Krise – welche Krise? Gleich zu Beginn der Pressekonferenz zur Langzeitstudie „Deutsche Zustände. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ stellte Professor Wilhelm Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld gleich zum Beginn fest: „Die“ Krise, so gern sie 2009 disktutiert wurde und wird, gibt es eigentlich nicht – statt dessen allerdings eine ganze Folge von Krisen: Der Finanzkrise, die nur wenige konkret beträfe, folgten eine weitreichendere Wirtschafts- und Fiskalkrise, die dann der Einzelne im spüre – und die könne sich im äußersten Fall bis zur Gesellschaftskrise – bis zum Infragestellen des aktuellen gesellschaftlichen Systerms ausweiten. Aktuell wären wir diesem Modell gemäß im Status der Wirtschaftskrise.
Anzeichen für eine Demokratie-Ermüdung und einen zu erwartenden Anstieg von abwertenden Vorurteilen gegenüber schwachen Gruppen sehen die Wissenschaftler aus Bielefeld in ihren Daten. Zwar sieht aktuell die Ergebniskurve im Verlauf der Jahre passabel aus – so sinken im Vergleich zu den Zahlen von 2008 (aber auch von 2002) die Äußerungen von Fremdenfeindlichkeit (deutlich), Etabliertenvorrechten (deutlich), Islamfeindlichkeit (leicht), Behindertenfeindlichkeit (leicht), Obdachlosenfeindlichkeit (leicht), Sexismus (deutlich), Rassismus (deutlich) und die Abwertung von Langzeitarbeitslosen (leicht). Nur Homophobie und Antisemitismus steigen – interessanterweise die beiden Gruppen, die eher als „statushoch“ wahrgenommen werden und somit, so Wissenschaftlerin Beate Küpper, als mögliche Erklärung als verantwortlich für die Finanzkrise gehalten würden.
Die Krise allerdings, so Heitmeyer, löse in den Befragten massive Ängste aus.
– So fürchen 92 %, es würde in Zukunft mehr soziale Abstiege geben.
– 94 % erwarten mehr Armut.
Auch wenn viele sich persönlich noch nicht betroffen fühlten, erlebten sie die Krise als Bedrohung für die Gesellschaft. Dies zerstöre zunehmend gesellschaftliche Kernnormen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness.
– So erwarten 75 % der Befragten, dass die Bedrohung des Lebensstandards die Solidarität mit Schwachen verringert,
– 59 % sehen in Krisenzeiten weniger Chancen auf Gerechtigkeit und
– 62 % meinen, in Krisenzeiten könne man nicht mit Fairness druch andere rechnen.
Damit steige das Desintegrationsriskio – und wer sich gesellschaftlich nicht integriert fühlt, so zeigten die Studien der vergangenen Jahre, neigt eher dazu, schwache Gruppen abzuwerten.
Was aber sind Folge der Krise für die Gesellschaft? Professor Andreas Zick erkennt eine „krisenbedingte Kündigung der Gleichwertigkeit„. Zwar stimme die oft vertretene These nicht, wer frustriert sei, reagiere aggressiv gegenüber anderen. Allerdings ist diese These nur zu einfach, aber nicht komplett verkehrt. Es kommt nur nicht auf das persönliche Gefühl der Bedrohung an, sondern ob man die Gesellschaft, in der man lebt, bedroht sieht. Ist dies der Fall, sind Menschen bereit, den Gedanken, alle Menschen seine gleichwertig, aufzugeben und Solidarität wird aufgekündigt.
– 32 % meinen, in der Wirtschaftskrise können wir uns nicht leisten, dass alle Menschen gleiche Rechte haben.
– 20 % meinen, wir können es uns in der Krise nicht mehr erlauben, Minderheiten besonders zu achten und zu schützen.
– 61 % meinen, in Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.
Als Folge sei mit einem Anstieg gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu rechnen.
Julia Becker befasste sich mit den Auswirkungen von Schuldzuschreibungen für die Krise. Hier sind die Ergebnisse überdeutlich: Wer glaubt, Ausländer seien Schuld an der Krise, stimmt auch sonst mehr rassistischen Aussagen zu. Wer glaubt, vorgeblich „jüdisch“ geprägte „Banken und Finanzkapital“ seine Schuld den der Krise, stimmt auch sonst antisemitischen Aussagen zu. „Die einzige Schuldzuschreibung, die keine Auswirkungen auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat, ist: Das Wirtschaftssystem ist schuld“, so Becker.
Anna Klein wies auf einen weiteren brisanten Faktor hin: Die politische Kapitulation der mittleren und besonders unteren sozialen Schichten. Diese hätten zwar am meisten unter den Folgen der Wirtschaftskrise zu leiden, nehmen aber am wenigsten an politischen Äußerungen teil, wie es Demonstrationen, politische Veranstaltungen oder schlicht Wahlbeteiligung sind. Wer sich allerdings so machtlos und ungehört fühle, dass er nicht einmal mehr versucht, Konflikte demokratisch auszutragen, werde anfällig nicht nur für abwertende Vorurteile, sondern auch für rechtspopulistische Propaganda.
Beate Küpper stellte schließlich vor, das im Blick auf Vorurteile und im Vergleich mit anderen Ländern in Europa Deutschland im Mittelfeld der Ergebnisse läge (Details dazu hier). Allerdings sei es mit Blick auf die deutsche Geschichte und deren Aufarbeitung schon erstaunlich, dass hier immer noch rund 48 Prozent antisemitischen Aussagen zustimmten. Erschreckend fand sie allerdings die Ergebnisse zur Frage „Die muslimische Kultur passt gut in mein Land“ – während europaweit 31,3 Prozent der Befragten zustimmten, waren es in Deutschland nur 16,6 Prozent – 83,4 Prozent finden im Umkehrschluss, muslimische Kultur passe nicht nach Deutschland (mehr Daten zur Islamfeindlichkeit hier). Auch europaweit sei aber zu erkennen, dass Zukunftssorgen dazu beitragen, dass Menschen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit tendieren, also schwache Gruppen ablehnen, wie auch das subjektive Gefühl, Zuwanderer bedrohten die Wirtschaft und Kultur des Landes.
Diese wachsende – und durch rechtspopulistische Kampagnen geschürte – Gefühl der Bedrohung, warnte Küpper, sei eine sehr schlechte Voraussetzung zur Intergration – auf Seiten der deutschen Mehrheit. Wilhelm Heitmeyer sieht die deutsche Gesellschaft gar am Beginn eines neuen autoritären Jahrhunderts. Er habe den Eindruck, so Heitmeyer, aktuell werde politisch die Sicherung der Wirtschaft auf Kosten der sozialen Integration und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes gelöst. Dies müsse von der Politik zur Kenntnis genommen und als gesellschaftliche Debatte geführt werden.
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