CN: Der Artikel thematisiert psychische Krankheiten, selbstverletzendes Verhalten und Suizid.
Selbsthass und Misogynie
Die Incel-Community ist ein Todeskult: Die Begeisterung über Femizide, die als „Lifefuel“, also „Lebenselixier“ gelabelt werden, und die Glorifizierung von Incel-Attentätern sind die wohl deutlichsten Beispiele. Omnipräsent ist aber auch das Sprechen über Depressionen und Suizidalität. Ein populärer Incel-Slogan lautet „Rope or Cope“ und beschreibt den Glauben, dass die Alternative zu – in der Szene als Selbstbetrug verlachten – Coping-Strategien für das eigene vermeintliche Elend zu finden der Selbstmord sei. Incel-Foren bieten die Möglichkeit, Threads als „SuicideFuel“ oder „RopeFuel“ zu klassifizieren: Inhalte, die in dem Verfasser und den Lesern den Wunsch nach Selbstmord auslösen. User schreiben regelmäßig über ihren Selbsthass, ihren Fatalismus, ihre Depressionen. Innerhalb der Szene getätigte Umfragen liefern erschütternde Einblicke in die desolate Psyche der User von Incel-Foren.
Die Incel-Szene behauptet von sich selbst, eine „Selbsthilfegruppe“ zu sein. Dies war zwar der Anspruch der Bewegung zu ihrem Beginn in den Neunziger Jahren, inzwischen ist von diesem hehren Anspruch jedoch nichts mehr übriggeblieben. Nur wenige Minuten in den Foren zeigen auf, wie toxisch die Community ihren eigenen Mitgliedern gegenüber ist. Die innerhalb der Incel-Szene verbreitete „Blackpill“-Community zeichnet sich durch einen extremen Nihilismus und absolute Hoffnungslosigkeit aus. Sie suggeriert ihren Anhängern, dass ein glückliches Leben für einen unattraktiven Mann ohnehin nie vorgesehen sei: Aus einer patriarchalen Anspruchshaltung heraus machen Incels die Erfahrung von Glück durch den Zugang zu Sex und weiblichen Körpern abhängig, und reagieren mit Misogynie, Wut und Frustration, wenn sie diese nicht erhalten. Die Blackpill-Ideologie behauptet gleichermaßen, dass Frauen aufgrund der ihnen inhärenten Verkommenheit einem Mann gegenüber, der nicht wie der Schauspieler Chris Evans aussieht, nur Verachtung entgegenbringen können: Jede noch so unschuldige Interaktion mit einer Frau wird durch die projektive Brille der Blackpill als Angriff gegen den Incel betrachtet. So legitimieren sie ihren bis ins eliminatorische reichenden Frauenhass: „Eine Frau schläft nicht mit mir, und ist deswegen schuld daran, dass es mir schlecht geht!“
Sämtliche Glücks- und Erfolgserfahrungen werden von individueller Attraktivität abhängig gemacht: Wer konventionellen Schönheitsstandards entspricht, dem ist ein gutes Leben garantiert. Unattraktive Menschen hingegen sind auf allen gesellschaftlichen Ebenen zum Scheitern verurteilt – außer, sie verfügen über die nötige Finanzkraft, um das auszugleichen. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass Menschen, die hegemonialen Vorstellungen von Attraktivität entsprechen, durchaus Vorteile daraus ziehen, und dass Schönheitsideale (gerade jungen Frauen gegenüber) große Wirkmächtigkeit haben. Für Incels, die Frauen unterstellen, sich ohnehin um nichts anderes als die Kantigkeit des Kiefers, die Breite des Bizeps oder die Größe des Gemächts zu scheren, scheinen alle anderen Persönlichkeitsaspekte jedoch irrelevant. Deswegen wird auch jeder noch so kleine optische Makel von Incels akribisch unter die Lupe genommen und zum Grund für eine lebenslange Sexlosigkeit deklariert. Ein positives Selbstbild entwickeln? Fehlanzeige. Die Video-Essayistin Natalie Wynn beschreibt den Aufenthalt auf Seiten, die ausschließlich darauf ausgerichtet sind, das Selbstbild der User:innen zu zerstören, als „digitale Selbstverletzung“. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Großteil der User von Incel-Foren in Umfragen angibt, depressiv zu sein oder suizidale Gedanken zu haben.
Ein Suizid-Forum und seine Opfer
Zwei User des größten Incel-Forums incels.is, „Marquis“ und „SergeantIncel“ (oder „Serge“) haben den Todeskult aus ihrem Forum in andere Teile des Internets getragen: Sie operierten ein Suizid-Forum, das User:innen bei der Planung und Durchführung einer Selbsttötung unterstützte. Recherchen von Buzzfeed und der New York Times zufolge haben sich weltweit mindestens 45 Nutzer:innen des Forums das Leben genommen, mit Unterstützung ihrer Community. Mehr als 500 Mitglieder tauschten sich auf der Seite aus, wann und wie sie ihren Selbstmord geplant hatten, gaben sich gegenseitig Tipps zur Durchführung, einige veröffentlichten sogar Livestreams ihrer Suizide. Ein Forum, das suizidgefährdeten Menschen in ihrem Wunsch bestärkt, anstatt ihnen Hilfe aus der vermeintlichen Auswegslosigkeit anzubieten, trägt Mitschuld an deren Ableben. Der Großteil der Nutzer:innen ist unter 30.
Einer von ihnen war Matthew Luft: er war 17 Jahre alt und hatte gerade die High School beendet, sein Plan war es, Jura zu studieren und Pflichtverteidiger zu werden. 29 Tage, nachdem er sich auf der Seite angemeldet hatte, war er tot: durch das Forum hatte er Tipps erhalten, welche Substanz für einen Suizid geeignet war, und diese befolgt. Seine Mutter artikulierte ihre Trauer auf Twitter und benannte das Forum als schuldige Instanz in dem Selbstmord. „Bitte helft mir“, wandte sie sich über die Plattform an andere, deren Angehörige aufgrund der Seite verstorben waren. Kurz danach wurde der Zugriff auf das Forum in Italien, Österreich und Deutschland unterbunden; nicht jedoch in den USA. Ein weiterer wichtiger Schritt im Kampf gegen die Selbstmord-Seite stellte der Buzzfeed-Artikel von 2019 dar, der zum ersten Mal auf das Phänomen aufmerksam machte. Der im Dezember 2021 in der New York Times publizierte Text veröffentlichte die Klarnamen von und Hintergrundinformationen zu Serge und Marquis und riss die beiden Incels so aus der bequemen Anonymität, aus der sie über Jahre hinweg ihren vernichtenden Frauenhass verbreiten oder psychisch Kranke zum Suizid anstiften konnten. Marquis lebt in Alabama, Serge in Montevideo, Uruguay. Trotz der tausend Kilometer Entfernung arbeiteten sie über Jahre hinweg daran, ihre Foren aufrechtzuerhalten.
Seit dem Outing von zwei Männern, die 1) wichtige Rollen auf einem Forum innehatten, dessen User sich regelmäßig mit misogynen Straftaten brüsten und die 2) eine Plattform eröffnet haben, die mindestens 45 Menschen zur Selbsttötung gebracht hat, ist die Incel-Szene, gelinde gesagt, in Aufruhr. Serge und Marquis haben inzwischen ihre Profile und sämtliche ihrer Postings auf incels.is gelöscht; aus der berechtigten Sorge, dass nun, da Name und Wohnort bekannt sind, juristisch gegen sie vorgegangen werden kann. Ein weiterer Moderator hat ebenfalls seine Position gekündigt:
Obwohl inzwischen die Moderatorenrollen neu gefüllt worden sind, fragen sich zahlreiche User, wie lange ihre virtuelle Echokammer noch Bestand hat. Die Sorge ist nicht unberechtigt: das Incel-Forum lookism.net wurde Anfang Dezember gelöscht. Innerhalb der Szene wird vermutet, dass es daran liegen könnte, dass User den 15 Jahre alten Attentäter des School Shootings in Oxford, Michigan, der vier Menschen ermordete und sieben weitere verletzte, zum nächsten Incel-Helden deklariert hatten. Erschwerend kommt hinzu, dass am 15. Dezember 2021 ein Incel in Ontario wegen versuchten Mordes an einer Frau und ihrem Baby zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Er hatte sich darüber ausgelassen, dass er „weiße Frauen“ hasse, vor allem, wenn diese Beziehungen mit nichtweißen Männern führen würden, anstatt mit ihm. Er wolle eine weiße Frau und vor allem deren Baby ermorden, um einen möglichst großen „Schock“ zu erzielen; er wartete vor einem Supermarkt auf ein potenzielles Opfer und stach mehrmals mit einem Messer auf die Frau und das Kind ein. Glücklicherweise konnten Passant:innen das schlimmste verhindern. Innerhalb der Incel-Szene ist die Verbindung von Rassismus und Misogynie virulent. Elliot Rodger schrieb in seinem Manifest regelmäßig darüber, dass er eine „heiße, blonde Freundin“ „verdient“ hätte und artikulierte seinen Hass darüber, dass weiße Frauen mit Schwarzen oder lateinamerikanischen Männern Beziehungen führten anstatt mit ihm. Weißen Frauen wird angekreidet, sie seien dem Feminismus verfallen und würden sich nur für ihre sexuelle Befriedigung interessieren – am liebsten mit rassistisch als hyperpotent gelabelten Schwarzen Männern – anstatt Sex mit weißen Incels zu haben. Sowohl asiatische, als auch Schwarze Frauen, werden anhand kolonialrassistischer Stereotypen sexualisiert.
Die Notwendigkeit von Deplatforming
Anstatt das Deplatforming von Räumen, die der eigenen Psyche langfristigen Schaden zufügen als Chance zu begreifen, dem Incel-Kult zu entkommen, fürchten die User um das Fortbestehen ihrer Online-Sekte. Dies liegt daran, dass sich User, obwohl sie sich oftmals sogar dessen bewusst sind, dass das Schlucken der Blackpill ihnen nicht guttut, ihrer Szene und Ideologie trotzdem emotional verhaftet sind. Fast wie in einer missbräuchlichen Beziehung oder eben einem Kult sind die User von der Außenwelt isoliert, haben eine komplett verzerrte Weltsicht angenommen, sehen keinen Ausweg aus ihrer momentanen Situation und haben diese deswegen als Idealzustand verklärt internalisiert. User überlegen also, auf welche Orte sie ausweichen können: kleinere Foren? Incel-Imageboards? 4chan? Kohlchan? Wizchan? Da auch die Incel-Szene mit zahlreichen internen Streits und Spaltungen aufwarten kann – User eines anderen Forums unterstellen Serge, Informant des FBI zu sein! – gestaltet sich die Suche nach einem neuen Hafen schwierig. Deswegen überlegt der eine oder andere User, seinen Hass in den analogen Raum zu verlagern:
Sowohl das Incel-Forum, als auch das Suizid-Forum sind noch online, wenn auch letzteres unter einem anderen Namen. Und je länger dies der Fall ist, desto mehr Schaden richtet die Existenz dieser Plattformen an. Glücklicherweise gibt es Hilfsangebote: auf dem Subreddit „IncelExit“ suchen Incels, die den Ausstieg aus ihrer Szene suchen, nach Hilfe, und haben eine große und solidarische Community gefunden. Zudem erschien 2021 im Routledge Verlag das Buch „Understanding and Treating Incels“ der Psychologen Brian Van Brunt und Chris Taylor, das Therapeut:innen Werkzeuge in die Hand gibt, Jungen und Männern aus der Szene zu helfen, oder zu verhindern, dass sie diese überhaupt betreten. Denn: es sollte nicht die Aufgabe einer Therapeutin sein, den nächsten Elliot Rodger zu verhindern. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Mission, und diese muss damit beginnen, Sexismus, die Abwertung des Nichtmännlichen und patriarchales Anspruchsdenken zu überwinden.
Hinweis
Brauchen Sie Hilfe? Bitte sprechen Sie noch heute mit einer Beratungsstelle, die mit Ihnen überlegen kann, wie es weitergeht. Niemand muss mit Sorgen und Gedanken allein bleiben.
Telefonseelsorge:
Unter den Rufnummern 0800-1110111 und 0800-1110222 bekommen Erkrankte und Angehörige Soforthilfe. Die Hotline ist täglich 24 Stunden erreichbar, anonym und kostenlos. Die TelefonSeelsorge (telefonseelsorge.de) bietet auch Mail-, Chat- und Vor-Ort-Beratungen an.
Es gibts auch ein muslimisches Seelsorgetelefon, das rund um die Uhr unter 030-443509821 erreichbar ist.
Auf der Website der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind Kliniken und Anlaufstellen mit Schwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie per Schnellsuche zu finden. Wer Hilfe sucht, kann so Einrichtungen in der nächsten Umgebung finden, auch Krisendienste und Beratungsstellen sind dort aufgelistet.
Die Website www.schon-mal-an-selbsthilfegruppen-gedacht.de ist speziell an junge Leute gerichtet.
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