Samstagnachmittag, 24. November 1990, Eberswalde: Eine Gruppe junger Erwachsener trifft sich in der Wohnung eines stadtbekannten Neonazis. Darunter befinden sich sowohl bekannte Skinheads aus Gratz und Casekow als auch rechtsorientierte Jugendliche aus Eberswalde. Gemeinsam ziehen sie los, um in eine Diskothek zu gehen. Schon auf dem Weg dorthin randalieren einige der jungen Erwachsenen ? sie brechen in den Imbisswagen eines türkischen Besitzers ein. Die Polizei war schon zwei Wochen vorher über das Treffen der Gruppe informiert, auch bei der Randale auf dem Weg zur Diskothek wurde die Gruppe bereits beobachtet. Nachdem in der Diskothek die Stimmung mit Parolen wie ?Heil Hitler? und der entsprechenden Musik, aufgeheizt wurde, zog eine Gruppe von 60 Leuten weiter Richtung der Gaststätte ?Hüttengasthof?. Ihr Ziel war es ?Neger aufzuklatschen?, wie die Angeklagten später im Gerichtsverfahren zu Protokoll gaben. Bereits auf dem Weg zur Gaststätte wurde die rechtsextreme Motivation des Mobs deutlich: ?Deutschland den Deutschen!?, ?Ausländer raus? und ?Neger verpisst euch!? riefen die Mitläufer des Mobs.
?Pogrom-Stimmung? in Deutschland
?Heute kann man sich kaum noch vorstellen wie die Stimmung 1990 war? erzählt Eberhard Seidel-Pielen, heute Geschäftsführer des Projekts ?Schule ohne Rassismus ? Schule mit Courage?, der damals als Journalist für den Tagesspiegel über den Fall Amadeu Antonio Kiowas berichtete. ?Kurz nach der Wende waren alle mit der Wiedervereinigung Deutschlands beschäftigt. Gleichzeitig herrschte eine Pogrom-Stimmung: Immer wieder zogen völkische Straßenbanden, wie im Fall von Amadeu Antonio, durch die Städte und bedrohten die Anwohnerinnen und Anwohner. Doch weder die Regierung noch die Medien reagierten zunächst auf die rassistischen Übergriffe.?
Amadeu Antonio war dem Mob ausgeliefert
Die Polizei wusste am Abend des 24. Novembers über den Standort und das Ziel der Gruppe um die Skinheads Bescheid. Sie informierte den Wirt der Gaststätte ?Hüttengasthof? und empfahl ihm, das Lokal zu schließen – was war gut gemeint. Hätte die Polizei eingegriffen, wäre es allerdings lebensrettend gewesen. Der Wirt nahm die Empfehlung ernst: Die Gäste verließen das Lokal. Amadeu Antonio, der zusammen mit zwei Männern mosambikanischer Herkunft und zwei weißen Frauen unterwegs war, verließ das Lokal ebenfalls. Sie schlugen die Richtung ein, aus der der Mob kam, und liefen ihnen genau in die Arme.
Auf dem rund 3 Kilometer langen Weg zum Gasthof randalierte die 50 bis 60 Personen große Gruppe und begann, sich mit Zaunlatten zu bewaffnen. Als Amadeu Antonio und seine Begleiterinnen und Begleiter ins Blickfeld des Mobs kamen, rief jemand ?Da sind die Neger? und die Nazis begann, auf die Gruppe um Amadeu Antonio loszurennen. Mit Lattenzäunen und Softballschlägern wurde auf die Freunde eingeschlagen. Beim Versuch zu fliehen teilte sich die Gruppe. Die Begleiterinnen und Begleiter konnten verletzt fliehen ? Amadeu Antonio nicht. Er wurde von rund 10 Leuten verfolgt und brutal zusammengeschlagen. Erst als ein Bus vorbei fuhr, ließ die Gruppe Nazis von dem bereits bewusstlosen Amadeu Antonio ab. Die ganze Zeit beobachteten zwei Zivilfahnder das Geschehen. Sie trauten sich allerdings nicht, einzuschreiten, sondern forderten nur Verstärkung an. Lange Zeit standen 20 vollausgerüstete Polizisten in der Nähe des Überfalls, schritten allerdings erst gegen 1 Uhr ein.
? und die Polizei schaut zu
?Nach der Wende gab es ein Machtvakuum, die Polizeidienststellen hatten große Probleme mit der Umstrukturierung und waren somit noch nicht wirklich arbeitsbereit? erklärt Seidel-Pielen. ?Es brauchte zwei, drei Jahre und einige gravierende Ereignisse, bis die Regierung und auch die Medien reagierten.? Warum die Polizei am Abend des 24. Novembers nicht eingriff, bleibt allerdings unklar. Es wurde wegen ?Körperverletzung mit Todesfolge aufgrund unterlassener Hilfeleistung? gegen die Beamten ermittelt, jedoch wurde keine Anklage erhoben. ?Dass die Polizeibeamten in diesem Fall nicht verurteilt wurden, überrascht mich nicht. Institutionen sind hierarchisch aufgebaut und enden im Innenministerium. Wenn man dort länger ermittelt hätte, hätte man eigene Versäumnisse eingestehen müssen?, so Prof. Dr. Monika Frommel, Direktorin des Institut für Sanktionenrecht und Kriminologie der CAU zu Kiel.
Amadeu Antonio verstarb, ohne nochmals das Bewusstsein zu erlangen am 6. Dezember 1990 an einem Multiorganversagen. Der Fall wurde als schwere Körperverletzung mit Todesfolge eingestuft ? die Angeklagten bekamen Jugendhaftstrafen zwischen zwei und vier Jahren. Wäre die Tat allerdings als Totschlag oder Mord gewertet worden, wären die Strafen wesentlich höher ausgefallen.
Reaktionen auf den Prozess
Damals kritisierten viele Personen aus Wissenschaft und Politik den Urteilsspruch des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder). Darunter auch Monika Frommel: ?In der Zeit um 1990 wurden Straftaten mit rassistischer Motivation oft bagatellisiert. Von Seiten der Justiz wurde lange die Alleintäterthese vertreten. Bei den Ermittlungen wurde der politische Hintergrund einer Tat, zumindest im Bereich der rechtsextremen Straftaten ausgeblendet. Somit wurden die Taten, wie im Fall von Amadeu Antonio entpolitisiert. Ganz anders war es zum Beispiel bei den Prozessen gegen die RAF, bei den Ermittlungen wurde sofort das ganze Umfeld miteinbezogen.? Die Urteile und die damit einhergehenden Maßnahmen, wirkten in keiner Weise abschreckend auf das Umfeld der Täter.
Die Ermordung an Amadeu Antonio wurde von Seiten des Gerichts als das Ergebnis eines gruppendynamischen Prozesses bewertet. Dass die Gruppe klar rassistische Gedanken verfolgte, wurde in der Urteilsbegründung aufgegriffen jedoch durch die ?damaligen politischen und gesellschaftlichen Umstände? verharmlost: ?Man war der Ansicht, dass es im Osten keine echten Nazis, sondern verirrte Jugendliche gebe, die ihrer Verwirrung eine fremdenfeindliche Note gaben?, so Bernd Wagner vom Zentrum Demokratische Kultur, der damals als Polizist arbeitete. ?Man begründete es damit, dass die DDR zu autoritär gewesen sei, deshalb suchten die Jugendlichen Halt und Entladung. Dies verharmlost meiner Meinung nach die Tat. Die tatsächlichen Persönlichkeits-, Ideologie- und Gruppenprofile interessierte keinen?
Rassistisch motivierte Straftaten heute
?Mittlerweile hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, das Umfeld der Täter und eine politische Motivation werden mit in die Ermittlungen einbezogen. Was nicht heißt, dass die Vorgehensweise in Verfahren zu rechtsextremen Übergriffen durchweg angemessen sind, aber die Routinen sind besser?, erklärt Frommel.
Auch wenn heute im Vergleich zu 1990 ein Paradigmenwechsel in der Justiz stattgefunden hat, werden weiterhin viele Straftaten, die eine rassistische oder anderweitig diskriminierende Motivation als Hintergrund haben, nicht als solche gewertet. Nur eine eindeutige Benennung der Tatmotivation bei rechtsextremen Straftaten, führt zu einer umfassenden Aufklärung über die Gefahr, die von einer solchen Ideologie ausgeht. Damit Morde wie der an Amadeu Antonio niemals zum Alltag in Deutschland werden.
Amadeu Antonio Kiowa galt lange als erstes Todesopfer rechtsextremer Gewalt nach der Wende – laut offizieller Statistik ist er es auch noch. Allerdings haben Recherchen inzwischen ergeben, dass das erste Todesopfer rechtsextremer Gewalt der Pole Andrzej Fratczak war, der am Abend des 7. Oktober 1990 vor einer Diskothek in Lübbenau (Brandenburg) bei einem Angriff von drei jungen Deutschen verprügelt und durch einen Messerstich tödlich verletzt wird.
| 182 Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit der Wende
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