Der Song „Corona Weltuntergang“ hat eine Vorgeschichte: „Frei.Wild“-Sänger Philipp Burger betreibt seit einigen Jahren einen Bauernhof in Brixen, einer Stadt im Südtiroler Eisackteil in Italien, und vermietet mehrere Ferienwohnungen. Ende Februar gingen aufgrund des Corona-Virus zwei Stornierungen ein. Burger nahm die Stornierungen zum Anlass, um sich über die „Hysterie“, „Panikmacherei“ und „Weltuntergangsstimmung“ zu echauffieren. Er schrieb einer Urlauberin, der Krankheitsverlauf des Corona-Virus sei „nachweislich schier identisch zu einer normalen Grippe“, weshalb er keinen nachvollziehbaren Grund für die Stornierung des Urlaubs sehe. Er verbreitete das Schreiben online – und bekam aus der „Frei.Wild“-Community reichlich Zustimmung.
Wenige Tage später erschien „Corona Weltuntergang“. Der Titel fasst die vonseiten der Band seit Jahren betriebene Marketingstrategie zusammen: Wie bekomme ich Aufmerksamkeit? Wie komme ich rasch in die Single-Charts und YouTube-Trends? Kombiniere die Worte „Corona“ und „Weltuntergang“ – und die Aufmerksamkeit und der kommerzielle Erfolg sind gewiss. Das Video, das im Tonstudio der Band aufgenommen wurde, ist eine (geschmacklose) Provokation: Mehrere Personen tanzen in weißen Schutzanzügen und mit Atemschutzmasken umher und machen sich aus Covid-19 einen Scherz. Die Aufnahmen enden zynisch: Unmittelbar nachdem Burger das letzte Wort gesungen hat, beginnen die Musiker sehr auffällig zu husten, um ein weit verbreitetes Krankheitssymptom anzudeuten. Das Video ist die kalkulierte Ironisierung einer ernsthaften Gefahr. Es ist eine geschmacklose Provokation gegenüber allen Menschen, die in Folge des Virus erkrankt oder gar gestorben sind, gegenüber allen, die Tag und Nacht in den Krankenhäusern arbeiten, und gegenüber allen, die zur Risikogruppe gehören und sich berechtigte Sorgen um ihre Gesundheit machen.
„Alles hat ein Ende, wird wieder gut | Corona-Weltuntergang oder wir klagen was Anderes an“: Der Song unterstellt, Entwicklungen und Ereignisse von globaler Tragweite (wie Brexit, Fridays for Future, Corona) seien lediglich eine gesellschaftliche und mediale Inszenierung, um Ängste zu schüren und Menschen zu verunsichern. Ein eindrückliches Beispiel bietet der „Klimawahn“: Burger verwendet einen Begriff, der in den letzten Jahren durch die Neue und extreme Rechte geprägt wurde, um den Klimawandel als pure Hysterie abzutun. Verliere ein Ereignis seine Wirkungsmacht, suchten sich Gesellschaft und Medien prompt ein neues: „Kein CO2, kein Waldbrand mehr, die Friday-for-Future-Plätze leer | Kein #Metoo und kein Plagiatsskandal, kein Best-of-the-Thüringenwahl | Kein Kassenbon, kein Brexit mehr | Mal schauen, was als Nächstes vor uns liegt“. Folgt man der Haltung, sind die Ereignisse austauschbar. Deshalb singt Burger: „Jetzt heißt es nur Corona“.
Der Trieb gesellschaftlicher und medialer Kräfte, eine nach der anderen Sau durch das Dorf zu treiben, um bewusst Ängste in Teilen der Gesellschaft zu schüren, sei die Lust: „Der Tod wetzt seine Sense | Doch fast immer schont er sie im Schrank | Denn die Angst mäht alles nieder | Bis dann irgendwann alles unten liegt | Bis die Lust aufs Nächste über das, was jetzt herrscht | Endlich wieder siegt“. Der Glaube, hinter gesellschaftlichen und medialen Diskursen verberge sich eine Systematik, schürt Misstrauen in die Gesellschaft und die mediale Berichterstattung. Die Haltung, die Gefahren des Corona-Virus seien medial aufgebauscht (schließlich sei der Krankheitsverlauf „nachweislich schier identisch zu einer normalen Grippe“, wie Burger schrieb), spiegelt sich in der Kommentarspalte des YouTube-Videos wider. Der Top-Kommentar mit ca. 2.500 Daumen nach oben lautet: „Sie singen das, was ich mir die ganze Zeit denke“. In vielen Kommentaren wird „Frei.Wild“ als ehrliche Deutschrock-Band beschrieben, die unangenehme Wahrheiten ausspreche. Das Image pflegt die Band, deren Repertoire aus Titeln wie „Die Band, die Wahrheit bringt“ besteht, seit Jahren. Die eingängigen Botschaften haben sich fest in den Köpfen vieler Fans verankert.
Am Tag der Veröffentlichung des „Frei.Wild“-Songs stufte das Robert Koch-Institut die Provinz Südtirol als Risikogebiet ein. Kurz darauf beschloss die italienische Regierung die komplette Abriegelung des Landes, um die Verbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen. Die derzeitige Situation in italienischen Krankenhäusern, in denen tausende Menschen innerhalb weniger Tage sterben, veranlasste die Band nicht, sich für die zynischen Aufnahmen des Musikvideos zu entschuldigen. Allerdings verkündet die Band via Facebook inzwischen, es handle sich um die „größte Krise und menschliche Bewährungsprobe seit dem zweiten Weltkrieg“. Auf ihrer Homepage schreiben die Musiker, das Corona-Virus werde „hart zuschlagen“ und „viele Tausende Menschen werden sterben/schwer erkranken“. Es werde „die Politik“ und „diese teilweise absolut nicht mehr nachvollziehbare Globalisierung“ ändern.
Nun hat „Frei.Wild“ kurzerhand ein „Gegengift“ zum „globalen Corona Wahnsinn“ parat: Die Musiker kündigten im Windschatten ihres „Corona Weltuntergang“-Erfolgs ein Album sowie mehrere neue Songs für das kommende Wochenende an. Man wolle, so lautet die Begründung, „diesen Lähmungszustand nicht einfach so hinnehmen“. Allerdings entsteht der Eindruck, die Band nutze ihre gewonnene Aufmerksamkeit, um Profit aus der derzeitigen Situation zu ziehen. Oder wie ist zu erklären, dass die Band ausgerechnet in diesen Tagen ein längst produziertes Album als „Gegengift“ präsentiert?