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Deutsche Zustände 2011 Wer sich bedroht fühlt, agiert menschenfeindlicher

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Seit zehn Jahren veröffentlicht das Forscherteam vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld im Dezember ihre Erkenntnisse zu den „Deutschen Zuständen“ (so auch der Titel der gleichnamigen Publikation im Suhrkamp-Verlag). Dabei betrachten die Forscherinnen und Forscher die verschiedenen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, untersuchen ihr Zusammenwirken und wie gesellschaftliche Verhältnisse auf die Einstellungen Einfluss nehmen.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Wilhelm Heitmeyer stellte mit Blick auf die Gesamtergebnisse fest: Die Zustimmung zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und zur Abwertung von Obdachlosen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen nimmt nach den Abnahmen der vergangenen Jahre im Verlauf des letzten Jahres wieder deutlich zu. Lediglich die Islamfeindlichkeit und die Zustimmung zu Etabliertenvorrechten blieben in etwa auf dem gleichen Niveau wie in den Vorjahren. Beim Sexismus, klassischem Antisemitismus und der Homophobie registrierten die Forscher/innen eine kontinuierliche Abnahme.

Signalereignisse
Wilhelm Heitmeyer sprach mit einem Blick auf die zehnjährige Studie, die mit der diesjährigen Publikation zumindest vorerst zu Ende geht, von verschiedenen „Signalereignissen“, die zu einer Veränderung in den Einstellungen der Menschen in Deutschland führten. Dies seien
– der 11. September 2011 (Einfluss auf die Islamfeindlichkeit)
– die Einführung von Hartz IV (Einfluss auf das Gefühl der Desintegration der Betroffenen)
– Krisenereignisse der vergangenen Jahre (Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Prekarisiserung, Krise des Sozialstaates, Schuldenkrise).

Fazit: Wer sich bedroht fühlt, agiert menschenfeindlicher
Diese Ereignisse sind laut Heitmeyer deshalb besonders relevant, weil sich Menschen von ihnen bedroht fühlen – und wer sich bedroht fühlt, agiert deutlich menschenfeindlicher. So lautet ein entscheidendes Fazit der „Deutschen Zustände“.

Schleichende Prozesse
Darüber hinaus beobachten die Wissenschaftler aber auch Prozesse, die eher schleichend und langfristig Einstellungen verändern. Hierzu zählt Heitmeyer die Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft. Da es aktuell keine Vision gäbe, wie es gesellschaftlich weiter gehen sollte, griffen Menschen auf Abwertungen zurück, um sich ein Weltbild zu konstruieren. Ein weiterer kritisch zu betrachtender Prozess sei die Ökonomisierung des Sozialen. „Wenn Marktprinzipien wie Effizienz und Nützlichkeit als Bewertungskriterien auf Menschen übertragen werden, verletzt das die menschliche Würde“, so Heitmeyer auf der Pressekonferenz zu den „Deutschen Zuständen“ am 12.12.2011 in Berlin.

Und dann beobachtet Heitmeyer noch ein zunehmende Demokratientleerung: „Das System funktioniert noch, aber die inhaltliche Qualität geht verloren“, so Heitmeyer. Damit entfernten sich immer mehr Menschen vom demokratischen System – mit problematischen Folgen für die Abwertungen anderer Menschengruppen. Heitmeyer fasste es prägnant so: „Ich will hier keine Politiker/innen-Beschimpfung betreiben – das verträgt unser System im Moment gar nicht mehr.“

Die Folgen dieser problematischen Entwicklungen: die soziale Spaltung in der Gesellschaft nimmt zu. Sie wird sogar als so stark wahrgenommen, dass Werte wie Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität als nicht mehr realisierbar erscheinen. Damit geht eine Entsolidarisierung gegenüber schwachen Gruppen einher. Immer mehr Menschen fühlen sich der Demokratie entfremdet und machtlos. „Hier muss die Politik ihre Aufgabe sehen, diesen Entwicklungen aktiv entgegen zu wirken. Sonst ist sie an den menschenfeindlichen Einstellungen und der Gewalt, die daraus resultieren, beteiligt!“, sagt Wilhelm Heimeyer. Der aktuelle Diskurs um das rechtsextreme Mörder-Trio des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ zeige die Tendenz, sich selbst zu entlasten, statt sich selbst zu befragen, wie solche Taten in unserer Gesellschaft entstehen und geschehen können.

Gewalt als Handlungsoption
Passend dazu setzt sich Beate Küpper damit auseinander, wie aus einer Gewalt gutheißenden Einstellung eine Gewalttat wird. Faktoren, die Gewalt begünstigten, seien die Einstellung von Freunden und Familie, soziale Normen (Ist Gewalt geächtet oder akzeptiert?), die Frage der Möglichkeit und die Einstellung, Gewalt als Handlungsoption in Erwägung zu ziehen.

Beate Küpper

Die Einstellungen wiederum hat Küpper untersucht und festgestellt: 28 Prozent der Befragten billigen Gewalt zur „Absicherung der eigenen Vormachtsstellung“, 25 Prozent wären auch aktiv bereit, Gewalt einzusetzen, wenn sie sich bedroht fühlten. Diejenigen, die Gewalt aktiv ausüben, sind größtenteils junge Männer – aber die Älteren, die die sozialen Normen prägen, billigen die Gewalt und tragen so dazu bei. Ein weiteres Ergebnis: Je weiter rechts sich ein Befragter verortet, desto stärker wird Gewalt als Handlungsoption befürwortet. Außerdem zeigen die Daten: Wer Gewalt billigt ist potenziell auch bereit, Gewalt anzuwenden. Und: Wer Gewaltaffinität zeigt, stimmt gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eher zu.

Rechtspopulisten werden weniger, aber gefährlicher
Anna Klein beschäftigte sich mit dem rechtspopulistischen Potenzial in Deutschland und kommt zu dem Ergebnis, dass dieses seit 2003 stark abgenommen habe – aber zugleich eine deutliche Tendenz zeigt, protest- und gewaltbereiter zu werden.

Anna Klein

Allerdings fußen die Ergebnisse auf der Annahme, dass Rechtspopulisten fremdenfeindlich, islamfeindlich, autoritär aggressiv und antisemtisch seien – und gerade der Antisemitismus hat in den letzten Jahren in dieser Szene eher abgenommen, während die Islamfeindschaft umso bestimmender wurde, was, wie Klein zugeben musste, in der Forschung so nicht angepasst werden konnte.

Wie viel Vielfalt verträgt unserer Gesellschaft?
Andreas Zick befasste sich abschließend mit der Frage, wie es mit der Gleichwertigkeit aller Menschen in unserer Gesellschaft bestellt ist – gerade angesichts dessen, dass aktuell mit „Bedrohungsmythen“ gut Politik zu machen sei. Zick stellte klar: „Wer meint, eine Bedrohung durch vermeintlich Fremdes zu inszenieren, stärke den Zusammenhalt in der eigenen Gruppe, irrt gewaltig.“

Andreas Zick

Allerdings ist es um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht gut bestellt: 56 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass der Zusammenhalt in Deutschland gefährdet ist; 74 Prozent finden sogar, dass die Gesellschaft auseinander fällt. Wer aber der Meinung ist, dass der Zusammenhalt bedroht ist, fühlt sich auch stärker von kultureller Vielfalt bedroht. 37 Prozent stimmen der Aussage zu, es gäbe zu viele kulturelle Unterschiede in Deutschland. Und 50 Prozent der
Befragten stimmten der erschreckenden Aussage zu, dass Deutschland „überfremdet“ sei. Aus den Zahlen belegbar ist darüber hinaus, dass die, die sich von Vielfalt bedroht fühlt, auch eher zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit neigen.

Was tun?
Zick plädiert als Gegenstrategie für eine Öffnung der Gesellschaft, um der scheinbaren Homogenität entgegen zu wirken. Heitmeyer ergänzte, bisher erweise sich Bildung noch als stabiler Puffer gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – doch es sei die Frage, wie lang dies unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen funktioniere. Es gäbe zumindest Anzeichen, dass es schwierig würde, gegen die subtilen und modernen Facetten der gruppenbezogenene Menschenfeindlichkeit mit Bildung zu wirken. Wenn etwa Politiker aller Couleur in Europa einen „sofortigen Immigrationsstopp“ forderten, werde der Einfluss von Bildung geringer.

Wolfgang Thierse

Leider müssen die Wissenschaft und Praxis in Zukunft auf den „gesellschaftlichen Seismographen“, den die „Deutschen Zustände“ darstellten, verzichten: Die zehnjährige Förderung durch die Volkswagen Stiftung, die Freudenberg-Stiftung und die Möllgaard-Stiftung ist ausgelaufen, eine neue Finanzierung ist noch nicht in Sicht. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse bedauerte diese Ende. Er lobt das Forschungsprojekt dafür, zu zeigen, dass „feindselige Mentalitäten einen Kontext haben“, und auch dafür, dass es zeige, dass die Solidarität die Voraussetzung für den sozialen Frieden sei, der allen Menschen in Deutschland dazu verhelfen könne, gleichwertig verschieden sein zu können. „Der gesellschaftliche Bedarf an solcher Forschung ist unübersehbar“, sagt Wolfgang Thierse.

Die Studie:

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg): Deutsche Zustände 10. Berlin 2011; Edition Suhrkamp 2647, 336 Seiten

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