Ein Kommentar aus wissenschaftlicher Perspektive von Daniel Köhler, Forschungsdirektor Institute for the Study of Radical Movements (ISRM)
Am 5. März diesen Jahres verliehen mehrere führende Polizisten und Verfassungsschützer des Landes Nordrhein-Westfalen ihrer Sorge Ausdruck, der Staat könnte die Kontrolle über die Gefahrenabwehr im Bereich des politischen Extremismus verlieren. Aufgrund „unberechenbarer Kleingruppen“ und zunehmend radikalisierter „Einzeltäter“ aus sowohl dem islamistischen als auch dem rechtsextremen Milieu, welche „neue Aktionsformen“ ohne aufwändige Planung diskutieren würden, sei der Sicherheitsapparat praktisch ausgehebelt. Zudem warnten die interviewten Experten auch vor der immensen Wirkung des Internets bei der Rekrutierung für extremistische Gruppen. Die durch das Internet hoch beschleunigte Radikalisierung ließe den Verfassungsschutz mit seinen Aufklärungsmethoden weit hinter sich zurück. Teilweise „völlig abgedrehte“ Extremisten, welche dem Aktionismus zur Tat einen Selbstwert zuschreiben und daher auf Strategie und Planung verzichten, bereiten den Sicherheitsbehörden erhebliche Probleme. Da der Zufall die Radikalisierung in den Extremismus bestimme, müssten die Behörden auf die Unterstützung der gesamten Zivilgesellschaft zurückgreifen.
Internet und Radikalisierung
Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich zu diesen Schlussfolgerungen allerdings durchaus noch die eine oder andere Ergänzung machen. Fängt man mit der Rolle des Internets an, so muss man den Vertretern von Polizei und Verfassungsschutz beipflichten. Einschlägig belegt internationale Forschung seit vielen Jahren die Bedeutung des Internets (genauer: einzelner Funktionen des Internets) im Radikalisierungsprozess von Islamisten und Rechtsextremisten. Um nur eine der berühmtesten Studien zu diesem Thema zu nennen: Die nachrichtendienstliche Abteilung der New Yorker Polizei identifizierte das Internet als „Antreiber (Driver)“ und „Möglichmacher (Enabler)“ eines möglichen Radikalisierungsprozesses (Silber & Bhatt, 2007: 83). Jede Stufe des Prozesses sei vom Internet beeinflusst. In der „Selbstidentifikationsphase“ würde ungefilterte radikale Ideologie an den Rekruten vermittelt werden. Zusammen mit der Möglichkeit Gleichdenkende zu „treffen“, würde dies den Übergang in die „Indoktrinationsphase” ermöglichen. Darin adoptiert die Person die radikale Weltsicht, verstärkt durch den vermeintlichen „Schleier der Objektivität“ des Internets. In der dritten und letzten „Jihadisationsphase“ wird durch das Internet technisches Wissen zur Verfügung gestellt. Besonders der letzte Aspekt wurde von vielen Wissenschaftlern diskutiert, da auch ohne den Transfer technischen Wissens (z.B. Bombenbauanleitungen) eine „virtuelle Partnerschaft“ (Kohlmann, 2008) zustande kommen kann, welche in keiner Weise weniger „real“ als offline Kontakte wahrgenommen werden. Im Gegenteil ermöglicht das Internet die emotionale Bezug- und Kontaktaufnahme zu einer gefühlt weltweiten Bewegung. In einer bisher einzigartigen Studie konnte auch der Autor die Bedeutung des Internets für rechtsextremistische Radikalisierung aufzeigen (Köhler, 2012). Kurz gesagt schafft die mögliche durch das Internet enorm beschleunigte Radikalisierung von Einzelpersonen in der Tat ein Problem für die Sicherheitsbehörden. Doch an dieser Stelle seien noch ein paar Worte über „Radikalisierung“ angebracht.
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum unter „Radikalisierung“ eine besondere Gewaltbereitschaft und –ausübung zu verstehen. Die Eingrenzung auf besonders gewalttätig handelnde Menschen lässt außer Acht, dass hinter „Radikalität“ immer ein spezielles Handlungs- und Deutungskonzept steht. Denn „radikal“ (von lateinisch ‚radix’ – „Wurzel“) beinhaltet sowohl eine Fundamentalkritik (durch Tat und Gedanke) an einer bestehenden Ordnung und gleichzeitig eine konkrete Vorstellung der gewünschten Veränderung. „Radikal“ bedeutet also nichts anderes als hochgradig ideologisch reflektiert zu sein. Ideologie als Kern bedingt radikales Handeln. Je höher der Grad der ideologischen Internalisierung, desto größer ist der Anteil von alltäglichen Lebenszusammenhängen, die unter die Ägide ideologischer Maximen gestellt werden. Wer also handelt, weil es im Sinne einer Ideologie korrekt, gewünscht oder zielführend erscheint, der ist radikal.
„Einsame Wölfe“ und das große Ganze
Der zweite die Sicherheitsexperten besorgende Aspekt besteht in den „neuen Aktionsformen“ extremistischer Gruppen, basierend auf Kleinstgruppen oder hoch-radikalisierten Einzeltätern. Diese in der Forschung oftmals „Einsame Wölfe“ genannten Täter sind mit üblichen polizeilichen und verfassungsschutztechnischen Methoden nur selten aufspürbar. Doch so neu sind diese Aktionsformen in der Tat nicht. Hier kann sich der Rechtsextremismus mit Fug und Recht als Erfinder eines weltweiten taktisch-strategischen „Exportschlagers“ rühmen. Das Konzept des „führerlosen Widerstandes“ wurde 1983 vom amerikanischen Neonazi Lous Beam als Weiterentwicklung eines Konzeptes der US-Armee in den militanten Rechtsextremismus eingeführt. Über die NSDAP-AO gelangte das Konzept leicht und schnell nach Deutschland. Dort wurde es besonders von europäischen Blood & Honour Kreisen als richtungweisend gepriesen. Doch auch deutsche Rechtsextremisten taten sich nicht schwer, eigene strategische Konzepte zu entwickeln. Genannt sei hier zum Beispiel die „Bewegung in Waffen“, welche unter dem Pseudonym „Hans Westmar“ ebenfalls durch die NSDAP-AO ab 1989 vertrieben wurde. Beide Konzepte bauen auf dem „Phantomzellen“-Prinzip. Kleinstgruppen oder Einzeltäter, welche nur und ausschließlich durch die Ideologie verbunden Ziele, Methoden und Taktik selber wählen. Natürlich bedienten sich sowohl islamistische als auch linksextremistische Terroristen dieser Konzepte und entwickelten sie weiter. Ein Musterbeispiel für die Operationsweise solcher Gruppen ist in der Tat der „Nationalsozialistische Untergrund (NSU)“, welcher es schaffte, über 14 Jahre bei ungehinderter Aktivität unentdeckt zu bleiben. Solche Aktionsformen sind also mitnichten „neu“. 2002 zum Beispiel wurde gewarnt, der „in eine völkische Bewegung eingebettete Einzeltäter ist der neue Typ des Rechtsterroristen“ (Maegerle, 2002: 172).
Zum Schluss sei noch die Zufälligkeit der Radikalisierung angesprochen, welche nach Aussage der zitierten Experten kaum einen methodischen Ansatzpunkt böte. Radikalisierung als ein dynamischer und individueller Prozess mag zwar komplex und mithin nur bruchstückartig fassbar sein, doch zufällig ist er nicht. Höchstens einzelne Momente des Prozesses (z.B. wann man wo auf Personen, Botschaften o.ä. trifft) mag vom Zufall beeinflusst sein. Dennoch: Die zunehmende Internalisierung von Ideologie und die damit verbundene Unterordnung bzw. Reflektion des potentiell gesamten eigenen Lebens geschieht niemals aus „Zufall“. Ein komplexes Zusammenspiel aus Idealismus, politischen und unpolitischen Werten, Tätigkeiten und Aufgaben für eine „Sache“ und ein stetig steigender Aktionismusdrang befördert durch eigene Spezialisierung und Professionalisierung bei gekoppelter Wahrnehmung der bisherigen Unwirksamkeit (in Bezug auf die angestrebten Veränderungen im System), lassen Personen einen Kreislauf von Aktionismus und weiterer ideologischer Radikalisierung gehen. Die Ideologie muss dabei nicht besonders elaboriert und theoretisch komplex sein. Wichtig ist nur ein Mechanismus: Die radikale Ideologie erfordert die Tat. Sie erzwingt das Handeln, um den Wandel zu bringen. Kommt der Wandel nicht, so bedeutet dies entweder, die Ideologie war fehlerhaft oder: die Tat nicht ausreichend. Die nächste Stufe der ideologisch reflektierten Gewalt kann also relativ schnell und leicht kommen. An dieser Stelle allerdings haben die zitierten Experten wieder einen entscheidenden Punkt genannt: die Rolle der Zivilgesellschaft.
Zusammenspiel von Repression, Prävention und Intervention
Es gibt grundsätzlich drei Säulen der Anti-Terror und Anti-Extremismuspolitik: Repression, Prävention und Intervention. Repression als genuine Aufgabe des Staates stößt dabei schnell an ihre Grenzen. Zu verhindern, dass sich Personen in radikale Bewegungen eingliedern, sei es auch nur aus einer individuellen Einzeltätersituation heraus, ist ebenfalls ein essentieller Bestandteil jeder Extremismusbekämpfung. Intervention richtet sich dabei an die bereits aktiven Extremisten. Durch die Möglichkeit eines Ausstieges bietet sich Personen, welche sich auf dem beschriebenen Radikalisierungspfad befinden eine Alternative zur nächsten „Stufe“. Allein die bewusst und unbewusst vorhandene „Brücke“ wirkt bereits bei vielen abdämpfend, was die methodische Eskalation angeht. Zudem gibt es nirgendwo eine bessere Möglichkeit, etwas über die Abläufe und Mechanismen der Radikalisierung und besonders der Deradikalisierung zu lernen, als in diesen Programmen. Nicht ohne Grund bestätigte die Bundesregierung 2012 den vierfach höheren Erfolg des einzigen bundesweiten Deradikalisierungsprogrammes EXIT-Deutschland (Bundesregierung, 2012). Staatliche Stellen sind auch wissenschaftlich deutlich nicht der beste Ansprechpartner für Personen, die aus extremistischen Gruppen aussteigen wollen. Die Angst vor Strafverfolgung, nicht gewährleisteter Sicherheit, dem Zwang des „Verratens“ oder vielleicht zum Spionieren für den Geheimdienst können entscheidende Hemmnisse sein auszusteigen (vgl. Bjørgo, 2009). Zudem bedarf es mitunter bei der Deradikalisierung auch einer Art „Zertifizierung“ (vgl. Ebaugh, 1988: 184; Maruna, Lebel, Mitchell, & Naples, 2006: 275; Meisenhelder, 1977: 329). Eine solche „Zertifizierung“ (die „Glaubhaftmachung“ des Ausstieges) kann dabei natürlich nur wirksam sein, wenn sie von einem externen und gesellschaftlich anerkannten Experten kommt, der zu der betreffenden Person in keinem vorhergehenden positiven wie negativen Verhältnis stand. Die Familie und Freunde z.B. sind kein glaubhafter Partner für dieses Unterfangen, das sie qua Beziehung bereits ein positives Interesse an der Anerkennung des Ausstiegs haben. Polizei und Geheimdienste auf der anderen Seite sind ebenfalls nur schwerlich glaubhaft. Ihre Stellung und Fokussierung auf Informationsgewinnung, bzw. die Nichtbeachtung von Ideologie im Ausstiegsprozess und der fehlenden Vertrauenswürdigkeit durch mangelnde Transparenz behindert hier die nötige Neutralität.
Alternativen schaffen
Es bleibt festzuhalten: Zivilgesellschaftliche Deradikalisierungsprogramme weltweit haben sich in der Wissenschaft und Praxis als eines der effektivsten strategischen Methoden zur Extremismus- und Terrorismusbekämpfung entwickelt (vgl. Dechesne, 2011). Nur mit den Einblicken dieser Organisationen lassen sich gezielte und effektive staatliche Maßnahen entwickeln, oder treffende „Gegenpropaganda“ entwickelt. Nur mit diesen Einblicken wird überhaupt klar, wie, wo und wann radikale Gruppen rekrutieren. Zielgerichtete Prävention ohne Intervention erscheint logisch als zumindest deutlich erschwert.
Ohne eine Alternative kann es bei der individuellen Entscheidung der Eskalation nur eine Möglichkeit geben. Natürlich wird dies nicht alle Extremisten von Gewalt abhalten. Aber näher kann keine Gesellschaft an dieses Ziel herankommen, als durch eine zivilgesellschaftlicher Intervention und Deradikalisierungsstrategie.
Bjørgo, T. (2009). Processes of disengagement from violent groups of the extreme right. In T. Bjørgo & J. Horgan (Eds.), Leaving Terrorism Behind. Individual and collective disengagement (pp. 30-48). New York: Routledge.Bundesregierung (2012). Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heidrun Dittrich, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 17/8937 –.Dechesne, M. (2011). Deradicalization: not soft, but strategic. Crime, Law and Social Change, 55(4), 287-292.Ebaugh, H. R. F. (1988). Becoming an Ex. The Process of Role Exit. Chicago: University of Chicago Press.Köhler, D. (2012). Connecting the Dots – the Role of the Internet in the Individual Radicalization Processes of Right-Wing Extremists. Berlin: The Institute for the Study of Radical Movements.Kohlmann, E. F. (2008). ‚Homegrown‘ Terrorists: Theory and Cases in the War on Terror’s Newest Front. Annals of the American Academy of Political and Social Science, 618, 95-109.Maegerle, A. (2002). Rechtsextremistische Gewalt und Terror. In B. Wagner & T. Grumke (Eds.), Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrich.Maruna, S., Lebel, T. P., Mitchell, N., & Naples, M. (2006). Pygmalion in the reintegration process: Desistance from crime through the looking glass. Psychology, Crime and Law, 10(3), 271-281.Meisenhelder, T. (1977). An Exploratory Study of Exiting from Criminal Careers. Criminology, 15(3), 319-334.Silber, M. D., & Bhatt, A. (2007). Radicalization in the West – The Homegrown Threat. New York: NYPD Intelligence Division.
Institute for the Study of Radical Movements (ISRM) www.istramo.com