Am 3. Oktober endete in München das 188. Oktoberfest auf der Theresienwiese. Auf dem weltweit größten Volksfest ging es über zwei Wochen um bunte Fahrgeschäfte, verzierte Lebkuchenherzen und bayerische Trachten. Gleichzeitig ist es eine Zeit des Exzesses, des Rausches und einer inszenierten Männlichkeit. Und so gehören rassistische, diskriminierende und sexuelle Übergriffe leider ebenso zum Wiesn-Spektakel wie Maßkrüge voller Bier und Achterbahnen.
Sechs Vergewaltigungen auf der Wiesn
Mit 7,2 Millionen Besucher*innen erzielte das diesjährige Oktoberfest ein Rekordergebnis. Auch die gemeldeten Sexualdelikte sind rekordverdächtig. So wurden 73 Delikte registriert, darunter sechs Vergewaltigungen, 2022 waren es 58 Vorfälle, darunter drei Vergewaltigungen. Die gestiegenen Zahlen führt die Polizei auf Präventionsarbeit und somit eine verstärkte „Sensibilisierung im Bereich Anzeigenbereitschaft“ zurück. Mag sein, und dennoch scheinen diese Zahlen nur die Spitze des Eisberges zu sein, da sich viele Frauen* noch immer selbst die Schuld an sexuellen Übergriffen geben.
In 24 Fällen wurden Mädchen* und Frauen* in der Anlaufstelle „Safe Space“ von „Sichere Wiesn“ aufgrund akut erlebter Gewalt beraten. In 16 Fällen handelte es sich dabei um sexuelle Gewalt. Die Übergriffe reichten von unerwünschten Berührungen über ungewollte Küsse und „Upskirting“ – mehrere Männer wurden dabei gestellt, wie sie mit Kameras unter die Röcke von Frauen filmten – bis hin zu schweren sexuellen Übergriffen.
„Sichere Wiesn für Mädchen* und Frauen*“
Seit 2002 gibt es das Projekt „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“. Dort können Frauen und alle, die sich als solche identifizieren, Schutz suchen, wenn sie auf der Wiesn die Orientierung verloren haben, die eigene Gruppe verschwunden ist, sie belästigt wurden oder sie Opfer von sexueller Gewalt wurden.
Für viele männliche Besucher scheint es immer noch völlig okay zu sein, eine Frau* gegen ihren Willen zu berühren, zu küssen, zu bedrängen. Das ist bekannt“, so Kristina Gottlöber, Diplom-Sozialpädagogin und Fachberaterin der „Sicheren Wiesn“, gegenüber Belltower.News. Mädchen* und Frauen* würden sich oftmals intensiv auf den Oktoberfestbesuch vorbereiten. „Fast jede Frau* hat bereits Belästigung erlebt, viele von ihnen haben konkrete Strategien entwickelt, um sich davor zu schützen, sie bereiten sich regelrecht auf den Besuch vor, tragen eine Radlerhose unter dem Dirndl, gehen nicht alleine auf die Toilette etc.“
„Es ist bestürzend, dass Frauen* auch 2023 nicht unbeschwert zum Feiern gehen können, sondern quasi schon mit sexuellen Grenzverletzungen rechnen.“
Die vorläufige Abschlussbilanz der „Sicheren Wiesen“ zählt in diesem Jahr zudem acht Wiesnbesucherinnen, die von körperlicher Gewalt durch Partner oder Fremde betroffen waren. Die Zahl der Gewaltvorfälle liegt prozentual bei etwa acht Prozent aller Hilfesuchenden und damit etwa im gleichen Bereich wie in den Vorjahren (2019 und 2022: jeweils neun Prozent). Und dennoch zeigt sich Gottlöber wenig überrascht von der diesjährigen „Sicheren Wiesn“-Bilanz.
Gottlöber und ihre Kolleg*innen wünschen sich seit Langem eine absolute Nulltoleranzpolitik gegen Grapschen oder Upskirting. „Viele Übergriffe werden immer noch bagatellisiert. Ich denke, wir brauchen einen weiteren gesellschaftlichen Wandel, der unter anderem mit Kampagnen wie #metoo bereits begonnen hat und erste Früchte trägt.“
Elfmal liegt der Verdacht nahe, dass den Frauen* und Mädchen* K.O.-Tropfen verabreicht wurden. Das ist eine Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren. Während 2019 und 2022 bei jeweils einem Prozent aller Klientinnen ein K.O.-Tropfen-Verdacht festgestellt wurde, war das dieses Jahr in drei Prozent aller Beratungen der Fall (2019: vier Fälle / 2022: sechs Fälle).
Besonders junge Frauen*betroffen
235 Hilfesuchende waren unter 30 Jahre alt, 35 von ihnen waren minderjährig. Die Unter-30-Jährigen machen somit 76 Prozent aller Klientinnen aus. Die jüngste Besucherin war 15 Jahre alt, die älteste 89 Jahre.
„Sexuelle Gewalt kann jede Frau* jeden Alters betreffen“, betont die Sozialpädagogin. Dass so viele junge Frauen* betroffen sind, erklärt sie sich mit, dass sie ein Teil der Wiesn-Party-Kultur ausmachen, bei der intensiv und exzessiv gefeiert wird. Das Problem ist jedoch, dass Betroffenen oftmals eine Mitschuld am Übergriff gegeben wird. „Es heißt dann, sie seien zu freizügig gekleidet, haben zu viel getrunken oder zu intensiv geflirtet.“
Feierkultur und Victim Blaming
Dieses Victim Blaming ist noch immer eine weit verbreitete gesellschaftliche Haltung. Und führt oftmals dazu, dass viele Mädchen* und Frauen* Übergriffe und Gewalt nicht anzeigen und sich keine Hilfe holen. „Dabei muss ganz deutlich gesagt werden: Die Schuld liegt einzig bei den Täter*innen. Wer Betroffenen eine Mitverantwortung gibt, schützt somit indirekt Täter (und Täterinnen).“