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Erinnerungskultur Spätes Gedenken an die als „Berufsverbrecher“ verfolgten NS-Opfer

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Im KZ Sachsenhausen erinnern zwei Stelen an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus. Die linke Stele trägt den schwarzen Winkel und erinnert an die als „Asoziale“ Stigmatisierten. Die rechte Stele trägt den grünen Winkel und erinnert an die als „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten. (Quelle: Foto: Amadeu Antonio Stiftung / Luisa Gerdsmeyer)

Zwei schlichte, circa zwei Meter hohe Metallstelen mit einem grünen und einem schwarzen Winkel stehen in dem Bereich der ehemaligen Kommandantur des KZ Sachsenhausen. Hier, wo sich damals Büros und Unterkünfte der SS-Angehörigen befanden, stehen heute zahlreiche Gedenksteine und –stelen, für verschiedene Opfergruppen unter den im KZ Sachsenhausen Inhaftierten. Die beiden neuen Stelen erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus, also diejenigen, die im KZ Sachsenhausen mit einem grünen oder schwarzen Winkel markiert und als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ stigmatisiert wurden. „Ich bin froh, dass wir als Amadeu Antonio Stiftung einen Teil zu dem Kampf der Angehörigen für das Denkmal an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus beitragen konnten und dass wir heute gemeinsam hier stehen“, so Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung in ihrem Grußwort, das sie bei der Einweihung der Gedenkstele auf Einladung der engagierten Angehörigen hielt.

 

Die Gedenktafel verweist besonders auf verleugnete Opfer des NS. (Foto: Amadeu Antonio Stiftung / Luisa Gerdsmeyer)

Die neu errichtete Stele mit dem grünen Winkel gedenkt der Menschen, die von den Nationalsozialisten als „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden. Dem zugrunde lag die absurde Vorstellung, dass Menschen, die – häufig aus extremer Armut heraus – bettelten oder stahlen, genetisch zur Kriminalität „veranlagt“ seien und diese „Gene“ weitervererben würden. Diese Menschen wurden von den Nationalsozialisten zur Gefahr für die „Volksgemeinschaft“ erklärt. Sie wurden verfolgt und in Konzentrationslagern inhaftiert.

Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten

Die Verfolgung der von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichneten Gruppen begann bereits 1933, als Polizei und SA in einer Massenverhaftungsaktion – der sogenannten „Bettelrazzia“ – Wohnungslose, Prostituierte und bettelnde Menschen inhaftierten. 1937 wurde die Verfolgung systematisch ausgeweitet. Im Februar 1937 erließen die Nationalsozialisten Richtlinien zur Verhaftung von 2.000 „Berufs- und Gewohnheitsverbrechern“. Im Zuge dessen führte die Kriminalpolizei am 9. März 1937 die sogenannte „März-Aktion“ durch, bei der 1.500 -2.000  Menschen verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Im Dezember 1937 veröffentlichte das Reichsinnenministerium den „Grundlegenden Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, der eine Regelung zur sogenannten „Vorbeugungshaft“ einführte. Damit erhielt die Polizei die Befugnis, Personen, die als „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ stigmatisiert wurden, ohne Gerichtsverfahren zu inhaftieren.

Nach einem Abkommen zwischen SS- und Polizeichef Heinrich Himmler und dem Reichsjustizminister Otto Thierack aus dem Jahr 1942 wurden Tausende Inhaftierte deutscher Gefängnisse in Konzentrationslager überstellt und hier unter grausamsten Bedingungen ausgebeutet und ermordet. Viele der sogenannten „Berufsverbrecher“ gehörten im KZ Sachsenhausen dem „Schuhläuferkommando“ an, welches als besonders grausam galt. Sie mussten für Schuhhersteller auf einer Prüfstrecke Belastungstests durchführen und täglich bis zu 48 Kilometer zu Fuß zurücklegen, teils mit zu kleinen Schuhen oder schweren Rucksäcken. Wer vor Erschöpfung zusammenbrach, wurde erschossen.

Forscher*innen gehen von mindestens 70.000 Betroffenen aus, die in den Konzentrationslagern inhaftiert wurden und den schwarzen oder grünen Winkel tragen mussten. Die genauen Opferzahlen derjenigen, die in den Konzentrationslagern starben, sind bis heute nicht bekannt.

Jahrzehnte der Verleugnung

Der Einweihung der Gedenkstele ist eine jahrzehntelange Geschichte der Verleugnung, weiteren Stigmatisierung und Diskriminierung der beiden Opfergruppen vorausgegangen. „Es gehört zu den bis heute kaum bekannten Tatsachen, dass diese in den KZ, mit dem grünen und dem schwarzen Winkel Markierten nach 1945 nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden sind. Sie erhielten keine Entschädigung, sie wurden weiter diskriminiert und schwiegen fortan“, so Frank Nonnenmacher, Angehöriger eines als „Asozialer“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten. Auch die Solidarität anderer Opfergruppen blieb nach dem Ende des Nationalsozialismus aus. Es kam zu Ab- und Ausgrenzung, da oft davon ausgegangen wurde, dass die Betroffenen „zu Recht“ verfolgt worden seien. Diese Annahme hält sich teilweise bis heute.

Selbstorganisierung, Anerkennung und Sichtbarkeit blieb den Betroffenen in den Jahren nach 1945 verwehrt. „Viele der Überlebenden dieser verleugneten Opfergruppen konnten und wollten gar nicht um Sichtbarkeit kämpfen, denn für Tausende von Menschen in der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR fühlte es sich sicherer an, die eigenen Erfahrungen zu verleugnen – ob aus Scham oder aus Sorge um die Folgen für die eigene Familie“ so Tahera Ameer. „Es hätte die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft sein müssen, proaktiv und klar alle Opfergruppen gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Wie verleugnend die deutsche Tätergesellschaft war, wird an dieser Gruppe von Opfern am deutlichsten: Wenn sie nicht für sich selber kämpften, dann tat es eben niemand.“

Der Kampf um die Erinnerung

Frank Nonnenmacher, dessen Onkel Ernst Nonnenmacher zunächst mit dem schwarzen und dann mit dem grünen Winkel in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Sachsenhausen inhaftiert war, initiierte gemeinsam mit vier weiteren Angehörigen im Jahr 2018 eine Petition an den Deutschen Bundestag zur Anerkennung der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als Opfer des Nationalsozialismus. Die Petition gab schließlich den Anstoß für einen Bundestagsbeschluss im Februar 2020. Der Beschluss ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf um die Anerkennung der verleugneten Opfergruppen und stellt endlich öffentlich fest, was viel zu lange verleugnet wurde: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.“ Dass es erst 2020 dazu kam, zeigt, wie tief Gewalt und Ablehnung gegenüber armen Menschen und denjenigen, die in ihrer Lebensweise von sozialen Normen abweichen, verankert sind.

Im Jahr 2022 gründeten Angehörige den Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus e.V. Der Verband setzt sich dafür ein, das Gedenken an die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und es zu einem festen Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur werden zu lassen.

„Es darf keinerlei Hierarchisierung zwischen Opfergruppen des Nationalsozialismus geben. Wir stellen uns gegen jede Form der Verharmlosung, Relativierung oder Rechtfertigung der Verbrechen, die die Nationalsozialisten den bis heute verleugneten Opfern angetan haben“, betonte Frank Nonnenmacher bei der Einweihung der Gedenkstele. Der Verband setzt sich weiter für die vollständige Umsetzung des Bundestagsbeschlusses ein, denn hier gibt es nach wie vor große Leerstellen. „Bis heute ist die Bereitstellung von dringend erforderlichen Forschungsmitteln, insbesondere zur Rolle der Verfolgungsinstanzen, durch die Bundesregierung ausgeblieben“, mahnt Nonnenmacher. Ein positives Signal ist hingegen die Umsetzung der Wanderausstellung „Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933-1945-HEUTE“, die am 11. Oktober 2024 in Berlin eröffnet wurde. Auch, dass über die im Bundestag beschlossenen Maßnahmen hinaus noch viel geschehen muss, betonte Nonnenmacher: „Ich gehe hier und heute davon aus, dass mit dem Bundestagsbeschluss der gesamte Komplex der Erinnerung an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus natürlich nicht abgeschlossen ist, sondern erst anfängt.“

Kontinuitäten von Hass, Ausgrenzung und Gewalt

Dass die mit dem grünen und dem schwarzen Winkel Verfolgten im öffentlichen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus häufig unsichtbar gemacht werden, hängt auch mit dem bis heute verbreiteten Hass auf diese Gruppen zusammen. „Menschenverachtende Schimpfwörter und das unbewusste Zustimmen zu der zugrundeliegenden Ideologie sind nach wie vor prägend für unsere Gesellschaft. Der einzige gemeinsame Nenner all der Menschen, die den schwarzen Winkel trugen, war ein von der Norm abweichendes Verhalten. Was immer das ist, muss fortwährend definiert werden, aber vieles von dem, was damals als normabweichend galt, hat sich bis heute weitergetragen“, betont Tahera Ameer in ihrem Grußwort. Die Einweihung der Stelen ist eine Mahnung, sich heute entschlossen gegen Hass, Ausgrenzung und Gewalt zu stellen und für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der alle Menschen in Würde und Freiheit leben können.

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