über seine Medien in die Köpfe seiner Leute die Geschichte von einer westlich gesteuerten Nazi-Revolution in der Ukraine. Darum unterstützen so viele Russen den Krieg, darum gibt es auch in der Ostukraine Unterstützer Putins. Die haben alle ihre Nachrichten über Kiew nur aus dem russischen Staatsfernsehen.“ (vgl. tagesschau.de).
Hier soll ein erfolgsversprechendes historisches Motiv wiederbelebt werden: Die russische Regierung will die positiv konnotierte Tradition als „sowjetische Befreier“ nutzen, die mit der multiethnischen Roten Armee der UdSSR einen blutigen, aber erfolgreichen Krieg gegen die Nazis und den Faschismus geführt und gewonnen haben. Diese positiv assoziierten Bilder sollen jetzt im Krieg gegen die Ukraine wieder erweckt werden. Allerdings ist die demokratisch gewählt ukrainische Regierung nicht faschistisch – sogar weit weniger als Putins Verhalten selbst, sodass es wie eine Projektion wirkt, wenn der russische Präsident der Ukraine faschistische Politik vorwirft. Denn Förderung von Neonazismus, Bedrohung der Sicherheit in Europa, angeblicher Wunsch nach Expansion – das wirft Putin der Ukraine vor, aber es beschreibt seine eigene Politik.
Zwar gibt es auch in der Ukraine Rechtsextreme, wie in anderen Staaten auch, und es war sicher kein vertrauensstärkender Zug, ein rechtsextremes Regiment wie das Asow-Bataillon in die staatlichen Streitkräfte aufzunehmen. Allerdings gibt es auch auf russischer Seite in den Streitkräften viele rechtsextreme Akteur:innen, dazu kommt aber auch die nationalistisch geprägte Politik Putins und eine große Zahl rechtsextremer „Thinktanks“, die die russische Politik mitzubestimmen versuchen – eine Mobilisierung, die auch zu einer hohen Zahl rechtsextremer Morde in Russland führt. Nicht zuletzt unterstützt die russische Regierung zudem rechtsradikale sowie nationalistische Strömungen in Europa finanziell, etwa den von Marine Le Pen geführten französische Front National 2014 (seit 2018 Rassemblement National). AfD-Abgeordnete ließen sich nach Russland einladen (vgl. tagesschau.de).
Und, wie Kamil Majchrzak, Vertreter für Überlebende von Buchenwald-Dora, gegenüber dem Spiegel sagt: „Der Versuch, den rechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine mit einer ‚Entnazifizierung‘ oder der Verhinderung eines Völkermordes zu legitimieren, ist nicht nur eine Verzerrung der Realität. Das ist eine inakzeptable und zynische Verfälschung der NS-Verbrechen. Was Putin macht, das ist keine Entnazifizierung, das ist Verfälschung und Verharmlosung des Holocaust.“ Die Bomben, die auf die Ukraine fielen, fielen auch auf die letzten überlebenden Häftlinge der deutschen KZs Buchenwald und Auschwitz-Birkenau. Allerdings weist Majchrzak auch darauf hin: „Im Donbas kämpft seit Jahren auch das rechtsextreme Asow-Bataillon, das dem ukrainischen Innenministerium unterstellt ist, nicht nur gegen russische Separatisten, sondern wie Putin auch gegen die liberale Demokratie, gesellschaftliche Diversität und Pluralität. Der Überfall Russlands führt paradoxerweise zu einer Verklärung solcher neofaschistischen Gruppen in der Ukraine. (…) Möglich wird das durch mittlerweile massenhafte Vergleiche des gegenwärtigen Konflikts mit dem Überfall NS-Deutschlands auf die Ukraine 1941 sowie die Darstellung Putins als neuen Hitler.“ Denn auch diese Gleichsetzungen seien von Ignoranz gegenüber dem Leid der Opfer des Holocausts geprägt (vgl. Spiegel).
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