Gräfenberg steckt in einem Dilemma. Das Städtchen liegt im Oberfränkischen, umgeben von Weiden, Feldern und Kirschplantagen. 4000 Einwohner zählt die Kerngemeinde, zwei Brauereien gibt es dort, eine Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert und ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen der Weltkriege. Das Dilemma: Die mittelalterliche Altstadt lockt Touristen an, das Mahnmal Neonazis.
„Es geht wieder los“, sagt Rudolf Schäfer. Er schaut aus dem Fenster, draußen rollt ein Konvoi von Polizeiautos durch die Gassen. Die Beamten bereiten sich auf eine weitere Demonstration der NPD vor. Schäfer sitzt mit Bürgermeister Werner Wolf und Monika Michael in einer historischen Gaststätte. Sie organisieren für die Bürgerinitiative „Gräfenberg ist bunt“ den Widerstand gegen die NPD.
Seit fast zwei Jahren demonstriert die rechtsradikale Partei jeden Monat aufs Neue in der bayerischen Kleinstadt. Nun steht der 31. Aufmarsch kurz bevor, die zweite Kundgebung in sieben Tagen. „Das ist Demonstrations-Terrorismus“, sagt Wolf. Schräg gegenüber der Gaststätte führt eine Treppe den Hang hinauf zum Denkmal. „Ewige Ehre und Dank unseren Kriegern“, steht dort auf einer Bronzeplatte. Dies ist das Ziel der NPD. 1999 hat die Stadt das Mahnmal an einen Verein verpachtet, der den Rechtsradikalen verbietet, das Gelände zu betreten. So verhinderten die Gräfenberger Huldigungen für die Wehrmacht.
„Denkmäler sind für alle da“, lautet seither das Motto der monatlichen NPD-Demonstration. „Mahnmahle sind für Denkende da“, steht auf Plakaten, welche Gräfenberger über die Gassen ihrer Stadt gespannt haben. „Je mehr ihr gegen die NPD tut, desto mehr schaukelt sich das hoch“, hatte ein Polizist Bürgermeister Wolf am Anfang gewarnt. „Was sollen wir sonst tun, unsere Stadt den Nazis überlassen?“, fragt Wolf. „Dann hätte Gräfenberg bald den Ruf als braunes Nest weg“, ergänzt Monika Michael von der Bürgerinitiative. Die Neonazis inszenieren sich als Opfer der „undemokratischen“ Gräfenberger, die ihr Recht auf Versammlungsfreiheit einschränkten. Sie treffen stets auf mehrere Hundert Gegendemonstranten.
Protest will ?unberechenbar sein?
Weil sie ihre Stadt nicht der NPD überlassen wollen, haben die Einwohner die Initiative „Gräfenberg ist bunt“ gegründet. Der Bürgermeister macht ebenso mit wie die Dekanin, CSU-Politiker, Gewerkschafter, Arbeitslose, Studenten und Schüler. Für ihren Durchhaltewillen und ihren kreativen Protest wurden die Gräfenberger mit mehreren Demokratiepreisen ausgezeichnet. Sie hüllten sich in Bettlaken und legten sich als Leichen auf den Marktplatz, dabei liefen jüdische Klagelieder. Sie projizierten Bilder von KZ-Opfern an die Wand eines Stadttores, durch das die Neonazis gehen mussten. Mal stellten die Gräfenberger Scheinwerfer auf, sodass ein Fackelzug der NPD im Hellen laufen musste. Mal läuteten sie eine Kirchenglocke, während ein Neonazi eine Rede hielt.
„Wir wollen unberechenbar für die NPD sein“, sagt Wolf. Bei einem Aufmarsch blieben die Gräfenberger in ihren Häusern, den Marktplatz hatten sie mit einem riesigen Transparent umspannt. „Lauft euch doch die Füße wund, Gräfenberg bleibt trotzdem bunt“, stand darauf. Doch die Neonazis kommen immer wieder. „Die NPD-Taktik ist klar, die wollen die Gemeinde spalten“, sagt Monika Michael. Ein Großteil der Einwohner unterstützt das Forum, aber es gibt auch Stimmen, die ein Ende der Demonstrationen fordern. Geschäftsleute fürchten um ihren Umsatz, Anwohner sind vom Lärm, den Sperrungen und Polizeikontrollen genervt.
Am Abend versammeln sich die Anhänger der NPD am Bahnhof. Sie sind mit dem Zug aus dem 20 Kilometer entfernten Nürnberg angereist oder mit dem Auto aus der Umgebung. Aus Gräfenberg komme keiner, sagen die Einheimischen. Angemeldet werden die Aufmärsche meist von einem NPD-Kader aus Fürth. An diesem Freitag erwarten die Gräfenberger einen Solidaritätsmarsch aus einer Nachbargemeinde. Die Kommunen unterstützen einander gegen die Rechtsradikalen, denn die NPD ist in ganz Franken aktiv. Bereitschaftspolizei und Absperrgitter trennen die 57 Neonazis von 130 Gegendemonstranten.
Bevor die Rechten losmarschieren, fordert der Anmelder seine Kameraden auf, sich an die Auflagen zu halten, Uniformen und Springerstiefel sind verboten. Die NPD gibt sich brav und diszipliniert nur der Gleichschritt funktioniert noch nicht. Auf dem Marktplatz warten 200 Gräfenberger auf die Neonazis. Aus der Ferne ist das dumpfe Dröhnen von Trommeln zu hören. Ein Pfeifkonzert begrüßt die Rechtsradikalen. Zwei Neonazis fotografieren die Gegendemonstranten, solche Bilder landen auf Anti-Antifa-Seiten im Internet. Dort werden zur Einschüchterung auch Namen und Adressen von Gegnern genannt. „Bürgermeister, du kannst uns mal!“, rufen die Neonazis. Wolf ist ihr Feindbild. Er bekommt immer wieder Morddrohungen, sein Haus wurde mit Farbbeuteln beworfen. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, sagt er. Spätestens am Tag der Deutschen Einheit erwarten die Gräfenberger die nächste Demonstration der NPD zurück. Die Planung für den Gegenprotest läuft schon.
Der Artikel erschien erstmals am 4.September 2008 in der ZEIT.