Kommentar von Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung
Jugendliche Spielfreude statt Panzerfahren – das hat die Welt begeistert. Und schaut euch die Spieler an, sie sind das neue Deutschland: Müller neben Özil, Schweinsteiger neben Boateng. Deutschland ist nicht mehr nur weiß, und das funktioniert besser, als es sich die meisten „Biodeutschen“ je vorstellen konnten. Wir sind angekommen in der bunten Realität dieses Landes, endlich! Spanien feiert in Rot-Gelb, Holland in Orange, Uruguay in Blau-Weiß und Deutschland in Schwarz-Rot-Gold. Diese drei Farben stehen für uns alle.
Mich zog es bei jedem Deutschlandspiel zum besten Falafel-Laden der Welt in Berlin-Mitte. Dort feierten meine Nachbarn und arabischen Freunde, die größten Patrioten überhaupt. Brasilianische Mädchen mit Vuvuzelas in Schwarz-Rot-Gold, Berliner Türken mit dreifarbigen Gesichtern. Die Vietnamesen im Kiosk stürmten bei jedem Tor von Klose & Co auf die Straße. Das hat mir gefallen. Das war wirklich und ganz ehrlich unverkrampft. Die Nazis hatten dagegen eine schwere Zeit, sie maulten über jeden Erfolg und noch mehr über jeden Misserfolg der Mannschaft – das Team war ihnen nicht „arisch“ genug. Und dann die vielen Menschen in Schwarz-Rot-Gold, eine Inflation des Nationalen – aber nicht ernst genug gemeint nach dem Geschmack der Nazis. Außerdem durften sie nicht mehr unterscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Da waren die Nazis gründlich beleidigt! Wohl auch deshalb wurden immer wieder und viel zu oft Reichskriegsflagge und Hitler-Gruß gezeigt.
Dennoch: Was bleiben wird, ist das Bild von einem Deutschland, das seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat und dies nun auch mit der „gelungenen Integration von Spielern mit ausländischen Wurzeln“ belegen kann. Doch mein Gefühl bleibt skeptisch, bestenfalls zwiespältig. Denn in der Wahrheit dieses Bildes steckt auch seine Lüge. Deutschland geht noch immer miserabel mit seinen Einwanderern um, wie es der jüngste Integrationsbericht der Bundesregierung zeigt. Kinder aus Einwandererfamilien stoßen noch immer auf zu viele Hindernisse bei ihrem Aufstieg. Sie werden nicht genug gefördert, zu schnell ausgegrenzt, sind ganz banalem, verstörendem Alltagsrassismus ausgesetzt, werden bei der Arbeitssuche diskriminiert und gelten allemal nicht wirklich als Deutsche. In dieser Hinsicht ist Deutschland ein Entwicklungsland mit zum Teil haarsträubenden Formen von Rassismus in Institutionen und Gesellschaft.
Und natürlich gibt es immer noch: die No-Go-Areas für Nicht-Weiße in Deutschland, genau wie den verdrucksten Umgang mit der NS-Geschichte, im Westen wie im Osten. Wir leben in einem Land, in dem man sich sogar in den Leitmedien gern vor Lachen auf die Schenkel klopft, wenn ein hochdotierter Mann wie Thilo Sarrazin seinen plumpen Rassismus äußert. Ach ja, der nun wieder – und spricht den Leuten aus der völkischen Seele.
Das ist die Abwehr. Da steht sie. Doch wie ein Panzer. Wer durchkommt, hat Glück. Damit die Realität den Eindruck vom bunten Deutschland einholen kann, müssen wir noch sehr, sehr viel trainieren.
Dieser Artikel zuerst in der Berliner Zeitung vom 12. Juli 2010. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.