Dieser Texte stammt aus dem EFBI Digital Report 2024-03 Die extreme Rechte während des sächsischen Landtagswahlkampfes 2024.
TikTok hat sich mit über 23 Millionen Nutzer:innen in Deutschland – Tendenz steigend – insbesondere für die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen zu einer der bedeutendsten Social-Media-Plattformen entwickelt. Im Zuge der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2024 und dem bemerkenswerten Anstieg der AfD-Unterstützung unter jungen Wähler:innen (31 % bei den 18- bis 24-Jährigen, +11 % im Vergleich zu 2019) gewinnt die Frage an Bedeutung, welche Rolle TikTok bei der politischen Informationsvermittlung und bei der Meinungsbildung unter jungen Wähler:innen spielt.
Grundsätzlich gehören soziale Medien zu den wichtigsten Quellen, mit Hilfe derer sich Jugendliche über aktuelle Themen informieren. TikTok ist mit 59 % das dritthäufigste Online-Angebot, das von Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren täglich oder mehrmals pro Woche genutzt wird – nach WhatsApp und Instagram. 30 % der Jugendlichen geben an, TikTok regelmäßig als eine ihrer Top-5-Nachrichtenquellen zu nutzen. Eine laufende Studie des Potsdam Social Media Monitor an der Universität Potsdam beobachtete im Kontext der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Sichtbarkeit verschiedener politischer Parteien und deren Themen auf TikTok. Erste Erkenntnisse zeigen ein bemerkenswertes Ungleichgewicht in der politischen Repräsentation auf der Plattform.
Studiendesign
Die Studie wurde im Kontext der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg durchgeführt, mit einem spezifischen Fokus auf die Sichtbarkeit der politischen Parteien und deren Themen auf TikTok. Für die hier präsentierten Ergebnisse konzentrieren wir uns auf Daten aus Sachsen, die im Zeitraum vom 13. August bis zur Schließung der Wahllokale am 1. September 2024, 18:00 Uhr erhoben wurden.
Im Rahmen der Studie wurden 30 TikTok-Accounts erstellt und beobachtet, wovon sieben spezifisch für Sachsen konfiguriert wurden. Die Accounts wurden so gestaltet, dass sie typische Nutzer:innen der relevanten Zielgruppe repräsentierten. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten und potenzielle Einflussfaktoren zu kontrollieren, wurde das Alter der simulierten Nutzer:innen konstant gehalten (Jahrgang 2006), während das Geschlecht über den Namen und die Angabe der Pronomen variiert wurde (weiblich/männlich/divers/keine Angabe).
Zur Gewährleistung einer konsistenten und unvoreingenommenen Datenerhebung wurden die Accounts über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg automatisiert gesteuert. Die Automatisierung stellt sicher, dass das Nutzerverhalten konstant bleibt und nicht durch menschliche Interventionen beeinflusst wird. Der Zugriff auf die Plattform erfolgte über die Web-Version von TikTok, wobei der „ForYou“-Feed im Zentrum der Untersuchung stand. Dieser Feed, der durch TikToks Algorithmen personalisiert wird, bietet einen Einblick in die Art von Inhalten, die neuen Nutzer:innen präsentiert werden.
Die automatisierten Accounts blättern dabei täglich eine Stunde durch die vorgeschlagenen Videos, ohne sich dabei mit anderen Nutzer:innen auszutauschen. Die Accounts hinterließen weder Kommentare, noch folgten sie anderen Accounts oder veröffentlichten sie eigene Inhalte. Die Accounts sollten also möglichst keinen Einfluss auf das TikTok-Ökosystem ausüben und ausschließlich als passive Beobachter auftreten.
Um ein möglichst realistisches Nutzungsverhalten abzubilden, wurden die Accounts zudem mit unterschiedlichen Interessenprofilen ausgestattet. Diese Profile bestimmen, welche der vorgeschlagenen Videos angeschaut werden und bei welchen nach wenigen Sekunden weitergeblättert wird. Hier wurden zwei Gruppen gebildet:
1. Gruppe mit allgemeinen Interessen (drei Accounts):
- Diese Gruppe konzentriert sich ausschließlich auf Videos mit generischen, neutralen Themen und schaut diese in voller Länge.
- Die Interessengebiete umfassen Hashtags wie #lustig, #reisen, #kochen, #ideen, #freunde.
- Videos, die diesen Interessen entsprechen, werden nach dem Anschauen mit einem „Like“ versehen, um Interesse zu simulieren.
2. Gruppe mit latentem politischem Interesse (vier Accounts):
- Diese Gruppe teilt die Grundinteressen der ersten Gruppe, zeigt aber zusätzlich Interesse an den Hashtags #landtagswahl2024 und #wahlen2024.
- Im Gegensatz zu den allgemeinen Interessen werden Videos mit politischem Bezug nicht geliked, um ein passives, aber interessiertes Verhalten zu simulieren.
Die Realitätsnähe wurde weiter erhöht, indem beide Gruppen so konfiguriert wurden, dass sie täglich eine Suche nach einem zufälligen Begriff aus ihrem jeweiligen Interessenprofil durchführen. Die ersten 10 bis 15 Suchergebnisse werden dann automatisch angeschaut, was ein natürliches Suchverhalten auf der Plattform nachahmen soll.
Datenerfassung und Analyse
Im Untersuchungszeitraum wurden in den drei Bundesländern insgesamt 75.000 Videos gesammelt, davon etwa 15.000 in Sachsen. Die Datenerfassung umfasste alle Videos, die den simulierten Accounts von der Plattform ausgespielt wurden, einschließlich ihrer Metadaten. Zu diesen Metadaten gehören unter anderem der Zeitpunkt der Erstellung des Videos, der Verifizierungsstatus der Ersteller:in und Informationen darüber, ob das Video Werbung enthält.
Die laufende Auswertung des umfangreichen Datenkorpus konzentriert sich auf zwei Hauptaspekte:
1. Die Sichtbarkeit parteispezifischer Schlagworte und Hashtags:
- Hierbei wird analysiert, wie häufig bestimmte Schlüsselbegriffe oder Hashtags, die mit spezifischen politischen Parteien assoziiert sind, in den gesammelten Videos auftauchen.
- Diese Analyse ermöglicht Rückschlüsse auf die relative Präsenz verschiedener politischer Akteure auf der Plattform.
2. Die Häufigkeit offizieller Partei-Accounts:
- Untersucht wird, wie oft offizielle Accounts von Parteien, Kandidat:innen, Parteivorständen und Jugendorganisationen in den Feeds der simulierten Nutzer:innen erscheinen.
- Zusätzlich wird analysiert, wie aktiv diese offiziellen Accounts auf TikTok sind.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Analyse der Hashtag-Häufigkeit mit Parteibezug nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf ein positives oder negatives Framing der Inhalte in Bezug auf die jeweilige Partei zulässt. Die Studie basiert auf der Annahme, dass Videobeschreibungen und Hashtags in einem relevanten Zusammenhang mit den tatsächlichen Videoinhalten stehen, wobei Ausnahmen möglich sind. Ein Video, das mehrere parteibezogene Hashtags (z.B. #AfD und #dielinke) aufweist, wird für alle genannten Parteien als Sichtbarkeit gezählt. Eine vertiefte quantitative Analyse der politischen Inhalte steht bisher noch aus.
Ebenso ist anzumerken, dass die hier präsentierten Ergebnisse auf einem Teilsatz der Gesamtdaten basieren. Im Verlauf der Studie wurde beobachtet, dass einige der simulierten Accounts unbeabsichtigt mit politischen Inhalten interagierten, was möglicherweise die Zusammensetzung ihrer nachfolgenden Feeds beeinflusst hat. Um die Integrität der Analyse zu wahren, konzentriert sich diese Auswertung auf den Zeitraum vor diesen Interaktionen. Dieser Ansatz gewährleistet die Vergleichbarkeit der Daten, reduziert jedoch den Umfang der analysierten Stichprobe. Auswirkungen dieser Interaktionen auf die Content-Empfehlungen sind Gegenstand weiterer Untersuchungen.
Ergebnisse für Sachsen
Die ersten Erkenntnisse der Studie zeigen eine bemerkenswerte Dominanz der AfD hinsichtlich ihrer Sichtbarkeit auf TikTok (Abb. 7). Diese Dominanz manifestiert sich in mehrfacher Hinsicht: Im Durchschnitt werden in Sachsen etwas mehr als 7 Videos pro Woche mit AfD-Bezug in den Feeds der beobachteten Accounts ausgespielt. Im Vergleich dazu erreichen die Videos der anderen Parteien jeweils nur etwa einmal pro Woche die Feeds der TikTok-Nutzer:innen.
Dies ist vor allem auch darum bemerkenswert, weil sich die Parteien in der Menge der Videos, die sie bei TikTok einstellen, nur wenig unterscheiden (Abb. 8). Die SPD verbreitete sogar mehr Videos als die AfD. Allerdings zeigen sich Unterschiede in der TikTok-Präsenz der Spitzenkandidat:innen. Betrachtet man die ersten zehn Listenplätze der Parteien, so ist die SPD am stärksten auf der Plattform vertreten: Sechs ihrer zehn Spitzenkandidat:innen für Sachsen sind auf TikTok aktiv. Gefolgt von der AfD mit fünf aktiven Kandidat:innen (ohne Abb.).
Die vorläufigen Ergebnisse offenbaren zudem große Unterschiede in der Exposition hinsichtlich politischer Inhalte zwischen Accounts, die gegenüber der Plattform politisches Interesse artikulieren, und solchen, die das nicht tun (Abb. 9): Accounts mit latentem politischem Interesse erhalten in Sachsen etwa doppelt so viele politische Inhalte in ihren „ForYou“-Feeds angezeigt als Accounts ohne artikuliertes politisches Interesse. Die Analyse der Sichtbarkeit einzelner Parteien zeigt zudem weitere deutliche Unterschiede zwischen politisch latent interessierten und uninteressierten Accounts. Die AfD und SPD verzeichnen eine deutlich höhere Sichtbarkeit bei politisch uninteressierten Nutzer:innen. Im Gegensatz dazu erfahren BSW, Grüne und CDU einen erheblichen Zuwachs an Sichtbarkeit bei politisch interessierten Accounts. Auffällig ist zudem, dass die Feeds der interessierten Nutzer:innen eine vielfältigere politische Landschaft abbilden, während bei uninteressierten Accounts eine stärkere Konzentration auf wenige Parteien, insbesondere die AfD zu beobachten ist. Es ist anzumerken, dass diese Ergebnisse aufgrund der begrenzten Stichprobengröße als indikativ zu werten sind. Weitere Erkenntnisse sind im Rahmen der fortlaufenden Auswertung zu erwarten.
Schlussfolgerungen
Die vorläufigen Ergebnisse der Studie werfen bedeutende Fragen zur Rolle dieser Plattform für die politische Meinungsbildung junger Wähler:innen auf. Die beobachtete Dominanz bestimmter Parteien auf TikTok stellt traditionelle Formen der politischen Kommunikation vor erhebliche Herausforderungen. Etablierte politische Akteure müssen ihre Kommunikationsstrategien grundlegend überdenken, um junge Wähler:innen effektiv zu erreichen, ohne dabei die Integrität und Substanz ihrer politischen Botschaften zu kompromittieren.
Dieser Befund unterstreicht den Einfluss algorithmischer Systeme bei der Gestaltung individueller Informationslandschaften. Trotz vergleichbarer Posting-Aktivität aller Parteien dominieren AfD-bezogene Inhalte deutlich die Feeds der beobachteten Accounts. Bemerkenswert ist, dass die AfD eine überproportionale Sichtbarkeit genießt, die weit über ihre tatsächliche Posting-Häufigkeit hinausgeht. Diese Überrepräsentation ist konsistent über verschiedene Account-Typen hinweg zu beobachten, unabhängig vom artikulierten politischen Interesse. Dies deutet auf eine systematische Begünstigung bestimmter Inhalte durch den TikTok-Algorithmus hin. Diese Beobachtungen legen nahe, dass die Plattformmechanismen nicht nur die Verbreitung politischer Inhalte steuern, sondern möglicherweise auch zu einer Verstärkung politischer Polarisierung beitragen. Die Ergebnisse verdeutlichen zudem, wie das artikulierte Interesse der Nutzer:innen die Art der politischen Inhalte beeinflusst, denen sie ausgesetzt sind.
Diese Ergebnisse unterstreichen die Verantwortung von TikTok und anderen Social-Media-Plattformen, ihre Algorithmen kritisch zu überprüfen und anzupassen, um eine ausgewogenere Darstellung politischer Inhalte zu gewährleisten. Weitere Details zur Studie und Veröffentlichungen sind auf der Website des Potsdam Social Media Monitor unter psmm.info zu finden.
Den Digital Report 2024-03 Die extreme Rechte während des sächsischen Landtagswahlkampfes 2024 gibt es hier zum Downlad.