Belltower.News: Gaming beobachtet, wie sich auch in Gaming-Communitys toxische und rechtsextreme Einstellungen verbreiten. Wie ist die Lage auf Twitch?
Mick Prinz: Twitch ist nach meiner Einschätzung die beliebteste und wichtigste Plattform für Gamer*innen. Täglich präsentieren zehntausende Kanäle aktuelle Trends, hosten eSport-Events oder interagieren in der Sektion „Just Chatting“ mit ihrer Community. Viele Kanäle bieten zwar auch Videoaufnahmen auf Abruf, jedoch bleibt Kernmerkmal der Plattform das Livestreaming und die Interaktion mit dem Chat. Vor allem seit Beginn der Pandemie erlebt die Plattform einen noch stärkeren Boom und verzeichnet täglich 30 Millionen Nutzer*innen. Bei so einer hohen Zahl an möglichen Videos und diesen gigantischen Zuschauer*innen-Zahlen ist es leider wenig verwunderlich, dass sich hier auch problematische Inhalte wiederfinden. Sowohl von Seiten einiger Content-Creator, als auch innerhalb verschiedener Communitiy.
Wie sehen problematische Inhalte auf Twitch aus?
Fokus unserer Projektarbeit liegt auf der Analyse von eindeutig rechtsextremen Accounts. Solche finden sich zwar auch auf Twitch, sind allerdings im Vergleich zu den großen Streamer*innen weder sonderlich beliebt, noch mit den großen Gaming-Akteur*innen vernetzt. Trotzdem nutzen Rechtsextreme die Plattform als Bühne, um Verschwörungserzählungen und Rassismus zu verbreiten. Die wenigsten Kanäle haben dabei explizit etwas mit Videospielen zu tun, nutzen jedoch die Infrastruktur und Interaktionsmöglichkeiten der Plattform. Da gibt es zum Beispiel Twitch-Kanäle, die verschwörungsaffine Pressschauen anbieten und die Qanon-Erzählung reproduzieren. Andere Kanäle berichten live von „Querdenken“-Demonstrationen oder laden sich das who is who der Leugner*innen-Szene in Talk-Formate ein. Auch zuweilen antisemitische Inhalte von Imageboards werden hier geteilt. Followerzahlen pendeln sich meist im drei bis vierstelligen Bereich ein. Besonders spannend fand ich einen Account, der sowohl versucht klassische Gaming-Themen zu bedienen, gleichzeitig aber auch Talk-Videos veröffentlicht, in denen er mit anderen Rechtsextremen über „gute“ und „schlechte“ „Ausländer“ schwadroniert.
Wenn diese Kanäle nicht sonderlich reichweitenstark sind, warum sind sie trotzdem ein Problem?
Menschenverachtende Inhalte sind immer ein Problem. Erst recht, wenn sie wie hier auf Twitch ohne Hürden für alle Nutzer*innen mit wenigen Klicks einsehbar sind. Mehr als die Hälfte der Nutzer*innen auf Twitch ist zwischen 18 und 34 Jahren alt. 14% sind zwischen 13 und 17 Jahren. Vor allem junge Zuschauende können sich von diesen Inhalten beeinflussen lassen. Zusätzlich fungiert Twitch nicht nur als Propagandatool, sondern dient auch der Vernetzung rechtsextremer Akteure. Das passiert natürlich nur vereinzelt und spiegelt weder Twitch als Plattform, noch seine Communitys ganzheitlich wieder. Oder mit anderen Worten: Twitch ist keine rechtsradikale Plattform und sollte auch nicht diesen Ruf bekommen. Aber das was an anderen Stellen schiefläuft, passiert eben auch dort und teilweise vor einem größeren Publikum
Leider gibt es aber auch abseits rechtsextremer Kanäle viele menschenverachtende und diskriminierende Inhalte auf Twitch. Vor allem sexistische Diffamierungen sind häufig präsent. Und das sowohl innerhalb der Communitys, also im Live-Chat, aber vereinzelt auch bei Content-Creators. Einer der größten Twitch Streamer, Montanablack, wurde beispielsweise erst vor kurzem erneut temporär gebannt, weil er in einem IRL-Stream („In Real Life“ Stream) Sexismus reproduzierte.
Ein anderes Beispiel ist ein Projekt zu dem Videospiel Rust. Mehrere Twitch-Streamer*innen werden im besagten Spiel in einer offenen Welt ausgesetzt, jagen Tiere, bauen Häuser oder besiegen gemeinsam andere Spieler*innen oder Computergegner. Die Streamerin „Tinkerleo“ wurde innerhalb des Projektes im Sprachchat von einem anderen Spieler sexuell belästigt. Auch wenn sich dieser dafür entschuldigte, stürzten sich anschließend Teile einer toxischen Gaming-Community auf die sichtlich betroffene Tinkerleo und versuchte sich an Täter-Opfer-Umkehr – ein Mechanismus der sich leider viel zu häufig im Online-Gaming beobachten lässt.
Gibt es Gegenwehr gegen rechtsextreme und toxische Communitys auf Twitch?
Es passiert da schon eine ganze Menge. Sicherheitshalber will ich nochmals betonen: Es ist nur eine laute Minderheit, die sich hier problematisch äußert. Viele Teile von Twitch sind Orte, an denen ich super unterhalten werde und die großen Kanäle haben in der Regel Moderation und Netiquette, um menschenverachtende Einstellungen schnellstmöglich aus dem Twitch-Chat zu entfernen. Im Beispiel mit Tinkerleo und dem Rust Server gab es eine Vielzahl an Streamer*innen, die sich mit Tinkerleo solidarisierten und Sexismus verurteilten.
Trotzdem werden gerade nicht so reichweitenstarke Streamer*innen noch viel zu häufig alleine gelassen, wenn sie rassistisch angegriffen werden. Und gerade, wenn es eben noch keine professionelle Moderation von Seiten der Influencer*innen oder aus dem Communitys gibt, kann die Stimmung sehr schnell kippen. Ein schönes Beispiel für Gegenwehr ist jedoch die Streamerin „Amira“. Als sie im Twitch-Chat rassistisch beleidigt wurde, antwortete sie nur mit „Oh, a wild cock appeared“ („Oh, ein wilder ‚Hahn‘ ist erschienen“). Die Mehrdeutigkeit des Wortes „cock“, sowie die popkulturelle Anspielung auf das Franchise Pokémon zog die Äußerung der Trolle ins lächerliche und führte zusätzlich dazu, dass ihre Community immer dann ein „Hahn“ Emoji in den Chat postet, wenn Diskreditierungen aufpoppten.
Auch die Plattform selbst hat in den letzten Jahren ihre Community-Richtlinien geschärft und setzt sie in temporäre oder dauerhafte Bans um, wenn die Guide Lines nicht eingehalten werden. Das passiert in der Theorie auch, in der Praxis bleiben aber viele toxische Accounts ungestraft oder Sperren werden nicht konsequent und kontinuierlich durchgeführt.
Twitch stand auch nach dem antisemitischen Anschlag in Halle in Schlagzeilen. Der Attentäter hatte sein Attentat via Helmkamera ins Netz übertragen und Twitch hochgeladen. Dort wurde die Live-Übertragung von fünf Personen und die Aufzeichnung von ungefähr 2.200 Menschen gesehen, bevor sie von Twitch gelöscht wurde. Knapp ein halbes Jahr vor Halle hatte sich der Betreiber von Twitch, der Internetriese Amazon beim politischen Gipfeltreffen, dem „Christchurch Call“, dazu verpflichtet, die Verbreitung terroristische Inhalte bestmöglich zu verhindern.
Kurz gesagt: es gibt definitiv Bestrebungen, gegen Hassinhalte vorzugehen. Twitch wirkt deutlich konsequenter, als beispielsweise die Gaming-Plattform „Steam“. Vieles scheint aber noch nicht zu gelingen und Teile der Community werden ziemlich alleine gelassen oder laufen wie die rechtsextremen Verschwörungskanäle unter dem Radar der Twitch-Guidelines.
Was müsste jetzt eigentlich passieren?
Mein Apell geht in zwei Richtungen. Zum einen an die Communitys selbst: Meldet rassistische, antisemitische, sexistische Inhalte. Sowohl Nutzer*innen im Chat, als auch problematische Kanäle können auf Twitch selbst reported werden. Die Plattform liefert umfassende Leitfäden.
Das Beispiel der Streamerin Amira zeigt aber auch, wie wichtig die Community-Arbeit ist. Sowohl Gegenrede fungiert als essenzielles Tool, um Hass nicht kommentarlos stehen zu lassen. Auch die Erstellung und Umsetzung einer passenden Netiquette ist Teil dieser Community-Arbeit, der sich aktuell die Streamer*innen annehmen müssen. Nur so kann der Livestream auch ein Safe-Space sein. Der Ball liegt aber auch bei der Plattform selbst. Das Problem wird scheinbar erkannt – das ist super! Jetzt bedarf es aber auch einer konsequenten und idealerweise transparenten Umsetzung bestehender Guidelines.
Letztlich liegt es quasi an allen Gamer*innen, einen geeigneten Spagat auf den Bildschirm zu zaubern. Die laute Minderheit darf auf der einen Seite nicht größer gemacht werden, als sie tatsächlich ist. Gleichzeitig dürfen diskriminierende Aussagen nicht kleingeredet oder lediglich als Humor bagatellisiert werden. Toxische Trolle, menschenverachtende Aussagen und rechtsextreme Verschwörungsideologien dürfen im Internet nicht wortführend sein. Auch nicht auf Twitch. Es darf uns nicht langweilig werden, das immer und immer wieder klar zu formulieren.