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Die flüssige Mauer – ein Kommentar zur Flüchtlingspolitik

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Flüchtlinge in Lampedusa (Quelle: flickr/cc-Lizenz/Vito Manzari)

Ein Kommentar von Anetta Kahane

Das Meer ist komplett kartographiert. Vor allem das Mittelmehr. Überwacht wird es von Drohnen und Schnellbooten mit Radar, Laser und Nachtsichtgeräten. Selbstschussanlagen wie damals um Berlin sind hier Stürme und Gezeiten, an denen kleinere Boote zerbrechen. Die Menschen darauf überleben nur mit Glück. Und jene, die im Meer verrecken, sollen andere abschrecken. Deshalb sollen sie nicht gerettet werden. Das Mittelmeer heute ist wie die Mauer von einst, nur flüssig. Der Toten dieser Mauer kann nur ein schwimmendes Mahnmal gedenken. Wenn es denn je dazu kommt.

Man muss keine politische Ideologie bemühen um zu wissen, dass die Fluchtursachen von Menschen südlich von Lampedusa einer der Quellen sind, die unseren Wohlstand ausmachen. Auf Korruption und ihren tyrannischen Folgen beruht jene Bilanz, die es dem weißen Norden möglich macht, aus jenen Ländern all das zu bekommen, was unser Leben reich und billig macht. Ginge es gerechter zu, gäbe es weniger Fluchtursachen. Und wir wären vielleicht ärmer. Wer also der Haltung zustimmt, dem Schutz vor Flüchtlingen Vorrang zu geben vor dem Schutz von Flüchtlingen – übrigens ist das eine deutsche Erfindung, die zum europäischen Standard aufgestiegen ist – folgt auch der zu tiefst wirtschaftsrassistischen Logik darin. Das alles zu wissen ist das Eine. Handeln wäre das Andere. Wenigstens innerhalb Deutschlands. Wenigstens im Kleinen. Die Frage, was die deutsche Wirtschaft an den Fluchtursachen verdient oder wie sie es tun kann, ohne an jenen Katastrophen mitzuwirken, die Menschen fliehen lassen, stellt sich als erstes. Ob und wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen sollte, schließt sich als dringende Frage gleich an. Und bevor das zynische Abwehrspiel mit Zahlen und Geopolitik weitergeführt wird, müssen diejenigen geschützt werden, die bereits da sind. Bevor – das bedeutet hier, das Offensichtliche zu tun. Alle drei  Fragen sind gleich wichtig und keineswegs eine Reihenfolge, Priorität oder gar Bedingung. Sie sollten nicht so miteinander verkoppelt werden: Ehe dies nicht geschehen ist, kann auch jenes auch nicht getan werden. So lässt sich Nichts-Tun auch begründen. Mit der Folge, dass derweil weiter Menschen sinnlos zugrunde gehen im Massengrab Mittelmehr.

Bald werden in Deutschland die Koalitionsverhandlungen beginnen. Wer auch immer der Partner in einer neuen Regierung wird, sollte darauf drängen, diese drei Fragen auf die Tagesordnung zu setzen. Der erste Schritt ist ganz einfach und braucht keine Verhandlungen in der EU: Deutschland kann sofort mehr Flüchtlinge aufnehmen und dafür sorgen, dass sie hier von Nazis und dessen Mob verschont bleiben. Dazu sind keine komplizierten Sondierungen nötig. Wenigstens hierbei sollte jenes Land besondere Verantwortung zeigen, das bis vor kurzem noch geteilt war durch die Mauer. Die Erinnerung daran, was es bedeutet mit Gewalt eingesperrt zu sein, ist noch präsent. Die Mauertoten sollten eine Abschreckung sein für alle, die weg wollten aus der DDR. Denen, die solch zynische Verbrechen zu verantworten hatten, waren die Opfer egal. Darauf wird zu Recht immer wieder hingewiesen, besonders – wie gerade erst – bei den Feiern zur Deutschen Einheit. Die Toten an der flüssigen Mauer verdienen mehr als nur Krokodilstränen und Särge. Sie verdienen, dass sofort getan wird, was auch sofort möglich ist. Alles andere wäre nicht besser als der Zynismus an der Mauer.

Anetta Kahane ist Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung.

Mehr Informationen:

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Hintergrund:

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