Eigentlich hätte nie jemand vom Holocaust erfahren sollen. Dafür hatten die Nationalsozialisten gründlich vorgesorgt. Es gab nie einen schriftlichen Führerbefehl zur Vernichtung der Juden, keine Befehle zur Errichtung von Gaskammern und die Einheiten der Sonderkommandos wurden in regelmäßigen Abständen selbst umgebracht. Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte sollte ohne Zeugen ablaufen. Der Holocaust war von Anfang an auf eine umfassende, totale Vernichtung angelegt. Man gab sich nicht mit Menschenleben zufrieden. Es sollte auch ein gesamtes Erinnerungsgeflecht ausgelöscht werden. ?Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden?, verkündete Himmler in einer Rede vor SS-Offizieren im Jahre 1943, als er auf die Ausrottung der Juden zu sprechen kam. Die systematische Judenvernichtung hat in-zwischen aufgehört. Der Versuch, den Holocaust aus der nunmehr kollektiven Erinnerung der Allgemeinheit zu verbannen, hält noch immer an.
Das Leugnen des Holocaust ist ein weltweites Phänomen. Rechtsradikale und Antisemiten bedienen sich der Leugnung, um das Schuldgefühl der Täter zu beseitigen, radikale Inhalte wieder salonfähig zu machen, und im Falle des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, politisch verwertbare Hassgefühle gegen Israel zu schüren. Das Leugnen hat Methode, es folgt einem ausgeklügelten Schema und macht auch vor perfiden Methoden nicht halt. Robert Faurisson, ein notori-scher Antisemit aus Frankreich, leugnete den Holocaust mit dem ?Argument?, dass die Überlebenden ja nicht überlebt hätten, wenn es tatsächlich Gaskammern gegeben hätte. Es ist diese Art von paradoxem Diskurs, den die Leugner öffentlich abhalten wollen; denn man müsse schließlich über alles reden dürfen, lautet das liberale Dogma der Redefrei-heit. Hat nicht alles seine zwei Seiten? Deborah Lipstadt, die über David Irving vor einem englischen Gericht in einer Beleidigungskla-ge triumphierte, bei der das Gericht feststellte, dass Irving als Antisemit und Leugner be-zeichnet werden darf, sah im vulgären Realitätsskeptizismus der Postmoderne das fruchtbare Klima für Leugner.
Die Behauptung, dass es den Holocaust nicht gegeben hat, ist absurd. Warum also sollte man absurde Ansichten nicht zulassen? Hat nicht auch der Dumme das Recht auf eine Meinung? Zahlreiche Länder, unter anderem Israel, Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, Österreich und die Schweiz verbieten das Leugnen des Holocaust mit dem schärfs-ten Schwert des Staates: dem Strafrecht. Der Gedanke, die Erinnerung an den Holocaust strafrechtlich zu konservieren, kam Anfang der 90er Jahre nicht zufällig auf. Es nahte die Gewissheit, dass der Holocaust bald ?Ge-schichte? werden könnte, wenn die letzten Zeitzeugen erst gestorben sind. Der Holocaust wäre dann nur noch ein historisches Ereignis und nicht mehr Gegenstand kommunikativen Handelns und Erinnerns. ?Geschichte fängt dort an, wo nicht mehr erinnert wird, wo das soziale Gedächtnis sich auflöst? befand der französische Soziologe und Schüler Durkheims, Maurice Halbwachs, der 1945 in Buchenwald von den Nazis ermordet wurde. Dieses Drängen auf ein antizipiertes Ende des Erinnerns kam in der Überschrift des Artikels von Ernst Nolte in der F.A.Z. zum Ausdruck, mit dem er vor über 20 Jahren den Historikerstreit auslöste: ?Vergangenheit, die nicht vergehen will?.
Was Menschen in 100 oder 200 Jahren unter dem Holocaust verstehen werden, kann nie-mand sagen. Die Erinnerung an den Holo-caust ist heute wie ein zartes Pflänzchen, das Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt ist. Der Zahn der Zeit nagt an der Erinnerung.
Offizielle Gedenktage, wie anlässlich der Befreiung von Auschwitz-Birkenau am 27. Januar, werden, wie kürzlich in München, vor lauter Faschingsnarretei gerne mal vergessen. Das in Abredestellen der Existenz des Holocaust durch Leugner leistet ein Übriges dazu, dass sich schlichte Gemüter schon jetzt die epistemologische Frage stellen: Wie können wir sicher wissen, ob es den Holocaust tatsächlich gegeben hat? Strafrechtliche Erinnerungsgesetze sollen diese Dekonstruktion der Erinnerung verhindern. Sie sollen die Überlieferung des Holocaust an das kulturelle Gedächtnis zukünftiger Generationen als abwägungsfeste Tatsache sichern, damit es nie mehr zu einer Wiederholung von Auschwitz kommt. Denn mit jeder neuen Generation schwindet zwangsläufig die Sensibilität für den Holocaust, so wie sie jetzt schon in eini-gen Ländern, wie England oder den USA, die beide ein Verbot der Holocaustleugnung nicht kennen, eher schwach ausgeprägt ist. Erinnerungskultur ist eine kollektive Aufgabe. Erinnerungsgesetze normieren das ge-samtgesellschaftliche Postulat, niemals zu vergessen. Sie konservieren die Erinnerung für alle, indem sie die Existenz des Holocaust außer Streit stellen. Als Sondergesetze für Juden sollten sie daher nicht gesehen werden, auch wenn dies einige jüdische Gemeinden (zum Beispiel in Italien) befürchten.
Dieser Straftatbestand, in Deutschland der Paragraph 130 Absatz 3 des Strafgesetzbuches, ist eine Reibefläche für die liberalen Traditionen des modernen Strafrechts. Systematisch zweifelhaft im Volksverhetzungs-paragraphen angesiedelt, schützt die Vor-schrift den ?öffentlichen Frieden?, ein, gegenüber dem Leben, der körperlichen Unver-sehrtheit oder dem Eigentum eher unbe-stimmtes und angreifbares Rechtsgut. Der Staat bedarf nach traditioneller Sicht stets einer Limitation, er darf nicht jedes Verhalten bestrafen, sondern muss dafür eine Befugnis ausweisen, eben in Form eines Rechtsgutes. In allen Strafrechtsordnungen rankt sich die Diskussion daher um die ungelöste Frage: Wann darf der Staat Legitimerweise strafen? Das Strafrecht hat sich in nahezu allen Rechtsordnungen jedoch nicht an die Zügel des Liberalismus nehmen lassen: es ist immer zugleich auch Ausdruck einer sozialen Missbilligung geblieben. Die Bekenntnisbeschimpfung, das Inzestverbot und das Verbot exhibitionistischer Betätigung sind Beispiele für Handlungen, die in vielen Ländern verboten sind, weil sie tief verwurzelten gesell-schaftlichen Vorstellungen zuwider laufen und gemeinhin als unerträglich empfunden werden. Letztlich steht hinter zahlreichen strafrechtlichen Wertentscheidungen wo die Strafrechtsdogmatik nicht mehr weiter weiß, nur allzu Menschliches: ein Gefühl.
Nietzsche befand, dass ein erstarkendes Gemeinwesen Verfehlungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig nehmen müsse. Sind Verbote also auch ein Zeichen von Schwä-che? Im Fall Deutschlands wäre es schwer vorstellbar, ein in den Stein des Gesetzes ge-hauenes Schuldbekenntnis als Schwäche aus-zulegen. England und gerade die USA kannten und kennen genug Beispiele für Moralge-setze (wie das Verbot bestimmter Sexual-praktiken) und gesetzlichen Paternalismus, die ebenfalls nicht von Stärke zeugen, stellen aber trotzdem eine nahezu zügellose Mei-nungsfreiheit als goldenes Kalb in die Mitte der Gesellschaft. Große Denker, wie der liberale John Stuart Mill, müssen heute als Geisel der Holocaustleugner dafür herhalten, dass auf seinem ?Marktplatz der Ideen? auch verfaulte Scheindiskurse feilgeboten werden. Intellektuelle, wie Timothy Garton Ash, sorgen in Berufung auf ihn dafür, dass es mög-lichst auch so bleibt. Was den Sprachwissenschaftler Noam Chomsky dazu trieb, das Vorwort zu einem Buch von Robert Faurisson zu schreiben und diesen als ?apolitischen Liberalen? zu bezeichnen, bleibt in den Un-tiefen eines verqueren Verständnisses von Liberalismus verborgen. Die Stärke des Liberalismus wird so schnell zur Schwäche. Denn Beliebigkeit und Laissez-faire haben stets auch einen autodestruktiven Einschlag. Was spricht dagegen, dem Missbrauch der Meinungsfreiheit dort entgegenzutreten, wo die-se, wie im Fall von Rechtsextremisten, dafür verwendet wird, die Meinungsfreiheit selbst ?abzuwickeln??
Selbstverständlich stehen Verbote immer unter einem kulturellen Vorbehalt. Dieser spiegelt sich auch in Gerichtsverhandlungen wi-der und macht diese für Prozesse über historische Tatsachen geeigneter oder weniger ge-eignet. So ist in den USA der Gerichtsprozess stets ein offenes Spiel um alle Tatsa-chen, auch die historisch offensichtlichsten, das gewonnen oder verloren werden kann. Es verwundert deshalb auch nicht, dass der His-toriker Raul Hilberg (?Die Vernichtung der europäischen Juden?) geschichtliche Verbote stets abgelehnt hat. In Kanada und Frank-reich ist das Prozessrecht ähnlich organisiert. In Deutschland hingegen gilt der Holocaust als ?gerichtsnotorische Tatsache?. Der Richter darf (und kann) den Historiker nicht ersetzen.
Wie viel Skepsis angebracht ist, wenn Geschichte gesetzlich festgeschrieben wird, lässt sich zurzeit in Europa beobachten. So sieht Frankreich neben dem Verbot der Holocaustleugnung auch ?lois mémorielles? vor, die Schulen und Universitäten darauf verpflichten, äußerst einseitig auf die positive Rolle Frankreichs bei der Kolonialisierung Afrikas hinzuweisen. Polen kennt eine Straf-vorschrift, die Aussagen über die Implikation Polens in nationalsozialistische oder stalinis-tische Verbrechen als ?Beleidigung der Nati-on? bestraft, was zuletzt Ermittlungen gegen den Historiker Jan Tomasz Gross auslöste, der ein Buch über den Antisemitismus in Polen geschrieben hatte. Traurige Berühmtheit hat auch eine Norm des türkischen Strafgesetzbuches erlangt, die es verbietet, über den Genozid der Türken an den Armeniern zu sprechen, worunter Schriftsteller wie Orhan Pamuk leiden.
Bei dieser Art von gesetzlicher Geschichtsklitterung scheint das Diktum Nietzsches nicht unberechtigt. Wenn Staatsräson über die geschichtliche Wahrheit siegt, sind ge-dankliche Parallelen zu Orwellschen Wahr-heitsministerien aus ?1984? naheliegend. Die historische Unwahrheit juristisch zu schützen kann kein legitimes Interesse verfolgen. Es darf aber um der Redlichkeit Willen verlangt werden, dass zwischen Wahrheitsschutz und Lügenschutz, zwischen echten und unechten Erinnerungsgesetzen und damit zwischen Erinnerungskultur und Realitätsflucht unterschieden wird. Dies tut im Übrigen das Bun-desverfassungsgericht, wenn es unwahre Tat-sachenbehauptungen, wie die Leugnung des Holocaust, gar nicht erst unter die Meinungs-freiheit fallen lässt. Damit folgt das höchste deutsche Gericht der Feststellung Hannah Arendts, die es ähnlich ausdrückte: ?Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen ist eine der Formen der Lüge.?
Die EU plant seit 2001, die Leugnung des Holocaust europaweit unter Strafe zu stellen. In der ersten Hälfte dieses Jahres könnte es so weit sein, nachdem letztes Jahr eine politische Einigung unter deutscher Ratspräsident-schaft zustande gekommen war. Eine originäre Kompetenz für das Strafrecht fehlt der EU. Sie muss daher auf das Einverständnis aller Staaten setzen, was aufgrund kultureller Unterschiede nicht ohne Abstriche zu erwar-ten ist. Das Strafrecht hat, was der EU bis-lang fehlt: eine starke identitätsstiftende Wirkung. Nach dieser sucht die EU seit ihrer Gründung, als mit der Montanunion die kriegswichtige Stahlindustrie unter einheitliche Kontrolle gestellt wurde. In dieser Tradi-tion könnten sich die Mitgliedsstaaten bald rechtlich auf das politische Postulat ver-pflichten: ?Nie wieder Genozide, Kriegs-verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?. Es wäre vielleicht zuviel, den Holocaust als Teil der kulturellen Identität Europas zu betrachten. Die Erinnerung an den Holocaust ist dagegen Teil der kulturellen Identität Europas. Ist es nicht wert, sie zu schützen?