„Down the rabbit hole“ heißt eine neue Handreichung von No World Order, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und gibt Einblicke in Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und Möglichkeiten der Intervention. Der folgene Text ist ein Auszug aus der Broschüre: Wie Verschwörungserzählungen das Leben in einer modernen, extrem komplexen Welt einfacher machen.
Antisemitismus aus historischer Perspektive
Verschwörungserzählungen über Jüdinnen und Juden werden in Europa spätestens seit dem Spätmittelalter innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft verbreitet. Judentum und Christentum sind historisch eng miteinander verwoben. Das Christentum entstand im Nahen Osten als Abspaltung vom Judentum. Beide Religionen haben also gemeinsame Wurzeln. Zudem bildeten Jüdinnen und Juden eine deutlich wahrnehmbare Minderheit innerhalb der christlichen Gesellschaften. Ihnen wurde vorgeworfen, die Mehrheitsgesellschaft durch geheime Rituale oder konkrete kriminelle Handlungen schädigen und schließlich vernichten zu wollen. Im Laufe der Jahrhunderte formten sich die einzelnen Anschuldigungen zum Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“. Die Motivation für diese vermeintliche Verschwörung wurde religiös begründet: Jüdinnen:Juden wären Agenten des Antichristen und ihre Handlungen somit letztlich durch das Böse selbst motiviert. Der Vorwurf richtete sich gegen Jüdinnen und Juden als religiöse Minderheit. Die Folgen waren bereits zu dieser Zeit Diskriminierung und Gewalt – bis hin zum Pogrom.
Im Zuge der großen gesellschaftlichen Veränderungen des 18. und 19. Jahrhunderts wandelte sich auch der Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden. Den entstehenden Verschwörungsideologien, die Illuminaten, Freimaurer und Sozialist:innen als Verschwörer:innen benannten, wurden im 19. Jahrhundert Jüdinnen:Juden beigeordnet. Bereits zuvor entwickelte sich auch eine neue Form der Judenfeindschaft. Unterstellt wurde hierbei, dass Jüdinnen und Juden nicht einer anderen Religion angehörten, sondern einer anderen „Rasse“. Konversion und Assimilation wurden auf diese Weise ausgeschlossen. Zusätzlich wurden Jüdinnen und Juden mit den als negativ (wahrgenommenen) Seiten der Moderne identifiziert: Sie standen und stehen stellvertretend für Liberalismus, Kapitalismus, Kommunismus, Demo–kratie und Universalismus. Im Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“ wurden und werden diese, zum Teil widersprüchlichen, Positionen vereint – im modernen Antisemitismus sind Jüdinnen und Juden die Personifizierung geheimer Macht, der alles Negative und Böse der Welt zugeschrieben wird.
„Die Juden“ als „das Böse“ in der Welt
Neben diesem historischen Zusammenhang von Verschwörungsideologien und Antisemitismus bestehen Gemeinsamkeiten auf funktionaler und struktureller Ebene. Verschwörungsideolog:innen glauben, auf der Suche nach der Wahrheit zu sein. Tatsächlich sind sie vor allem darum bemüht, sich die Welt auf eine Weise zu erklären, die für sie entlastend ist. Aus verschwörungsideologischer Sicht sind jene Erklärungsmodelle entlastend, die komplexe, widersprüchliche oder uneindeutige gesellschaftliche und/oder geschichtliche Ereignisse in dualistische Schemata unterteilen: gut/böse, richtig/falsch, Freund/Feind etc. Widersprüche, Zwischentöne und Uneindeutigkeiten haben in diesem Weltbild keinen Platz. In solchen Fäl–len liefern Verschwörungsideologien keine differenzierte wissenschaftliche Erklärung, sondern die Vergewisserung, auf der Seite des „Guten“ zu stehen und das „Böse“ identifiziert zu haben. Denn die meisten Verschwörungsideologien, die das sogenannte große Ganze zu erklären vorgeben, fragen irgendwann nach dem Wer – oder auch: Cui Bono? Übersetzt bedeutet das: Wer profitiert? Die verschwörungsideologische vermeintliche Suche nach „der Wahrheit“ ist letztlich immer eine Suche nach Projektionsflächen für negative Begleiterscheinungen moderner Gesellschaften. Diejenigen, die zur Projektionsfläche gemacht werden, gelten den Verschwörungsideolog:innen als universell Schuldige an allem Schlechten in der Welt. Dieser Logik fol–gend müssen sie also das Böse an sich verkörpern. „Die Juden“ sind in der Logik der Antisemit:innen nicht nur verantwortlich für die Entstehung der Moderne, sondern steuern auch alle Prozesse, die in der modernen Welt ablaufen, in ihrem Sinne. Aus antisemitischer Sicht heißt das immer, gegen die „Völker“ der Welt gerichtet, am meisten gegen das eigene – in diesem Fall, das deutsche.
Die Vorstellung, Teil einer homogenen Schicksalsgemeinschaft zu sein, ist zentral mit einer antisemitischen Weltsicht verbunden. Die Vorstellung von identitären Kollektiven beinhaltet die Unterstellung, dass Menschen pauschal unveränderliche Eigenschaften aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu haben. Dies ist beispielsweise in völkischen oder islamistischen Gemeinschaftsentwürfen der Fall. Hier drückt sich der Wunsch aus, vollkommen in einer Gemeinschaft aufgehen zu können, in der man einen festen, eindeutigen Platz hat und die komplett frei von Widersprüchen ist. Das heißt implizit auch, dass niemand widersprechen darf. Einzelinteressen, Minderheiten, Querulant:innen dürfen nicht auftauchen. Tun sie es doch, müssen sie bekämpft werden. Die antisemitische Verschwörungsideologie ermöglicht es diesen Gemeinschaftsvorstellungen, sich gemeinsam gegen das Böse zu verbünden und aufzuwerten. Dabei handelt es sich um eine ebenso zerbrechliche wie autoritäre Verbundenheit, denn sie basiert einerseits auf dem Mythos der absoluten kulturellen Gleichartigkeit der Mitglieder und andererseits auf der Abgrenzung nach außen. „Die Juden“ stehen, als die Personifizierung moderner Gesellschaft, je nach Kontext für all das, wovon sich die „(Volks-)Gemeinschaft“ angegriffen fühlt. Dabei wirken sie jedoch nicht nur von außen, sondern werden von den Antisemit:innen als „innere Zersetzer“ des „Volkes“ identifiziert, die vermeintlich im Geheimen oder durch Mittelsmänner ihre Ziele vorantreiben.
Sekundärer/Post-Holocaust-Antisemitismus oder „Antisemitismus ohne Juden“
Die derzeit kursierenden Verschwörungsideologien geben dem Bösen ver–schiedene Namen. Die Rede ist beispielsweise vom „Finanzkapital“, der „mächtigen Elite“, „den Rothschilds“, den „Bankern von der Ostküste“ oder dem „Zionismus“. Diese Bezeichnungen und Namen werden in verschwörungsideologischen Milieus als Chiffren genutzt, um antisemitische Ressenti–ment auszudrücken. Antisemitismus ist tief in moderne und sich modernisierende Gesellschaften eingeschrieben, auch wenn er, je nach politischer Lage und historischer Situation, mal offen gewalttätig, mal verdeckt und eher strukturell auftritt. Nach der Shoah, dem industriellen Massenmord an Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus, wurden die „Grenzen des Sagbaren“ deutlich markiert. So steht beispielsweise die Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust in Deutschland unter Strafe. Zusätzlich zu juristischen Konsequenzen konnte außerdem mit sozialen bzw. gesellschaftlichen Sanktionen gerechnet werden. Das heißt, Judenhass offen zu äußern, war in der demokratischen Bundesrepublik sozial nicht mehr erwünscht und passte dementsprechend auch nicht in das Selbstbild demokratischer Bürger:innen. Abgesehen von bekennenden Rechtsextremen und Islamist:innen äußern sich daher die wenigsten Menschen im postnazistischen Deutschland offen antisemitisch.
Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, dass der Antisemitismus selbst aus Deutschland verschwunden oder zu einem Randphänomen geworden sei. Vielmehr bedient sich der Antisemitismus nach Auschwitz (sekundärer oder Post-Holocaust-Antisemitismus genannt) verschiedener Codes und Chiff ren, die antisemitisch aufgeladen sind, ohne direkt von Jüdinnen und Juden zu sprechen. So werden Formulierungen, die antisemitische Ressentiments enthalten, häufig verharmlost, indem statt Jüdinnen und Juden der Staat Israel adressiert wird. Die sogenannte „Israelkritik“ verwendet Kom–munikationsformen, die gesellschaftlich akzeptiert und zunächst nicht als Antisemitismus wahrgenommen werden. Sie gibt vor, ausschließlich den Staat und dessen Regierung zu kritisieren, doch bereits der Begriff stellt eine Besonderheit dar, da er kaum in vergleichbarer Weise genutzt wird, um andere Staaten zu kritisieren – beispielsweise als „Russlandkritik“ oder „Türkeikritik“. Der 3D-Test für Antisemitismus (Wird Israel dämonisiert, delegitimiert oder mit doppelten Standards betrachtet?) kann eine hilfreiche Methode sein, um legitime Kritik von Antisemitismus, der mit versteckten Chiffren kommuniziert wird, zu unterscheiden. Eine solche Umwegkommunikation erfolgt nicht immer bewusst. Das heißt, nicht jede Person, die von der mächtigen Elite spricht, denkt dabei an Jüdinnen und Juden. Ent–scheidend ist jedoch, dass, ob bewusst oder ungewollt, sie damit auf ein jahr–hundertealtes antisemitisches Ressentiment zurückgreift. Dieses Ressentiment kann, unabhängig von der Ausgangsintention, in antijüdischen Hass münden. Die dahinter stehenden Narrative entstehen und vergehen nicht kontextlos, sondern sind historisch gewachsen, denn sie sind Teil gesellschaftlicher Diskurse. In einer Gesellschaft, in deren Unbewusstem antisemitische Stereotype über Generationen tradiert wurden, sind diese in der entsprechenden Situation auch leicht abrufbar.
Täter-Opfer-Umkehr – Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz
Niemand kann sich in Deutschland antisemitisch äußern, ohne dabei Auschwitz, also die millionenfache Ermordung von Jüdinnen:Juden mitzu–denken. Bekennende Rechtsextreme oder Islamist:innen beziehen sich dementsprechend entweder positiv auf den Nationalsozialismus und die damit verbundene Vernichtungspolitik, oder sie relativieren oder leugnen den Holocaust.
Doch auch außerhalb rechtsextremer oder islamistischer Milieus beschweren sich deutsche Bürger:innen über die Last, die sie an der deutschen Geschichte zu tragen haben. So wird der Wunsch geäußert, einen „Schlussstrich“ unter die deutsche Geschichte zu ziehen und endlich den unbelasteten Nationalstolz anderer Länder teilen zu dürfen. Popkulturelle Veranstal–tungen wie die WM 2006 haben entscheidend zu dem Eindruck beigetragen, dieses sich als „unverkrampft“ ausgebende Nationalgefühl endlich ausleben zu dürfen. Hier gilt abermals, dass deutscher Nationalstolz den Nationalsozialismus mitdenken muss. Neben verharmlosenden und herunterspielenden Haltungen treten seit den 1990ern vor allem Positionen in den Vordergrund, die Deutschland als „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ und somit letztlich zum moralischen Sieger der Geschichte erklären. Was dieser Haltung widerspricht, wird abgewehrt. Dazu gehören leider immer wieder Forderungen nach Aufklärung und Verfolgung von Straftaten bzw. Straftäter:innen des Nationalsozialismus und entsprechen–den Reparationszahlungen, die entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder argwöhnisch betrachtet werden. Insbesondere Jüdinnen:Juden wird in diesem Zusammenhang häufig unterstellt, Profit aus der Geschichte schlagen zu wollen. Dies wird nicht nur in Bezug auf Entschädigungsforderungen, sondern auch auf die israelische Außenpolitik behauptet. Der Soziologe und Antisemitismusexperte Thomas Haury bringt diese Umkehr von Täter:innen und Opfern folgendermaßen auf den Punkt: „Um ‚das deutsche Volk‘ von Auschwitz zu entlasten, genügt es nicht, dieses als Opfer hinzustellen, vielmehr und vor allem müssen die Juden als schuldige Täter erwiesen werden – die alte Strategie der Verkehrung von Täter und Opfer wird zur zentralen Strategie des sekundären Antisemitismus in Deutschland.“
Verschwörungsideologien und Vernichtungsfantasien
Das Gefährliche an verschwörungsideologischen Weltbildern ist, dass sie häufig zunächst unbedarft geglaubt und verbreitet werden, sich aber schnell zu einer Ideologie verdichten, die darauf drängt, Schuldige zu benennen. Große Verschwörungsideologien bestehen aus verschiedenen Erzählsträngen. Diese Einzelerzählungen bedienen häufig zusätzlich andere Ressentiments, wie bspw. Rassismus. Auch die verschwörungsideologisch aufgeladenen rassistischen Stereotype führen schnell zu Gewalthandlungen. Der entscheidende Unterschied zwischen rassistischen und antisemitischen Verschwörungserzählungen ist jedoch, dass bei rassistischen Motiven von der grundsätzlichen Unterlegenheit der rassistisch Markierten ausgegangen wird. Der Hass auf diejenigen, die von diesem Ressentiment betroffen sind, wird dadurch nicht geschmälert. Auch der Wille zu vertreiben, verletzen, erniedrigen oder sogar zu töten ist Teil dieser Struktur. Antisemit:innen fantasieren sich in ihrer Ideologie jedoch einen übermächtigen Gegner, der fast unerkannt innerhalb des „Volkes“ lebt und dessen einziges Ziel die Unterdrückung und schließlich Vernichtung dieses „Volkes“ darstellt. Die daraus resultierende „Notwehr“-Situation, die hier zurechtgelegt wird, ist folglich existenziell: Es geht um Leben und Tod – und zwar nicht im Einzelnen, sondern im globalen Sinn.
Antisemit:innen vertreten ein manichäisches Weltbild. Das heißt, sie glauben an eine zweigeteilte Welt, in der sich „das Gute“ und „das Böse“ in einem stetigen Wettstreit befinden, der wiederum auf einen finalen Kampf zuläuft. „Den Juden“ wird in diesem Manichäismus die Rolle des absolut Bösen zugedacht. Antisemitische Vernichtungsfantasien sind in diesem Zusammenhang als Erlösungsgedanken von diesem imaginierten Bösen zu verstehen. Das Zusammenwirken von personifizierten Ängsten und Widersprüchen, gepaart mit einem manichäischen Weltbild, zeichnet also eine „Notwehr“-Situation, die auch extreme Gewalthandlungen bis hin zur Vernichtung von Menschen rechtfertigt oder sogar einfordert. Je verdichteter, also in sich geschlossener ein antisemitisches Weltbild ist, desto stärker rückt die Notwendigkeit zur Vernichtung des übermächtigen Gegners in den Vordergrund.
Die neue Broschüre Down the rabbit hole — Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien können Sie hier herunterladen oder bestellen.