Es war dieses Gefühl, das sich nur einstellt, wenn man wirklich etwas erreicht hat. Nur hatte ich gar nichts getan. Im Sommer vor zwei Jahren saß ich auf einer Holzbank und trank Bier. Auf der Leinwand vor mir hatte sich Bastian Schweinsteiger über links durchgedribbelt, in die Mitte auf Arne Friedrich geflankt und der hatte zum 3:0 gegen Argentinien getroffen, im WM-Viertelfinale. Ich war außer mir. Ich liebte diese Mannschaft. Ich liebte Arne Friedrich. Ich liebte mich. Und irgendwie liebte ich auch Deutschland.
Dabei ist meine Beziehung zu diesem Land eigentlich eine andere. Wenn ich eine deutsche Flagge sehe, spüre ich nichts, weder Stolz noch Scham. Ich finde auch nicht die Griechen doof, weil einige Griechen vielleicht gerade Deutschland doof finden. Selbst die Spieler der Nationalmannschaft sind mir im Bundesliga-Alltag eher egal.
Doch egal ob Rentner, Unternehmensberaterin, Polizist oder eben Journalist: Seit der WM 2006 ist das kollektive Austicken für einen Monat alle zwei Jahre Routine. Etwas Farbe ins Gesicht, das Deutschland-Trikot überziehen und schon darf gegrölt, gewedelt und gehupt werden. Und man darf auch mal sagen, dass man die Italiener noch nie abkonnte und die Spanier eh keine Härte vertragen.
Ist ja alles bloß Spaß, haben uns Leitartikler und Professoren seit 2006 immer wieder erklärt. Die Sommermärchen-Euphorie hätte nichts mit Nationalismus, sondern mit einem postmodernen Willen zur Massenparty zu tun. Die FAZ nannte es eine „Love-Parade in Schwarz-Rot-Gold“. Und wenn überhaupt Patriotismus, dann ist er seit 2006 so „unverklemmt, heiter und weltoffen“ (Der Spiegel), dass ihn selbst Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, als „positiven Patriotismus“ empfand.
Die Leute meinen es ernst
Alles also ganz harmlos? Das wollte auch die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy für ihr Buch Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold? wissen. Sie hat dafür nicht Professoren und Leitartikler befragt, sondern Fans auf der Straße während der vergangenen drei Turniere. Und kommt zu dem Schluss: Um Party geht es den meisten nicht. Es ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die lockt. Von entspanntem Nationalismus kaum eine Spur. Die Leute meinen es ernst.
Spaß landete bei den von Schediwiy nach ihrer Motivation befragten Fahnenschwenkern auf dem letzten Platz. Es geht den meisten vielmehr darum, die Zugehörigkeit zu ihrem Land auszudrücken. Fast trotzig, weil man ja so lange nicht durfte. „Gerade Deutschland hat ja aufgrund der Geschichte Probleme damit deutsche Flagge zu zeigen, aber seit der WM im eigenen Land ist es so geworden, dass alle darauf stolz sind, Deutsche zu sein“, sagte ein 25-jähriger Banker auf der Fanmeile in Berlin 2010. Eine Frau drückte es noch prägnanter aus: „Deutschland ist unser Land. Und auf sein Land ist man stolz“.
Nationales Coming-Out
„Die Fußball-WM 2006 hatte den Charakter eines nationalen Coming-Out“, fasst die Psychologin in ihrem Buch zusammen. Eine als natürlich empfundene, aber geächtete Identität werde nicht mehr verleugnet. Stattdessen werde sie nach außen gekehrt und positiv besetzt. Das sei aber erst möglich, seit die angesprochenen Medien das Zurschaustellen von Nationalgefühl nicht mehr tabuisierten, sondern begrüßten.
Nun könnte man fragen, was daran schlimm sein soll? Wenn es einen tabuisierten, aber anscheinend latent vorhandenen Nationalismus gibt, sollen ihn die Leute doch ausleben – zumindest solange sie nur Perücken aufsetzen und keine Menschen verprügeln. Doch Ersteres könnte irgendwann zu Letzterem führen, schreibt Schediwy.
Während der Turniere zeigten sich Anzeichen verstärkter Fremdenfeindlichkeit. Es sei in dieser Zeit, und nur in dieser Zeit, völlig akzeptabel, die Mannschaft und das Land des Gegners zu beschimpfen. Das ist nicht schwer zu erklären. Sozialpsychologisch, schreibt Schediwy, sei der Stolz auf die eigene Gruppe immer mit der Abwertung anderer Gruppen verknüpft.
Unterstützt wird diese These von der Langzeitstudie Deutsche Zustände des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Sie weist nach, dass die Befragten nach der WM 2006 nationalistischer eingestellt waren als frühere Befragte. Und: „Die Vermutung, dass es sich dabei um eine neue, offene und tolerantere Form der Identifikation mit dem eigenen Land handelt, lässt sich nicht bestätigen.“ Das habe sich nicht verändert, meint Schediwy. Und fragt, ob es Zufall sei, dass unmittelbar nach der WM 2010 Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ zum Bestseller wurde?
Steigender Selbstwert
Von einem nur positiven Patriotismus kann also keine Rede sein. Vielmehr nimmt Schediwy die Theorien der Psychologie-Stars wie Sigmund Freud und Elias Canetti zur Hand, um zu zeigen: Gerade weil der Patriotismus negativ ist, also sich gegen andere richtet, werden die Deutschen so euphorisch, wenn Deutschland spielt.
Ein Wettkampfsport wie Fußball basiert auf der Abgrenzung zwischen Fremd- und Eigengruppen, auf dem Kampf um Sieg und Niederlage. Das allein schon verfestigt die kollektive Identität mit den jeweiligen Mannschaften. Bei Länderspielen aber, schreibt Schediwy, werde diese gemeinsame Identität zusätzlich durch die nationale Zugehörigkeit verstärkt. Die fuße ebenfalls auf der Konstruktion „Wir gegen euch“.
Die verstärkte Identifikation mit der eigenen Mannschaft führe dann zu einer Steigerung des Selbstwerts der Fans. Und solange die Mannschaft erfolgreich ist, steigert sich der Selbstwert immer weiter. Die Deutschen sind also nicht nur stolz auf Schweinsteiger und Co., sondern vor allem auf sich selbst, auch wenn sie nicht eine Sekunde auf dem Rasen standen, manche noch nie in ihrem Leben gekickt haben. So sagt ein Fan auf die Frage, was ein möglicher WM-Sieg für ihn bedeuten würde: „Ja, ich fühle mich als Weltmeister. Wenn Deutschland Weltmeister wird, sind wir alle Weltmeister.“
Ähnlich habe ich mich vor zwei Jahren auch gefühlt. Wenn Deutschland Argentinien schlägt, bin ich glücklich. Vermutlich bin ich deshalb ein verklemmter Nationalist. Ehrlich gesagt, möchte ich das nicht sein. Andererseits möchte ich weiterhin Fußball gucken, wegen der positiven Emotionen. Was also tun?
Dieser Text erschien zuerst auf ZEIT online am 21.06.2012. Mit freundlicher Genehmigung.
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