Vor 79 Jahren, am 11. April 1945, wurde das KZ Mittelbau-Dora durch US-amerikanische Truppen befreit. Am 15. April findet die Gedenkveranstaltung statt. Neben dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und Andreas Froese, dem Leiter der KZ-Gedenkstätte hat auch Nikolas Lelle gesprochen. Lelle leitet die Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung. Wir dokumentieren seine Rede auf Belltower.News.
Es bedeutet mir unendlich viel heute vor Ihnen hier sprechen zu dürfen. Heute, in einer Zeit, die zunehmend beängstigender wird – und hier, an einem Ort, an dem seit vielen Jahren beachtliche Erinnerungsarbeit geleistet wird. Dafür möchte ich allen Mitarbeiter*innen dieser Gedenkstätte von Herzen danken.
Ja, diese Zeit ist beängstigend. Wir beobachten einen Rechtsruck in diesem Land: rechtsextreme Einstellungen nehmen zu, wie die Mitte Studie jüngst zeigte, rechtsextreme Parteien gewinnen landauf landab Stimmen. Wir alle fragen uns vermutlich, was wir dagegen tun können. Wir stehen vor Landtagswahlen mit beachtlicher Bedeutung, nicht nur, aber auch in Thüringen.
Gleichzeitig sehen wir seit dem 7. Oktober eine Welle des Antisemitismus von unfassbarem Ausmaß. Die antisemitischen Vorfälle haben sich vervierfacht. Die sicheren Räume wurden für Jüdinnen*Juden weniger. Jüdisches Leben, so hat das letzte Woche eine Mitarbeiterin von RIAS Berlin auf einer Pressekonferenz attestiert, jüdisches Leben findet in der Hauptstadt weniger öffentlich statt und ein Aufschrei der Öffentlichkeit dafür bleibt aus.
Ich stehe heute hier in der Hoffnung, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten einen Unterschied zu machen vermag. In diesen Zeiten des Rechtsrucks – und denen des Antisemitismus. Denn die Vergangenheit bestimmt unsere Gegenwart und sie kann uns etwas über sie lehren.
Ich habe mich in meiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah auf einen Teilaspekt fokussiert, der oft unterbelichtet bleibt und kaum aufgearbeitet ist: Das Verhältnis von Nationalsozialismus zu Arbeit. Obwohl „Arbeit macht frei” zu den bekanntesten nationalsozialistischen Losungen gehört, gibt es wenige Auseinandersetzungen mit diesem spezifischen Verhältnis, das eine lange Vorgeschichte hat und bis in die Gegenwart ragt.
Denn: Bis heute glauben Menschen in diesem Land, es gäbe eine besondere „deutsche Arbeit”; eine, die sie auszeichne, über anderen stehen lasse. Hier die fleißigen Deutschen, dort die faulen Anderen. Mit diesem Rassismus machen nicht nur Rechtsextreme seit Jahren Politik.
Zu diesem Rassismus gesellt sich der Antisemitismus. Seit Martin Luther wird der guten „deutschen Arbeit” die „jüdische Nicht-Arbeit” gegenübergestellt. Im 19. Jahrhundert war es auch dieses Selbstbild, das zur Nationwerdung beitrug. Das Selbstbild ist also nicht neu, sondern alt – und es braucht die abwertenden Feindbilder, um zu funktionieren. Die Nationalsozialisten waren radikale Propagandisten der „deutschen Arbeit”. Der Antisemitismus gehört zum Zentrum ihrer Ideologie. Er ist zutiefst verwoben mit ihrer Arbeitsauffassung, die behauptet: Arbeit ist ein Dienst an der Volksgemeinschaft.
Die Nazis haben die Idee „deutscher Arbeit” radikalisiert und mit ihr auch Politik gemacht. Sie versuchten nicht nur, „deutsche Arbeit” erfahrbar werden zu lassen: durch Institutionen wie der Deutschen Arbeitsfront, bei Aufmärschen zum 1. Mai oder in Ausstellungen wie der 1937 in Düsseldorf gezeigten mit dem Titel „Schaffendes Volk”. Sie versuchten nicht nur die – wie sie sagten – „arischen” Deutschen zu aktivieren, zur Mitarbeit anzuregen, ja zu willigen Vollstreckern zu machen. Die „deutsche Arbeit” führte auch zu Repression und Disziplinierung, zu Vertreibung und Vernichtung. Das zeigt sich allein schon in den Begriffen wie „Arbeitserziehungslager”, „Zwangsarbeit” oder „Vernichtung durch Arbeit”, in Begriffen wie „Arbeitsfront” und „Soldat der Arbeit”.
Die Nazis zwangen Millionen zu schwerster Zwangsarbeit in Konzentrationslagern wie in Zwangsarbeitslagern, sie sperrten sogenannte „Asoziale” oder „Arbeitsscheue”, oft Sinti*zze und Romn*ja weg, um sie durch Arbeit zu erziehen, sie drangasalierten Bettelnde und Obdachlose und sie ließen Menschen mit Behinderungen verhungern oder ermordeten sie. Und sie wollten Jüdinnen und Juden, die sie nicht sofort ermordeten, schließlich durch Arbeit vernichten. Das hat alles hat mit der Idee „deutscher Arbeit” zu tun.
Vieles davon fand hier statt. In Mittelbau-Dora, einem Konzentrationslager, das im August 1943 gegründet wurde. Hier wurden Häftlinge in der unterirdischen Flugzeug- und Raketenfabrikation zur Sklavenarbeit unter unmenschlichen Bedingungen gezwungen.
Hier sind heute viele Menschen, die vielleicht kompetenter, packender oder präziser von dem erzählen könnten, was hier in Mittelbau-Dora seinerzeit geschah – bis die amerikanische Armee das Lager vor 79 Jahren befreite.
Ich bin hier, um über diesen besonderen Zusammenhang zwischen Arbeit und Nationalsozialismus zu sprechen, der nicht nur nach Auschwitz und Sachsenhausen, sondern auch nach Nordhausen führt. In diesem KZ mussten Häftlinge mit ganz normalen Deutschen zusammenarbeiten. Mittelbau-Dora war für einige ein Arbeitsplatz. Nicht nur für SS-Aufseher, sondern auch für Arbeiter aus Nordhausen.
Der Satz „Arbeit macht frei” prangte an etlichen KZs: in Dachau, Flossenbürg, in Sachsenhausen, Theresienstadt, in Auschwitz und andernorts. Sie alle werden das berühmte Lagertor im Stammlager in Auschwitz kennen. Auschwitz wurde zwei Jahre vor Mittelbau-Dora gegründet. Jan Liwacz musste das Tor schmieden, Häftling Nr. 1010. Liwacz gehörte zum zweiten Transport ins neue Lager in Auschwitz. Im Winter 1944 wurde er nach Mauthausen deportiert und dort im Mai 1945 befreit. Er war einer der ersten in Auschwitz – und einer der letzten.
Was oft übersehen wird: Liwacz versteckte ein Detail im Schriftzug, das vielleicht nicht alle vor Augen haben. Er drehte das B in Arbeit mit Absicht auf den Kopf. Sein Versuch, Sand ins Getriebe zu schütten. Der absichtliche Fehler, ein übersehenes Detail, zeigt: Es stimmt etwas nicht an dieser Devise. Arbeit macht nicht frei.
Hier, in Mittelbau-Dora, zierte die Devise zwar nicht das Lagertor. Aber hier wurde sie gelebt. Nein, nicht in dem Sinne, dass hier irgendwer durch Arbeit freikam. Niemand wurde durch seine Arbeitsleistung aus dem Konzentrationslager befreit. Aber hier wurde brutalste Zwangsarbeit praktiziert: Vernichtung durch Arbeit.
Ich durfte letztes Jahr hier in der Gedenkstätte an einer Führung teilnehmen. Irgendwann ging es um die normalen, also die zivilen Arbeiter aus Nordhausen, die hier mit KZ-Häftlingen zusammenarbeiteten. Und es meldete sich ein junger Mensch, der hoffnungsvoll nachfragte, ob denn diese Arbeiter dann den Häftlingen wenigstens geholfen hätten. Unser Guide, Jan Lormis, der auch heute hier ist, musste dann erklären, dass das Gegenteil der Fall war: Die SS musste einschreiten, weil diese normalen Nordhausener Arbeiter die Häftlinge zu sehr drangsalierten. Das hatte der junge Mensch nicht erwartet. Geschockt verstummte er. Für mich bleibt das eine eindrückliche Situation, für die Guides hier gehört es vermutlich zu ihrem Alltag.
Das hat damit zu tun, dass wir immer noch nicht verstehen, dass es an Orten wie Auschwitz, Dachau oder Mittelbau-Dora nicht nur die sogenannte „Vernichtung durch Arbeit” gab, sondern auch die Vernichtung als Arbeit. Diese Feststellung führt in den ideologischen Kern, der zu KZ-Zwangsarbeit geführt hat. Nein, Arbeit macht nicht frei. Arbeit macht tot.
So betitelte der Auschwitz-Monowitz-Überlebende Tibor Wohl seine Erinnerungen an die KZ-Zeit. Wohl hatte im Auschwitz-Prozess ausgesagt. In seinen Erinnerungen beschreibt er, wie der Arbeitsalltag im Konzentrationslager aussah – und wie sehr dieser mit Schlägen, Tritten, dem Morden und Sterben zu tun hatte.
Die Nazis wussten, dass Arbeit an Orten wie diesen niemanden frei machen würde. Neuankommende wurden in vielen Lagern mit einer Rede empfangen, in der deutlich ausgesprochen wurde, dass der Weg zur Freiheit nur durch den Schornstein führt. Die Nazis glaubten dennoch an die Wahrheit des Satzes „Arbeit macht frei”. Die Maxime sollte sich nur nicht auf die Eingesperrten beziehen, sondern auf die Einsperrenden.
Im Frühjahr 1943 erschien in der nationalsozialistischen Zeitung „Der Schulungsbrief” ein Artikel mit dem Titel „Unsere Arbeit macht uns frei”. Geschrieben von Robert Ley, dem Vorsitzenden der Deutschen Arbeitsfront. Ley war Nationalsozialist der ersten Stunde. Er befehligte am 2. Mai 1933 das sogenannte „Komitee zum Schutz der deutschen Arbeit”, das Gewerkschaftshäuser überfiel, sie besetzte und Funktionäre verhaften ließ.
„Unsere Arbeit macht uns frei”. Der Artikel predigt das Durchhalten im Krieg. Er adressiert die sogenannte „Arbeitsfront”. „Haltet durch, arbeitet, Denn: Unsere Arbeit macht uns frei”. Inmitten des Zweiten Weltkriegs richtet also ein ranghoher Nationalsozialist eine Devise an die deutsche Volksgemeinschaft, die wir vor allem auf das KZ beziehen: „Arbeit macht frei”.
Nur wovon sollte sie überhaupt frei machen? Die Nazis glaubten in „den Juden” das Übel der Welt ausgemacht zu haben, diejenigen, die im Hintergrund die Strippen ziehen, die übermächtig sein sollen, hinter Banken wie Presse stehen – und hinter den Alliierten. Für Ley heißt „Unsere Arbeit macht uns frei” nämlich: Die hier an der Arbeitsfront müssen alles dafür geben, unsere Gegner im Krieg zu besiegen. Und hinter diesem Gegner steht der wahre Feind. Die Arbeit der Deutschen sollte sie von allem befreien, was die Nazis für jüdisch hielten. Deshalb spricht der Shoah-Forscher Saul Friedländer ganz zu Recht von „Erlösungsantisemitismus”. Die Freiheit der „deutschen Arbeit“ meinte die Vernichtung der europäischen Juden.
Die Idee „deutscher Arbeit”, diesen Punkt will ich heute hier machen, ist zutiefst antisemitisch – und sie ist verwoben mit Rassismus und Sozialchauvinismus. Es sind diese Fremdbilder, die wieder aktualisiert werden. Im Nachdenken über das Erbe des Nationalsozialismus sollten wir uns ansehen, wie die Ideen der Nazis heute aktualisiert werden. Denn insbesondere in der Rede über „deutsche Arbeit” finden sich Kontinuitäten.
Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten ist von herausragender Bedeutung, um diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Aber: Die Erinnerungskultur steht, wie sie alle wissen, unter Beschuss. Das zeigt sich ganz konkret etwa in Schmierereien und Brandstiftungen. Wir, also die Amadeu Antonio Stiftung, konnten im November ein ganzes Lagebild Antisemitismus zu dieser Problematik füllen.
Wie steht es um unsere Erinnerungskultur? Die Betonstelen des Berliner Holocaust Memorials haben tiefe Risse. Sie stehen sinnbildlich für die Erinnerungskultur insgesamt. Die wird seit vielen Jahren zunehmend angegriffen. Es soll endlich Schluss sein. Deutsche Rechsextreme reden seit langem vom Schuldkult, den es abzulegen gilt. Seit einigen Jahren geht es um die „erinnerungspolitische Wende um 180°” oder den „Vogelschiss in der deutschen Geschichte”. Der Grund liegt auf der Hand: Die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis erschwert den neuen deutschen Nationalismus – und sie steht zukünftigen Verbrechen im Weg. Wir alle wissen spätestens seit der Correctiv-Recherche über ein Treffen in Potsdam, dass deutsche Rechtsextreme schon aktiv planen, wie sie Millionen Menschen ausbürgern können. (Gerade hier und heute sei eine Anmerkung erlaubt: Der sprachliche Vergleich mit Deportationen hinkt. Denn der Begriff, geschult an der Erfahrung des Nationalsozialismus, spielt damit, hier würden Menschen von einem Ort an einen anderen gebracht, um sie zu ermorden. Das ist nicht das, was in Potsdam diskutiert wurde – vielleicht noch nicht.)
Rechtsextreme sind aber nur ein Teil des Problems. Die Risse in der Erinnerungskultur wurden auch durch Debatten wie dem Historikerstreit 2.0 herbeigeführt, in denen Antisemitismus kleingeredet wurde und behauptet, die deutsche Erinnerungskultur werde von „Hohepriestern” von oben aufoktroyiert und habe das Ziel, sogenannte Israelkritik als Antisemitismus zu diskreditieren. Diese regressive Erinnerungskritik ist falsch und sie ist fatal.
Sie ist falsch, weil sie verkennt, wie sehr die Erinnerungskultur in diesem Land von unten erkämpft wurde – und wird. Genau an Orten wie diesem hier. Und sie ist fatal, weil sie insbesondere israelbezogenen Antisemitismus kleinredet. Das war vor dem 7. Oktober falsch – und ist es seitdem noch mehr. Ich erlebe regelmäßig in Workshops oder Vorträgen, dass sich ein Unbehagen mit Antisemitismus eingestellt hat. Selbst Personen, die wenig wissen, glauben eines zu wissen: dass es schwer sei, Antisemitismus zu bestimmen. Die Debatten der letzten Jahre erschweren also die Antisemitismusbekämpfung. Sie sähen Zweifel, wo entschlossenes Handeln gefragt ist. Die regressive Erinnerungskritik schüttet das Kind mit dem Bade aus.
Wir erleben seit der genozidalen Gewalt der Hamas vom 7. Oktober eine globale Welle des Antisemitismus. Auch hier in Deutschland nahmen die Vorfälle dramatisch zu. Der Antisemitismus kommt aus allen politischen Milieus. Wir reden zur Zeit aus gutem Grund viel über Islamismus und Antiimperialismus. Vergessen wir aber nicht die Rechtsextremen! Letzte Woche haben sich Neonazis der Jugendorganisation der Partei „Die Heimat”, ehemals NPD, in Eisleben martialisch mit einem gigantischen Transparent gefilmt, auf dem Stand: Israel mordet. Dazu zündeten sie schwarze Rauchtöpfe.
Die aktuelle Lage hat einen Effekt auf die Erinnerungskultur und Gedenkstätten, wie diese hier. Denn es zeigt sich, dass jede Variante des Antisemitismus den Ruf nach einem Schlussstrich mitbringt. Die Rechtsextremen schreien vom Schuldkult. In Berlin riefen pro-palästinensische Aktivist*innen wenige Tage nach dem 7. Oktober schon „Free Palestine from German guilt”. Für Jüdinnen und Juden sind die Räume, in denen sie sich sicher fühlen können, seitdem weniger geworden.
Gegen die rechte wie die regressive Erinnerungskritik gilt es laut und deutlich klar zu machen: Wir brauchen mehr, nicht weniger Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen. Gerade in diesen beängstigenden Zeiten.