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Freilernen Schulstreik für Systemaussteiger*innen

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Auch die rechtsesoterische Gruppierung "Mütter der Neuen Zeit" propagiert Schulverweigerung. (Quelle: Screenshot Website)

Eine Kleinfamilie auf Liegestühlen im goldenen Abendlicht. Vor ihnen das Meer, um sie herum felsige Küstenlandschaft. Vater, Mutter und die beiden Kinder sehen entspannt und braun gebrannt aus, die Mutter liest aus einem Buch vor. So kommen viele der Webseiten daher, auf denen sogenannte „Freilerner“ ihren Lebensstil präsentieren. Das Versprechen: So kann das ganze Leben aussehen. Man müsse sich nur entscheiden, die Kinder aus der Schule zu nehmen, sich der „Freilernen“-Szene anschließen und mit der Familie im Wohnmobil durch Europa oder gleich die ganze Welt touren.

Doch seit der Covid-Pandemie häufen sich auch die Schlagzeilen zu Überschneidungen der Schulverweigerer-Szene mit verschwörungsgläubigen, verfassungsfeindlichen und rechtsextremen Milieus. Wie also ist die „Freilernen“-Strömung zu bewerten?

Zahlreiche Blogs, Telegram-Gruppen und YouTube-Kanäle widmen sich dem Thema „Freilernen“. Hier wird meist Sonnenschein und Familienglück gezeigt, neben zahlreichen Vernetzungsangeboten und Einstiegsanleitung – oder wohl besser gesagt Ausstiegsanleitungen – in Richtung How-to-Freilernen. Denn zentral ist in diesen Foren das Motiv, raus zu wollen aus „dem System“. Damit ist wahlweise das Schulsystem, die „Schulmedizin“ oder auch gleich ganz Deutschland oder noch Größeres, nur nebulös Angedeutetes, gemeint. Hier klingt einiges an, was die Szene anschlussfähig für Verschwörungsfans und Verfassungsfeind*innen macht – aber der Reihe nach.

„Frei“ von der Schulpflicht

Für die meisten Eltern kommt der Kontakt zu „Freilernen“-Gruppen und -Ideen zustande, weil ihre Kinder in der Schule Probleme haben, es ihnen dort psychisch nicht gut geht oder sie sich vehement gegen den Schulbesuch wehren. So berichten viele der Mütter oder Paare es in Videos auf ihren Blogs oder in Chatgruppen. Dann habe der lange Weg begonnen, auf dem sie andere Möglichkeiten für ihre Kinder gesucht und dann endlich die Szene der „Freilerner*innen“ gefunden hätten. Hier herrscht die Überzeugung vor, dass alles Wichtige bereits im Kind angelegt sei und sich nur entfalten müsse – oder in abgeschwächten und vielleicht plausibleren Variationen, dass das intrinsische Interesse, das Kinder an der Welt haben, ausreicht, damit sie alles Lernenswerte lernen werden.

Die „Freilernen“-Szene besteht aus einem breiten Spektrum an Praktiken und Überzeugungen. Das zeigt sich schon darin, dass die praktischen Antworten auf die Frage, wie genau das „freie“ Lernen umzusetzen ist, stark variieren: von projektbasiertem Lernen auf einem Landsitz bis zum Herumreisen durch Europa im Wohnmobil oder dem regelmäßigen Zusammentreffen in Lerngruppen mit anderen „Freilerner*innen“. Ein charakteristischer Aspekt ist jedoch, dass die Eltern und die Kleinfamilie zum alles dominierenden, oft zum einzig stabilen sozialen Bezugspunkt werden. Auch das Zusammentreffen mit anderen Kindern oder Erwachsenen wird damit durch die Eltern vorselektiert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist aber wohl, dass „frei“ letztlich frei von der Schulpflicht heißt.

Ein großer Teil des Austauschs in den „Freilernen“-Gruppen widmet sich daher der Frage, wie es gelingt, die eigenen Kinder dauerhaft der in Deutschland geltenden Schulpflicht zu entziehen. Diese wird in den Foren der Szene meist als autoritäre, unzeitgemäße Zwangsmaßnahme beschrieben, die den Kindern hauptsächlich schade. Die Kritik, die viele „Freilernen“-Interessierten dabei am Bildungssystem äußern, ist durchaus legitim: Dass Kinder durch den starken Fokus auf Prüfungen und Noten unter Leistungsdruck stehen, dass sie lernen, sich hauptsächlich in Konkurrenz zu anderen zu begreifen, und dass zu wenige, überarbeitete Lehrpersonen fachliche, aber auch soziale Prozesse nicht angemessen begleiten können – all das ist kein Geheimnis.

Nicht nur die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordert seit Jahren kleinere Klassen und bessere Bezahlung für Lehrer*innen. Dass auch Eltern diese Missstände und ihre negativen Auswirkungen auf die Kinder thematisieren, scheint notwendig. Zumal die Prinzipien des Leistungsdrucks und Konkurrenzdenkens weit über das Bildungssystem hinausreichende Strukturmerkmale kapitalistischer Gesellschaften darstellen und dadurch auch in aktuellen bildungspolitischen Debatten kaum angemessene Beachtung finden.

Gesellschaftspolitische Fragen ​​ unangemessene Antworten

„Freilernen“ stellt sich als soziale Bewegung dar, die Antworten auf diese Probleme anböte. Die Antworten, die hier gegeben werden, sind jedoch keine gesellschaftspolitisch sinnvollen. Nur ein sehr kleiner, privilegierter Teil der Bevölkerung verfügt über die Ressourcen – die Zeit, das Geld, den Raum und die Bildung – ihren Kindern selber ein breites Spektrum an Bildungs- und Beschäftigungsangebote zu machen oder gar mit ihnen um die Welt zu segeln oder durch Europa zu touren. Doch auch abgesehen davon, geht „Freilernen“ als gesellschaftspolitischer Entwurf mit fragwürdigen Grundannahmen und Konsequenzen einher.

Dass in diesem Konzept des „Freilernens“ die Kleinfamilie fetischisiert wird, ist ja bereits angeklungen. Es ist dabei kein Zufall, dass diese Kleinfamilie in den entsprechenden Foren durchgängig als weiß und heterosexuell auftritt, sondern wohl eher Ausdruck der gesellschaftlichen Strukturen. Der Rückzug in die Kleinfamilie bedeutet auch, dass soziale Ungleichheiten völlig bruchlos aufrechterhalten werden. Anders als „Freilernen“-Foren es darstellen, geht es in der Schule eben nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch darum, eine gemeinsame Grundlage für das gesellschaftliche Zusammenleben zu schaffen. Dazu gehört es, andere Lebensrealitäten kennenzulernen, mit Bedürfnissen anderer konfrontiert zu sein, die einem selbst fremd sein mögen, und Fähigkeiten zu entwickeln, mit diesen Herausforderungen umzugehen – denn sie machen die soziale Realität einer Gesellschaft aus. Diese Gesellschaft aber gibt es im „Freilernen“-Weltbild nicht, oder nur als repressive Einschränkung.

„Raus aus dem System“

Dieses Interesse, die Kinder der Gesellschaft zu entziehen, macht „Freilernen“ auch für offen menschenfeindliche und antidemokratische Milieus interessant. Für Reichsbürger*innen und Anhänger*innen der rechtsesoterischen Anastasia-Bewegung ist die „Freilernen“-Szene gerade in ihrem Vokabular des „Systemausstiegs“ und der pauschalen „Systemkritik“ ansprechend. Mit der Corona-Pandemie wurde die „Freilernen“-Szene zudem geradezu geflutet mit Neu-Interessent*innen aus dem „Querdenken“-Milieu. Immer wieder wurde in „Querdenken“-Chatgruppen und auf „Querdenken“-Demos aufgerufen, seine Kinder dem Schulsystem zu entziehen und „freie“ Lerngruppen zu gründen. Während der pandemiebedingten Schulschließungen gab es immer wieder Berichte, dass  „Querdenker*innen“ illegale Lerngruppen gründeten. Zahlreiche Telegram-Gruppen rund um das Thema gründeten sich im Sommer 2021, nachdem die Schulen stockend und mit Masken- und Testregelungen wieder öffneten – die inzwischen radikalisierten „Querdenker*innen“ aber auf keinen Fall mehr bereit waren, ihre Kinder in staatliche Obhut zu geben.

Wer sich durch die Blogs der sonnengebräunten, immer fröhlichen Bilderbuchfamilien auf Welttournee klickt, wird sehr schnell Kommentare unter den Beiträgen finden, in denen (meist) Mütter berichten: Seit Corona haben sie angefangen „vieles zu hinterfragen“, jetzt bereuen sie es, dass sie ihr Baby impfen ließen, sind nicht bereit, ihre Kindern den Masken und Tests in der Schule auszusetzen, und wollen nun auch „sich frei machen, raus aus dem System“. Die Blog-Betreiber*innen sind da meist verständnisvolle Ansprechpartner*innen, die gerne auf ihre ausführlichen Tipps für das „Abmelden aus Deutschland“ verweisen.

Von Schwurbler*innen geflutet

In Facebook-Gruppen zum Thema „Freilernen“ in Deutschland wurde in den letzten Jahren teilweise um Abgrenzung gerungen – Admins formulierten Gruppenregeln und Grundkonsense, die Voraussetzung für einen Beitritt sein sollten. In vielen Posts werden Klagen laut, dass seit Corona enormer Zulauf von Staatsleugner*innen, Verschwörungsgläubigen und Nationalist*innen bestehe, die das Thema für sich vereinnahmen. „Danke! Ich war kurz davor, die Gruppe zu verlassen, weil ich den Eindruck hatte, hier seien nur noch Querschwurbler und Maskenverweigerer, die die Coronamaßnahmen als willkommenen Anlass sehen“, schreibt eine Nutzerin unter ein solches Admin-Statement. Unter ihrem Beitrag meldet sich aber sogleich eine empörte „Querdenkerin“ zu Wort.

In den meisten Foren ist inzwischen ein eindeutiger wissenschaftsfeindlicher, esoterischer und verschwörungsideologischer Grundkonsens zu erkennen. Man muss den Akteur*innen häufig nur auf ihre eigenen Plattformen folgen, um offen demokratiefeindliche oder auch völkische Inhalte zu finden. So bietet der selbsternannte Lerncoach Ricardo Leppe aus Österreich über sein Portal „WissenSchafft Freiheit“ neben Mathetricks und Eselsbrücken für Vokabeln auch verschwörungsnahe Allround-Zweifel, wie der mdr dokumentierte: „Wieso darf ich das, was im zweiten Weltkrieg ist, auf gar keinen Fall hinterfragen, weil sonst bin ich ganz ganz böse und ganz ganz schlimm? Ich leugne nicht, dass das scheiße war damals – aber vielleicht war es nicht so?“ Sein Portal wurde im Juni 2020 initiiert, es hat inzwischen mehr als 40.000 Mitglieder im deutschsprachigen (digitalen) Raum. Leppe ist Anhänger der Anastasia-Bücher, vertritt die gefährliche pseudomedizinische und antisemitische germanische Heilkunde. Innerhalb kürzester Zeit hat er den Anschluss zu anderen rechten Akteur*innen in der Szene der Verschwörungsgläubigen gefunden.

Auch das rechtsesoterische Netzwerk „Mütter der Neuen Zeit“ richtet sich an schulverweigerungswillige Eltern. Hier wird „natürliche Mutterschaft“ in patriarchaler Rollenverteilung propagiert und vor der indoktrinierenden „Fremdbetreuung“ gewarnt. Und auch Ausbildungen für Mütter, die lernen sollen, die Seele ihrer Kinder zu lesen, bieten die „Mütter der Neuen Zeit“ an.

„Querdenker*innen“ ebenso wie Reichsbürger*innen und Anastasia-Fans wollen um jeden Preis vermeiden, dass ihre Kinder der „staatlichen Indoktrination“ ausgesetzt werden. Sie benennen dabei mehr oder weniger offen, dass sie die Vermittlung von gesellschaftlicher Vielfalt und demokratischen Werten ablehnen. Nicht nur „Querdenker*innen“ brachten ihre Kinder, wie mdr-Recherchen zeigen, auch nachdem die Schulen längst wieder geöffnet hatten, weiterhin in alternative Lerngruppen. Auch Freie Schulen, in denen sich nur gleichgesinnte Eltern und Lehrer*innen zusammenfinden und die ihre Lehrpraxis und Lerninhalte der staatlichen Kontrolle entziehen, sind in der Szene beliebt. Das völkische Siedlungsprojekt „Goldenes Grabow“ in Brandenburg versuchte, – mit der begeisterten Unterstützung des Ortsvorstehers – eine solche Schule zu gründen.

Mangelnde Selbstkritik

Die nicht-extremistischen Teile der „Freilernen“-Szene scheinen trotzdem kein großes Interesse daran zu haben, sich mit dieser rechtsoffenen Schlagseite selbstkritisch auseinanderzusetzen. Das wird in einem der wenigen kritischen Beiträge aus der Szene selbst deutlich. 2019 brachte die Zeitschrift Die Freilerner eine Ausgabe zum Thema „Schutz vor Isolation und Indoktrination“ heraus, die sich ebendiesen Gefahren im „Freilernen“ widmen sollte. Der Einführungsartikel zeugt von echtem Willen, sich mit den Problemen und Leerstellen der „Freilernen“-Idee zu befassen. Doch er zeugt auch von den vehementen Widerständen und Abwehrreaktionen, die dies mehr als alles andere in der Szene hervorruft: Allein die Wahl dieses kritischen Schwerpunktthemas, wurde weitestgehend als Nestbeschmutzung abgelehnt. Und schon der zweite Artikel der Ausgabe macht die Unlust, sich mit den eigenen Schwächen zu befassen, deutlich – er trägt den Titel: „Ein unzulässiges Schwerpunktthema“.

Die Frage, wie Bildung gestaltet wird, ist eine gesellschaftspolitische Frage. Auch die Pandemie hat gezeigt, wie viele Krisen das Bildungssystem prägen. Für gerechtere Lern- und Arbeitsbedingungen im Schulsystem zu kämpfen, ist unabdingbar. Bei „Freilernen“ werden die Probleme jedoch im besseren Fall von bürgerlich-privilegierten Kleinfamilien mit Weltreisen und Privatunterricht, im schlechteren Fall von Demokratiefeind*innen mit Indoktrination beantwortet.

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